Mein liebes Kind, es ist viel später als gewöhnlich, halb elf Uhr morgens, dass ich mich vor das weite vom einst verpflanzten Eichbaum, jetzt so hoch und üppig, beschattete Fenster an meinen Rechner zu meiner schriftlichen Morgenandacht, zu meinem Brief an Dich begebe. Denn als solche ergeben sich diese paar Minuten die sich oftmals zu Stunden erweiteren, wenn hernach der ganze Tag von den Erinnerungen an Dich beleuchtet ist. Gestern fühlte ich mich nicht wohl, und schrieb Dir einen langen traurigen Brief mit einer realistischen Beschreibung meines Alltags. Wenn ich heute die realistischen Betrachtungen keimende Briefe der Jahre 1950 und 1951 die ich Dir sandte überlese, wird mir klar dass manches in meiner Seelenlandschaft trotz Deiner wunderbaren Liebe für mich, unverändert geblieben ist. Vor Monaten, im vergangenen Winter, glühte mein Gemüt mit einem unnatürlichen Frohsinn - heiter und ruhig ist dann das Alter, hat Hölderlin gesagt - ein Rausch der sich inzwischen verflüchtigt hat; nicht denke ich, wegen dieser oder jener Ursache, sondern weil, nicht zuletzt im Schatten Deiner Abwesenheit, ein Glückszustand unpassend, unnatürlich, unmöglich ist. Seitdem ist Nathaniel zu mir ins Haus gezogen, hat einen Hund und eine verträgliche Freundin eingeführt, denen ich, samt ihm selber, die Schuld für meine Unpässlichkeit zuordnen möchte. Das aber wäre ein bedauerliches Missverständnis. Denn wie mein Glück in den vielen Jahren unseres, Deines und meines, Zusammenlebens darin bestand dass es mir möglich war für Dich da zu sein und für Dich zu sorgen, und dies besonders in den letzten Monaten wo Du so krank warst, so habe ich nun die Gelegenheit wenn nicht Nathaniel glücklich, so dennoch sein schweres Leben ihm etwas leichter zu machen; denn er hat kein Zuhause, abgesehen von den Räumen bei mir. Liebes Kind, es ist Mittag geworden, und ich ein bisschen hungrig. Deshalb will ich jetzt unterbrechen. Vielleicht nachher, mehr; sonst bis morgen. Inzwischen hab ich etwas gegessen, was, weiß ich nicht mehr; habe Bremsenflüssigkeit für das alte grau-blaue (2005) Auto das auf Nantucket steht und an dem Klemens ein Bremsenversagen vermutet, eingekauft; auch 4 Liter Milch, zwei Dosen Yoghurt Spread - Du besinnst Dich - zwei Päckchen Keks und eine große Flasche Ginger Ale für die Fahrt nach Nantucket am kommenden Sonnabend, den 11. August 2018, angesetzt hat. Ich bin traurig. Die Beziehung zu Nathaniel quält mich wie ein Albtraum aus dem ich zu nichts als zum nächsten Albtraum erwache. So lange er hier bleibt quält mich wie sehr er mich verachtet. Gibt Nathaniel seinen Hund zurück, so bin ich's der Nathaniels Seelenheil verdorben hat. Zieht Nathaniel vor Kummer um den Verlust des Hundes aus, so bin ich's der ihn obdachlos gemacht hat. Ziehe ich nach Konnarock, so hat Nathaniel gewonnen, denn dann hat er mich aus diesem Haus getrieben. Die Beziehung zu Nathaniel ist eine Falle der ich nur durch den Tod zu entkommen vermag.