am 3. September 2018 Mein liebes Kind, Es ist viertel nach neun Uhr morgens. Seit acht Uhr bin ich wach, und spüre schon jetzt ein wenig Hunger. Bin jedoch entschlossen das Wenige das mir heute Morgen im Kopf rumort niederzuschreiben. Weiß nicht, ob ich Dir berichtete, dass Nathaniel der am 2. Januar hier einzog, seit etwa zwei Wochen ausgezogen ist. Vorgeblicher Anlass meine schriftliche Bitte (per e-mail) den Ausgang und Eingang durch die Anbautür keinem Anderen anzubieten, seiner Freundin Sabine einbeschlossen, wegen meiner Besorgnis man möchte besonders bei Nacht in den unbeleuchteten steilen Abhang des Grabens fallen, mit dem ich wegen des abfallenden Geländes die Süd- und Ostseiten des Anbaus abschotten musste. Ich wies auf die unerträglichen Schadensersatzforderungen infolge eines lähmenden Unfalls, mit dem möglichen Verlust des Hauses selbst. Ich fand, und finde, meine völlig kritiklose Feststellung als gewissenhaftes und verantwortungsvolles Betragen meinerseits. Nathaniel, der mich und das Haus im Laufe der Monate mit zunehmender Ungezogenheit und Rücksichtslosigkeit geschunden hatte, ergriff diese Gelegenheit ohne Abschiednehmen, geschweige denn ohne Ausdruck jeglichen Bewusstseins von Verpflichtung, Dankbarkeit - um soetwas wie Liebe überhaupt nicht zu erwähnen - das Weite zu suchen. Vermied und unterließ es dann in den zwei folgenden Wochen auch nur ein einziges Wort an mich zu richten, oder von meiner liebevollen schriftlichen e-mail Einladung an ihn und seinen Hund zurückzukehren Notiz zu nehmen. Auch Klemens nahm gegen mich Stellung und bezichtigte die Abwesenheit meinerseits der "Höflichkeit des Herzens", einen Ausdruck den er von Goethe borgte: "Es gibt eine Höflichkeit des Herzens; sie ist der Liebe verwandt. Aus ihr entspringt die bequemste Höflichkeit des äußern Betragens." Erinnert ein anderes Sprichwort: Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen schmeißen. Seit seinem Auszug begegnete mir gestern Nathaniel zum ersten Mal, indem er mich um die Schlüssel zu meinem Autos bat, zwecks damit seine Kesseltrommeln die sich nach seinem letzten Konzert noch in der University Lutheran Church - Du besinnst dich - wo Du und ich uns vor 66 1/2 Jahren verheirateten - befanden, und die Nathaniel nun, um mich zu strafen, nicht mehr wie bisher im Wohnzimmer des Anbaus lagern würde, sondern - denn nebenan sind seine Trommeln ebensowenig wie sein Hund erwünscht - zur St. Marks School, wo Nathaniel einen Lehrposten innehält, zu bringen beabsichtigte, wozu er meinen geräumigen Minivan benötigte. "Und was er (Tonio Kröger) sah war Komik und Elend". An mich nun gebührt es sich mir die Frage zu richten, welche Notwendigkeit, welche Berechtigung haben meine Betrachtungen. Folgen ergeben sich aus ihnen wohl keine, insofern keiner außer Dir diesen Brief zu lesen bekommt. Aber nun erst einmal Frühstück, und dann zurück zur Sache, wenn ich mich noch auf sie zu besinnen vermag. Nathaniel, fürchte ich, steht ein sehr schweres Leben bevor. In seiner Weise mit meinem vergleichbar, obwohl ich die Schwere meiner Vergangenheit leugne, und behaupte dass als Du mich vor mir selber rettetest mein Leben ein idyllisch leichtes wurde. Nathaniel und ich ähneln einander insofern "keiner uns mag." Ihn weder seine Geschwister noch seine Mutter, und ich bin, laut Klemens, bei allen Menschen unbeliebt. Die Anführungsstriche bezeichnen die Zweideutigkeit. "Keiner mag uns" weil Nathaniel und ich anders sind, keineswegs einander gleich, aber dennoch gründlich verschiedenen von den Anderen die eine gesellschaftliche Einheit bilden, insofern sie mit einander vergleichbar, von einander ununterscheidbar sind, also wirkliche Herdentiere in der Menschenherde. Dem Fremdling unter ihnen der anders ist, ihrem begegnen die Herdentiere mit Zwiespältigkeit, einerseits gehorchen sie ihm als ihrem Dirigenten, andererseits stoßen sie ihn von sich ab in Vorbereitung ihn zu opfern, ihn zu zerstören, ihn umzubringen. Dies tun sie ihren Gefühlen, ihren Instinkten gehorchend. Darum weil ich für (nicht vor) Nathaniel Angst habe, hege ich für ihn eine besondere Liebe, möchte ihn glücklich machen, möchte ihm schenken was ich habe. Dieses, den anderen beschenken wollen, der Wunsch ihn mit Gütern und mit Glück zu bereichern ist das Wesen der Liebe, nicht, die gewöhnnliche, die gemeine Annahme, der Index der Liebe sei das Maß der eigenen Bereicherung. Was hieße es schließlich darüber nachzudenken? Über all dieses zu schreiben, es zu beschreiben? Ich glaube die Beschreibung wird dann das Gerüst des Erlebens, das Schleußwerk welches Gedanken und Gefühle, welches das Leben selbst in schicksalhaft wirksame Kanäle steuert und somit das Geistige zu dem gestaltet das es ist. Insofern Denken Leben ist, ist die Gesamtheit des Denkens Geist; und Geistigkeit ist Religion. In diesem Sinne entdecke ich meine Religion in meinem Denken, in meinem Schreiben, in meinem Lesen, in der Literatur. Jetzt besinne ich mich auf die Intensität des Denkens in meines Vaters Familie wie sie unsere Leben beherrschte. Ich bezweifle nicht dass es die beständigen Auseinandersetzungen waren mit denen wir einander und uns selber prüften, mit denen wir unsere gegenseitige Liebe und unsere gegenseitigen Abneigungen zum Ausdruck brachten, dass es diese Auseinandersetzungen waren von wo ich das scharfe, einschneidende Denken gelernt habe, an denen und aus denen sich mein Geist entwickelt hat. Erst heute meine ich einzusehen wie schicksalhaft die Gestaltung des Lebens das diese Gedankengebilde, das diese Denkübungen bewirken. Ein oftmals vergebliches Ringen mit dem Engel um Wahrheit und Wirklichkeit.