Mein liebstes Kind, als ob ich nicht mehr hätte als Dich! Es ist ein trüber bewölkter Sommermorgen; ich, am Rechner vorm Fenster an der Schulstraßenseite im zweiten Stock des Anbaus. Draußen der stets wachsende, größer und größer werdende Eichbaum, der einst unmittelbar vorm alten Verandafenster aufsproß, seinen Lebenstieb auch ein zweites Mal behauptend, nachdem ich ihn bis auf den Boden abgeschnitten hatte; den wir dann, 1985 umpflanzten, also vor dreiunddreißig Jahren, und mit Hilfe des letzten der Mieter des Nachbarhauses, auf seinen Namen besinne ich nicht mehr, er war ein Grieche und ich nannte ihn Herkules. Die Weckuhr welche den Plattenspieler anschaltet, hatte ich auf sieben Uhr gestellt, denn Klemens der heute mit seiner Familie ihren Erholungsbesuch auf Nantucket antritt, erwähnte, dass sie um 9 Uhr abzufahren beabsichtigen, und dass er vorbeikommen würde um mir Auf Wiedersehen zu sagen. Als er kam, schien er etwas wehmütiger als gewöhnlich ... Soeben war er hier um das Auf Wiedersehen zu erledigen. Jetzt fahren sie fort, aber ohne mein Bedürfnis ihnen zu folgen, nicht einmal mit meinen Blicken. Nathaniel der vorgestern, ohne ein Wort, ausgezogen ist, bleibt mit seinem Hunde nebenan wohnen. Seine Freundin ist fürs Wochenende in ihrem Zuhause in Princeton. Klemens sagt sie käme vermutlich Montag wieder. Inzwischen war ich hier am Rechner sitzend fest und tief eingeschlafen, bis es mir nach einer Stunde gelang taumelnd ans Bett zu gelangen, wo ich dann eine weitere Stunde, mit angezogenen Schuhen, in tiefem Schlaf verbrachte. Nachdem ich mich wach geschüttelt hatte, stöckelte ich in die Küche, verschlang den Rest von Nathaniels sehr gutem, teurem griechischen Yoghurt, ein paar Esslöffel Rhabarberpuree, zwei Tassen Kaffee und zwei kleine Stück Kuchen. Mit vollem Magen befallen mich andere Gedanken als mit leerem. Eine zureichende Beschreibung des Gruppenbetragens gibt es so viel ich weiß, überhaupt nicht, geschweige denn Erklärung oder Verständnis. Ursache möchte sein, dass man die Seelenvorstellung stets nur auf den Einzelnen, statt auch auf die Gruppe bezogen hat. Der romantische Begriff Geist des Volkes ist viel zu weit gespannt als dass es möglich wäre ihn zu beobachten, zu untersuchen, oder auch nur angehend zu beschreiben. Und doch erweist jede Gruppe ihre seelisch-geistigen Eigenarten. Ein naheliegendes Beispiel ist die Familie. Um auch nur den Anfang zu machen sie zu verstehen, ist es notwendig die Unbestimmtheit und Veränderlichkeit ihrer Begrenzungen anzuerkennen. Zwar vermag das Kind ohne Familie, zumindest ohne Pflegevater oder Mutter nicht zu gedeihen. Hingegen ist der reife Mensch nicht unbedingt von Mitmenschen abhängig und vermag als Einzelner sich elgens den Wirkungsbereich (die Funktion) der Familie zu bieten. Er vermag sich selber die eigene Familie zu sein, prototypisch als Einsiedler. Die innere Familienzahlgrenze ist eins. Die äußere Familienzahlgrenze ist veränderlich und unbestimmt, vielleicht letzten Endes im allgemeinen unbestimmbar, wenngleich wirkungsbedingt. Die Familie erstreckt sich in alle räumlichen und zeitlichen Dimensionen der Gegenwart. Auch ist sie wechselnd, dynamisch. Man betrachte die einschlägigen zentripetale und zentrifugale Kräfte. Die Familie erscheint wie eine sich unablässig wandelnde Starenschaar mit wiederkehrendem Zuwachs, und wiederholtem Abnehmen. Die Neigung einzelner Menschen zu einander mag Liebe genannt werden. Die Abneigung, Hass. Liebe und Hass haben die verschiedensten Triebfedern. Ich weiß nicht inwiefern es mir gelingen wird die Vielfältigkeit der Familie, um die mehr allgemeine Gesellschaft unerwähnt zu lassen, in ihre Wurzeln und in ihre Zweige zu verfolgen. Diese besondere Einsicht jedoch möchte ich vor der Vergessenheit schützen, dass es nicht nur die Liebe ist, sondern auch der Hass, und besonders dieser, der die Gesellschaft zusammenhält und stärkt. So wie bekanntlich der Staat unter der Drangsal des Krieges sich am stärksten erweist, so auch wird auch die Familie unterstützt und gestärkt, wenn sie ein besonderes Mitglied als unliebsam, verdorben und verderlich verschmäht und von sich absondert. Glänzendes Beispiel dieses Vorgangs ist die von meiner Tante Margot von Onkel Fritz verlangte Verunglimpfung ihres Schwagers Heinz und dessen Familie. Margot verlangte eine erzwungenen Einmütigkeit welche wesentlich zur Erhaltung und Stärkung der eigenen Familienbande zu Fritz beigetragen haben muss. In diesem Lichte bedenke ich auch die beständige Kritik mit welcher meine Schwiegertochter, mein Sohn, und meine Enkelkinder mich schlechtmachen. (schmälern, verunglimpfen) Vielleicht habe ich durch mein angeblich verwerfliches Betragen, durch meine vermutlich tadelnswerten Eigenschaften die mich zum Ziel ihrer Verachtung gemacht haben, zu dem Ehe und Familienglück meines Sohnes wesentlich beigetragen. Entsprechend erscheinen mir nun auch das Böse und ins Besondere der Teufel, als die Gesellschaft nährende und erhaltende, vielleicht sogar überhaupt ermöglichende Erfindungen des Geistes.