Liebe Gertraud, lieber Bernd, Vielen Dank für die beiden Briefe, der elektronische erschien am Morgen des 2. August 2018 in meinem Rechner, der gedruckte mit den Blumenbildern aus Euerm Garten lag spätnachmittags am selben Tag im Postkasten vorm Haus. Dem Internet entnehme ich dass die Hitze in Eurer Gegend sich inzwischen ein wenig gemildert hat. Mögen sich die Pflanzen, die Tiere, und auch Ihr Euch erholen! Hier in Belmont herrscht gleichfalls ein heißer Sommer, doch vielleicht nicht so beklemmend wie bei Euch. In den oberen Etagen des Anbaus, wo ich meine Tage verträume und meine Nächte verschlafe, sorgt die zentrale Kühlanlage für angenehm gemäßigte Temperaturen. Über die Außenwelt, also, ist nicht zu klagen. Das Viele das von der Innenwelt zu berichten wäre ist kein Stoff für einen Brief der bezweckt die Freundschaft zu nähren und zu erhalten. Eher sollte es in ungelesenen (und unverstandenen) Gedichten, Geschichten und Romanen grabsteinlos bestattet werden. Franz Kafka wo bist du, wenn wir deine Kunst so dringend bedürfen? Der Begriff Wahrheit ist ein verheißungsvoller Schlüssel, aber ins Schloss der Lebenslüge (vgl. Ibsen, Wildente) lässt er sich nicht fädeln. Mir scheint, es gibt so viele Lebenslügen wie es Menschenlebenstage gibt; denn ich jedenfalls entdecke mich jeden Morgen mit der Erfindung einer neuen Dichtung beschäftigt, mittels derer ich mich geistig gerechtfertigt und verklärt in den zeitlichen und räumlichen Mittelpunkt meiner Weltvorstellung schiebe. Das, so scheint es mir, ist der eigentliche Sinn meines beständigen Schreibens. Vielleicht wiederhole ich mich mit dem Bericht, dass am 26. Juli, Klemens und ich einen zwei Tage langen Besuch auf einem Bauerngut in Wisconsin machten, um bei der Zerstreuung der Asche meiner Kusine Marion die am 23. November 2017 in ihrem 78. Lebensjahre starb, zugegen zu sein. Sie war eine äußerst intelligente und geniale Frau der es nicht gelungen war - oder die es verschmäht hatte - eine Familie zu gründen. Klemens und ich waren ihre einzigen überlebenden Verwandten. Jetzt bin ich im Begriff die anregende, jahrelang währende Korrespondenz zwischen Marion und mir zusammenzustellen. Im Rückblick sind es ergreifende Biographien eines jeden von uns. Herzliche Spätsommergrüße Euch beiden! Jochen