Mein liebes gutes Kind, In der vergangenen Nacht hab ich fast so gut geschlafen wie Du. Die beiden Träume die mich beschäftigten bewirkten keine Unruhen, denn ich war alleine, einsam, ein Ausdruck meines großen Glücks. Im ersten Traum hielt ich eine Rede in der ich mein trauriges Verständnis über das Wesen der Medizin, ins Besondere der Augenheilkunde zum Ausdruck brachte. Zu meiner Verwunderung bewirkten meine Gedanken überhaupt keine Ärgernis. Dann merkte ich den Grund: Es gab keine Hörer, denn der Raum um mich her war völlig leer. Diese Leere, so meine ich jetzt zu begreifen, ermöglichte auch den zweiten etwas größenwahnsinnigen Traum, - aber größenwahnsinnig bin ich nun einmal, - daran ist nichts mehr zu ändern. In diesem zweiten Traum erschien ich mir als ein Prophet der das Wesen des Zusammenseins der Menschen neu entdeckt hatte, und dies nämlich nicht als die etwa von Sankt Paulus ausposaunte Liebe, sondern die gegenseitige Abneigung, der Hass. Weil die Menschen grundsätzlich einander zuwider sind, ist ihnen das notwendige, unentbehrliche Zusammenwirken mit anderen Menschen ohne einen Katalysten schwierig bis zur Unmöglichkeit. Da ihnen aber das Wohlwollen, um von Liebe ganz zu schweigen, unerreichbar ist, da ihnen kein Gefühl als der Hass zur Verfügung steht, müssen sie sich, gesellschaftsbedürftig wie sie nun einmal sind, den Hass zur Vergesellschaftung dienstbar machen. Der Hass wird ihnen brauchbar, erweist sich ihnen unentbehrlich, indem er auf einen Dritten, auf einen Sündenbock gerichtet wird, dem die Gesellschaftsmitglieder ihre eigenen Mängel zuschreiben und anrechnen. Der Sündenbock, - scapegoat auf Englisch, damit ihr alle es versteht, ist der Gegenstand des Hasses. Den Sündenbock hassen ist die unentbehrliche Voraussetzung für die Überwindung des anderweitigen zwischenmenschlichen Hasses. So etwa im Großen, eine Erklärung des Anti-semitismus. Aber auch in Familienangelegenheiten bewirkt der Hass Vergesellschaftung. So bin ich überzeugt, dass der von Marion beschriebene Hass meiner Tante Margot gegen meine Eltern gerichtet wesentlich dazu diente die Ehe Margots mit Fritz zu befestigen. Als ich erwachte war ich zufrieden die Welt in der ich noch eine kurze Weile leben muss, ein wenig besser zu verstehen.