Mein liebes gutes Kind, Es war doch ein Fehler, nicht als erstes heute Morgen, meinen Brief, mein Bekenntnis, mein Morgengebet an Dich gerichtet zu haben. Nun ist es fast zu spät, denn mein Gemüt hat sich in Täuschungen und inneren Missverständnissen zerstreut und verausgabt. Obgleich ich bewusst jedenfalls nicht darunter leide, empfinde ich meine Ausgeschlossenheit aus Klemens Familie stärker denn je. Laura hatte für dieses Woche ein mehr geräumiges Haus auf der Insel gemietet als bisher, zu dem Zweck sämtliche Familienmitglieder, Rebekah, deren Mann Mark Swartz, das neue nach Dir getaufte Enkelkind Rae Margaret, Nathaniel und seine Freundin Sabine, neben sich selber, Klemens, Benjamin und Leah beherbergen zu können. Mark Swartz aber konnte sich vorgeblich von seiner Arbeit nicht weiter beurlauben; so bleiben auch Rebekah und Rae fort. Ein Hund war von den Besitzern im Mietshause nicht erlaubt, so machte Nathaniel mit seinem Hunde und seiner Sabine eine Reise, laut Klemens, nach Ontario. Die drei, obgleich Sabine hier mit Nathaniel seit Anfang August im Hause gelebt hatte, waren abgereist ohne mich zu benachrichtigen, geschweige sich von mir zu verabschieden. Leah hatte es seit Anfang Juli, als sie gekommen war mich zu beschimpfen, vermieden mir zu begegnen, Benjamin war, Tage nach seiner Ankunft zu einem Höflichkeitsbesuch gekommen, mit einer Einführung, er habe nur zehn Minuten Zeit sich mit mir zu unterhalten, um sich dann umgehend zu verabschieden, mit dem Versprechen - oder sollte ich es als Drohung deuten, - nach seiner Rückkehr von der Insel mich weiter zu besuchen. Die Abneigung mit welcher meine Familie sich von mir als einem unliebsamen Menschen abwendet, zusammen mit dem unverkennbaren über die Welt verbreiteten Hass der Völker- und Menschengruppen gegen einander, hat in meinem Denken ein neues Verständnis der Gesellschaft, eine neue Soziologie gestiftet. Das vom Christentum ausposaunte Mantra der allgemeinen Nächstenliebe der Menschen sowie auch die Liebe Gottes für die Menschen (deren Nackommen er gedeien ließ, nachdem er sie fast alle ersäuft hatte) und für seinen "eingeborenen" Sohn, die Er damit zum Ausdruck brachte, dass Er ihn kreuzigen ließ - hat schließlich für mich jedenfalls seine Überzeugungskraft verloren. Über die Liebe Gottes messe ich mir kein Urteil zu. Was aber die gegenseitige Menschenliebe anbelangt so meine ich zu betrachten, dass diese Liebe nicht besteht; dass die Menschen mit einander konkurrieren, mit einander streiten, und dass sie einander verachten und hassen. Zusammenwirken, Zusammenarbeit die den Menschen in der Gesellschaft unbedingt notwendig, die ihnen unentbehrlich ist, ermöglichen sie dadurch dass sie ihre Verachtung von einander abwenden und auf einen bestimmen einzelnen Gegenstand wenden, auf den Stein des Anstoßes, auf den Sündenbock, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er ein Einzelner, dass er ein Unterscheidbarer ist. Denn unter den Herdentieren ist das ununterscheidbare, und nur das ununterscheibare Tier sicher, weil jedes Herdentier instinktiv weiß, dass der Hass dem Unterscheidbaren, dem Besonderen gilt, dass die Herde das Besondere zerstört nicht weil es anderweitig schlecht, sondern lediglich weil es aus der Art fällt, will sagen, weil es etwas Besonderes ist das nicht zur Herde passt, oder jedenfalls zu sein wähnt. Das Leben, mein liebes Kind, ist nicht immer leicht. Ich freue mich darauf bald dort zu sein wo Du jetzt bist.