Mein liebes gutes Kind, Gestern war ich so übermäßig mit steuertechnischen Überlegungen und Berechnungen beschäftigt bis es zu spät war, bis ich zu müde und zu verwirrt war, mich mit meinen Sorgen, mit meinen Gedanken und mit meiner Liebe an Dich zu wenden. Hab's aufgespart, hab alles aufgespart. Auch das Geld, aber vor allem, die Liebe. Bei meinem Schweigen, je länger ich schwieg, desto leidenschafticher hab ich an Dich gedacht. Vorhin beim Abendessen in der Küche hab ich mir viele von den Sonetten über unsere Liebe angehört, die ich vor zwei Jahren komponiert, und die ich dann laut vorgelesen auf einer Schallplatte gespeichert habe. Die Dichtung, die Sprache ist Zauberhaft und vergegenwärtigt das Erleben wie sonst nur die Musik. Was mich beschäftigt, was mein Denken zur Zeit in Bann hält ist die Ethik, die Lehre, - oder die Wissenschaft - von dem was Menschen wie Du und ich tun müssen und lassen sollen. Ich glaube ich schrieb Dir, dass Klemens mir ein Exemplar von Albert Schweitzers Buch Kultur und Ethik geschenkt hat, ein Buch das meine Eltern verehrten und von dem ich vermute dass Margrit das aus Deutschland mitgebrachte Original, wie so manches andere, zu Ludwigs gebracht hat. Es ist unverschämt mir ein Urteil zu erlauben, doch finde ich es von Schweitzer vereinfachend und naiv, anzunehmen dass Kultur durch populäre, volkstümliche Philosophie gezüchtet, hervorgerufen werden sollte, und dass aus Kultur, was immer sie sei, eine Ethik entspringen möchte, die Schweitzer als Ehrfurcht vor dem Leben bezeichnet. An dieser Stelle möchte ich auf nichts anderes hinweisen, als dass Schweitzer das ethische Betragen als die Aufgabe und Verantwortung des Einzelnen betrachtet; mit dieser Voraussetzung befindet er sich in erstklassiger Gesellschaft, allenfalls in der Griechischen sowohl als auch in der Jüdisch-Christlichen Überlieferung. Legte Zeus doch den Mord des Agamemnon ungeachtet aller Warnungen Ägist und Klytemnestra zur Last, und dem Orestes den Mord seiner Mutter. Auch die jüdische Ethik war von Anfang an individuell und persönlich. Das Verbot sich der verbotenen Frucht zu enthalten, wurde von Eva dem Schlangenvorschlag zufolge, und von Adam auf Evas Veranlassung gebrochen. Das waren, wie auch der von Kain ausgeführte Mord seines Bruders, persönliche Vergehen. Wohlbemerkt waren der Tanz um das goldne Kalb, das Murren welches die Giftschlangen herausforderte, schon gesellschaftliche Vergehen welches die einzelnen daran Beteiligten aus Gesellschaftgründen sich gedrungen fühlten mitzumachen. Vor allem war die Kreuzigung ein Gesellschaftsunternehmen, wenngleich vom Hohen Priester und von einzelnen Ältesten angestachelt. Die Zehn Gebote und die Bergpredigt richten sich an kein Volk. Sie richten sich ausschließlich an Einzelne. Indessen erscheint es mir, dass in unserer Gesellschaft, jedenfalls (fast) alle Handlungen die Handlungen des Einzelnen sind der sich so beträgt wie seine Mitglieder, seine Mitbürger, seine Mitbeamten und Mitsoldaten, kurz seine Kameraden, es von ihm erwarten. Die Sprache beweist die Herdentiere die wir sind. Verständigen tun wir uns mit dem Gebrauch der gleichen Worte, gleich ausgesprochen, gleich betont und gleich geschrieben. Wir sind einander gleich, oder wollen einander gleich sein. Wir sind Soldaten, wir marschieren, wir handeln, wir denken wie Truppen in jeder Beziehung. Überall bewegen wir uns, marschieren wir, im gleichen Schritt und Tritt. Was heißt denn dem Solaten das Gewissen anders als das zu tun was ihm befohlen wird, was man von ihm verlangt, was seine Kameraden von ihm erwarten? Wo sind in diesem Bilde Tugend, Wahrhaftigkeit, Liebe und Rechtschaffenheit? Pfui, lieber Immanuel Kant, für Dich ist das Gute nichts als Gehorsam.