am 29. August 2018 Mein liebes gutes Kind, hier sitze ich nun schon spät am Morgen, es ist 11 Uhr, und ich bin noch in Hausschuhen, ungewaschen, ungekämmt, unrasiert, das Bett ist noch ungemacht, geschweige denn dass ich den dichten Staub unter Bett und Tisch aufgefegt hätte, und schreibe Dir den Unsinn den ich im Sinn habe. Meine rechte Hüfte hat die ganze Nacht geschmerzt, aber nicht so sehr, dass ich nicht hätte einschlafen können. Inwiefern die Hüftenschmerzen dazu beigetragen haben mich zu wecken, weiß ich nicht. Die Schwindligkeit die mich letztes Jahr beim Hinlegen und Aufstehen befiel hat sich völlig verflüchtigt. Stattdessen - wieso schreibe ich "stattdessen"? - sind ganz feine leichte rechtseitige Kopfschmerzen aufgetreten, die sich in die Zahngeschwüre des rechten Oberkiefers erstrecken. Vielleicht sind sie nur Ausstrahlungen der Geschwüre, vielleicht Vorboten eines Hirnabszesses oder Glioblastoms. Wahrscheinlicher ist's dass sie nichts bedrohlicher sind als Gelegenheiten zu schriftstellerischen Übungen. Vielleicht wird's sich eines Tages herausstellen was sie bedeuten. Mein liebes Kind, seit einigen Jahren meine ich den Stein des Weisen mit zwei Gleichungen beschrieben gefunden zu haben: Das Außen ist die Gemeinsamkeit der Gesellschaft. Das Innen ist das Erleben des Einzelnen. In diesen Vorstellungen bin ich seither gefangen. Sie sind die Gitter meines Geisteskäfigs. Sie suchen mich heim. Sie verfolgen mich. Verlangen wie eifersüchtige Weiber, dass ich ihnen ewige Treue schwöre, wo doch mein Hang zum Widerspruch, zur geistigen Erneuerung mich dazu drängt sie dialektisch zu betrachten und zu behandeln. Die Frage vor der ich mich unmittelbar befinde ist: Was weiteres, wenn irgend von meinem Schreiben sollte ich veröffentlichen, und warum? oder warum nicht? Bisher beabsichtigte ich auf den Empfang der bestehenden Veröffentlichungen zu warten, und was weiter ich drucken lassen würde entsprechend abzustimmen. Wenn ich schreibe, dass dieser Empfang eine tiefe, lähmende Stille ist, so meine ich keineswegs mich zu beklagen, sondern lediglich an mich, und an den der dies lesen möchte, die Frage zu stellen, was soll ich jetzt, was soll ich weiter tun. Inzwischen hab ich mein Frühnachmittagsfrühstück mit zwei Tassen Kaffee, einem Glas Eiskaffee, vier dünnen Scheiben Puterbrust, und drei großen Stücken Schokoladenkuchen genossen, hab zwischendurch, wie üblich vorübergehend am Küchentisch geschlafen, und fühle nun, um 20 nach 2 dass ich schließlich aufgewacht bin. Ich fragte Dich vorhin, was nicht nur von meinen Schriften, sondern von unserem Briefwechsel ich drucken lassen, ich veröffentlichen sollte. Die Problemetik ergibt sich daraus, dass alles was wir einander schrieben, und überhaupt alles was ich geschrieben habe und was ich schreibe so intim, so persönlich, so leidenschaftlich ist. Dabei frage ich mich, ob vielleicht das leidenschaftliche Schreiben, wie Nietzsche es ausdrückte, mit Blut statt mit roter Tinte schon an sich unanständig sein möchte, ob nicht würdevolles, politisch gehöriges Schreiben, zeitungsartig, journalistisch sein sollte, wo der Schriftsteller lediglich berichtet, und wo was er schreibt ihm ausdrücklich nicht von Herzen geht. Jetzt ist es, und es war wohl von jeher zu spät, meine Schreibart zu ändern. Was ich jetzt zu veröffentlichen hätte, betrifft mein Innerstes. Wäre es nicht unklug, wäre es nicht unanständig dies, mein Innerstes, einer gleichgültigen Leserschaft, wenn es überhaupt eine Leserschaft gegen möchte, preiszugeben? Vielleicht wäre aber gerade aus diesem, aus der Abwesenheit einer verständigen Leserschaft, die Antwort zu entnehmen. Das vernünftige ehrliche Veröffentlichen setzt zumindesten einen verständigen Leser voraus. Wäre vielleicht Veröffentlichung in der Erwartung, wenn nicht gar Zuversicht, dass das Veröffentlichte überhaupt keine Leser haben wird, nicht eine besonderes, raffinierte Art von Betrug?