Mein liebes Kind, Indem ich das heutige Datum in die Kartei schreibe, erinnere ich dass heute Margrit's, meiner Schwester 90. Geburtstag wäre. Du besinnst Dich auf unsere drei Fahrten nach Detroit um ihre verwahrloste Wohnung aufzulösen. Auf der letzten Rückfahrt, fuhren wir nach Konnarock über Hilliard OH, um Cynthia Behrman Guten Abend zu sagen. Sie hatte ein unbiegsames Gemüt und bestimmte unser Besuch müsste vor 9 Uhr abends geschehen, oder garnicht. Cynthia ist nun auch längst gestorben. Und ich, wie Unkraut das nicht vergehen will, lebe noch, und denke so oft an Dich, dass mein Denken an Dich ununterbrochen scheint. Immer und immer wieder erfrischt es sich, entspringt neu, beim Lesen unserer Briefe, beim Anschaun der vielen Bilder von Deiner Schönheit, entspringt aber mit besonderer Stärke und Klarheit aus den unbenannten Quellen von Geist und Seele. Und nun, um 25 Minuten nach Mittag, zum Frühstück. Der Hunger stellt seine eigenen Ansprüche. Soeben hab ich im Internet die Biographie unseres Patienten Ernst Mayrs nachgelesen. Besinnst Du Dich, wie wir ihn ein oder zwei Jahre vor seinem Tode in seinem Altersheim in Bedford MA besuchten? Tatsächlich hat er bis in ein hundertstes Jahr gelebt. Das macht mir Angst, denn demgemäß hätte ich noch zehn Jahre zu warten; und bin schon jetzt mit nur 88, so ungeduldig. Aber solange ich meine Tage, Wochen, Monate mit etwas verbringe wovon ich mir einreden kann, dass es meine "Arbeit" ist, sollte ich zufrieden sein. Davon dass außer Dir kein Mensch mein Geschreibsel liest, darf ich, will ich mich nicht betrüben lassen. Nun will ich zurück an meine "Arbeit". Morgen früh setze ich diesen Brief fort. Nur noch eins. Ich erinnere nicht ob ich Dir schon von meiner jüngsten Einsicht in das Wesen der Gesellschaft erzählt habe, wie folgt: Es ist die Art der Menschen mit einander zu konkurrieren und zu streiten: Männer um Frauen, Frauen um Männer, Geschwister mit einander, wie auch Geschäftsleute mit einander, und bekanntlich, laut Adam Smith ist Gesellschaftsleben nichts als Geschäft. Selbstverständlich, dass Politiker und Staatsmänner gegen einander kämpfen. Angesichts des allgemeinen Kampfes des jeden mit jedem, wie sollte es möglich sein eine Gesellschaft zu schließen, und somit eine mehr oder weniger geschlossene Front gegen den drohenden Feind? Die Einmütigkeit in Angesicht feindlicher Drohung wird durch das Opfer geschaffen. Wir sollen es nicht vergessen, das Tier das geopfert wird ist Ersatz für den Menschen, der sonst geopfert würde. Besinne Dich auf die Moriahlegende, wobei ausgefallen und bemerkenswert die Tatsache ist, dass es keine Gesellschaft war, sondern der eigne Vater der sich bewogen und gezwungen wähnte den Sohn, Isaak, zu opfern. Dafür fehlt mir die Erklärung. Wenn sie mir einfällt, schreib ich sie Dir. Das geläufige Menschenopfer, dann mit dem Tieropfer verdrängt oder ersetzt, wurde im Kreise des gesellschaftlichen Gottesdienst geleistet. Da ist das Gegenüber des getöteten Menschentieres und der Menschengemeinde zu dessen Gunst und Vorteil diese Tötung vollzogen wurde unverkennbar. Die ausgiebige Christologie lässt keinen Zweifel dass der Heiland als Opferlamm am Kreuz "geschlachtet" wurde. Dies Opfer ist nun vorbildlich für die Beziehung des Einzelnen zur Gesellschaft. Und wenn, wie die alten und neuen Mystiker behaupten, Gott inwendig, Gott subjektiv ist, dann scheint es mir durchaus nicht zu weit hergeholt, anzunehmen dass die Beschwichtigungen der einzelnen Subjektivitäten durch das Opfer eine gemeinschaftliche Befriedung bewirken möchte welche das friedliche Bestehen der anderweitig feindschaftlich zerstrittenen Gesellschaft ermöglicht und welche anderweitig nicht erreichbar ist.