am 20. August 2018, in Belmont Mein liebes gutes Kind, statt Dir zu schreiben gedachte ich erst zu frühstücken, zu duschen, einzukaufen, aber mein Brief an Dich ist mein Morgengebet, meine Beichte, ohne die ich nicht dem neuen Tage zu begegnen vermag. Ich hab gut geschlafen, diese Nacht nicht geträumt, aber heute Morgen muss ich mich fragen, ob ich nicht wahnsinnig geworden bin. "Wie ihr mich behandelt!" Es ist das Echo der Klage meiner Mutter von vor etwa dreißig Jahren, - und so oft ich darüber nachgedacht habe, weiß ich heute noch nicht, was es denn war das ich getan oder was ich unterlassen hätte, das sie als Verletzung empfand. Und ich - ich bin so erleichtert endlich nach sieben Monaten wieder allein zu sein. Indem ich so schreibe frage ich mich, wie tief die Geistesausgrabungen die ich wagen sollte, frage mich ob ich erkennen - oder bekennen - soll dass Dein Sterben für mich in seiner Art auch Erleichterung war. Denn Du warst ja so krank! Dein Geist hatte Dich verlassen, lagst regungslos im Bett und entwickeltest Druckgeschwüre die sich kaum einschränken ließen, vermochtest die Ausscheidungen weder der Blase noch des Darms zu bewältigen. Das war kein lebenswertes Leben mehr, und als ich Dir die letzte Träne am linken Auge küsste und Dir die toten Lider schloss, war ich dankbar für das wunderbare Zusammensein das Du mir geschenkt hast, war traurig, aber verzweifelt war ich nicht. Seitdem sind 34 Monate verstrichen, die ersten 26 wohnte ich in unserem großen schönen alten Haus allein. Nur Klemens kam ab und zu mich zu besuchen. Er brachte und übte seine Geige; die Musik die er spielte war das Einzige das er mir zu berichten hatte. Sie war genug. Ich lernte das Sonettenschreiben, und komponierte die 150 kleine Gedichte, die ich immer wieder lese, die ich, von mir selbst gesprochen, mir immer wieder anhöre. Dann schrieb ich weiteres, Briefe an Helmut, Cynthia, Marion und Cristina, und in den jüngst vergangenen Monaten an Dich, entwickelte und beschrieb mein Denken über das Leben und den Geist. Im zweiten Jahr nach Deinem Tod war ich von fast krankhafter Ruhe und Heiterkeit beseelt. Dieser zugegeben unnatürliche Glückszustand fand am 2. Januar dieses Jahres, 2018, sein Ende, als Nathaniel zu mir ins Haus kam. Sein Einzug war mir willkommen, denn ich ahnte dass meine Einsamkeit vielleicht krankhaft war. Ich wusste von den Unstimmigkeiten die ihn zuerst aus seinem Elternhaus in eine Mietswohnung in Allston trieb, eine Unterkunft die er mit seinem schnurrigen Bekannten Nicola Chubrich teilte. Als auch diese Einrichtung versagte kam er zu mir, hier in 174 School Street. Bis auf mein Verbot, am 14. März, einen Hund ins Haus einzuführen, hab ich keine Kritik an ihm, keine Meinungsunterschiede zum Ausdruck gebracht. Klemens sagt mir ich bin an allem schuldig, und ich gestehe, ich glaube er hat recht. Über meine viele Vergehen möchte, muss ich Dir in Einzelheiten berichten, aber später, ich habe schon fast eine Stunde lang geschrieben, meine Füße, noch in Hausschuhen, werden kalt, auch an den Schulterblättern fröstelt's mich. Erst in die Küche zum Frühstück, dann ins Badezimmer zu duschen, dann Einkaufen, und wenn ich zurück komme, will ich mit dem großen Mea Culpa den Anfang machen. Inzwischen hab ich mit allerlei von Nathaniel zurückgelassenen Speisen gefrühstückt, habe die Arthritistabletten geschluckt, habe geduscht, und sitze nun hier am Rechner vorm Fenster und lasse meine Beine und Füße die es mir seit langem nicht mehr gelingt mit einem Tuch zu erreichen, von der Luft trocknen, und mache nun den Anfang mit meinem Schuldbekenntnis. Als ob nicht Du die Zeugin meiner schwersten Verschuldung wärest, nämlich an Dich. Giovannis Weigerung sich zu bekehren ist mein Vorbild; denn auch von mir wäre es Heuchelei mich als einen Anderen vorzutäuschen als den der ich bin, nicht weniger als einen Anderen im Werden vorzuführen, wo es mir unmöglich ist die Farbe auch nur eines einzige weißen Haares auf meinem greisen Kopfe zu verdunkeln, es sei denn mit einem Farbstoff dessen Essenz die Lüge ist. Im Recht zu sein ist unser einem ebenso notwendig wie aufrecht zu gehen. Umgekehrt, auf seinem Schädel mit dem Kopf nach unten und mit den Beinen nach oben zu tanzen vorzugeben ist nicht weniger unnatürlich und absurd als Kierkegaards Entdeckung der Erhabenheit im Unrecht zu sein vor Gott. Daher das traurige, tragische Gefühl unvermeidlich und unabänderlich im Recht sein zu müssen. Da bei weiß ich ganz bestimmt, dass ich im Unrecht bin, nicht wegen der Taten die ich meine tun zu sollen, sondern wegen des Menschen der ich nun einmal bin. Denn was ich tue vermöchte ich, theoretisch jedenfalls einem verständigen Willen gemäß, zu ändern. Aber was ich bin, das bin ich. Ein anderer als ich bin vermag ich nicht zu werden, und wegen meines Wesens bin ich den Menschen unliebsam; sie vermeiden mich, und ich vermag daran nichts zu ändern. Im Verlauf meines Denkens hat sich ein neues Verständnis der Gesellschaft entwickelt. Wenn ich die herkömmlichen Einstellungen recht verstehe, wird allgemein vorausgesetzt, dass sich die Mitglieder der Gesellschaft wohlwollend begegnen. Das glaube ich nicht mehr. Ich meine im Gegenteil gemerkt zu haben, dass die Menschen sich im Grunde feindselig gegen einander verhalten, dass sie geneigt sind, einander zu hassen. Was sie zusammenbringt ist nicht die Liebe, sondern die Verachtung, der Hass gegen einen Menschen aus ihrer Mitte, oder in ihrer Mitte, der anders ist als sie, der ihnen als Feind gilt, den sie deshalb verfolgen. Es is diese Feindseligkeit welche die Wirksamkeit der Gesellschaft überhaupt erst ermöglicht.