am 1. März 1990 Liebe Margrit, Ich habe seit Deiner Abfahrt viel über Dich und mich nachgedacht. Wenn ich wiederhole, wie sehr ich mich über Deinen Besuch gefreut habe, sehe ich ein leicht spöttisches Lächeln auf Deinem Gesicht. Es tut mir in doppelter Weise leid, dass mich am Vortage Deiner Abfahrt die Melchanolie überfiel. Wenn ich mich dafür entschuldige, so scheint das zu besagen, dass meine Gemütszustand in meiner Gewalt wäre, dass ich je nach Belieben meine Stimmung einstellen könnte, zuversichtlich oder traurig, wie es mir passte, dass ich aus eigenem Entschluss deprimiert geworden wäre, und dass ich mich bei Dir für dies Vergehen nun entschuldigen sollte. Vielleicht ist dem so, ich weiß es nicht. Jedenfalls glaube ich, dass die Abgrenzung die wir voraussetzen, zwischen dem was wir absichtlich tun und was versehentlich geschieht, zwischen dem was wir wollen und zwischen dem was wir sind, dass diese Trennung bei weitem nicht so klar ist wie wir uns vorstellen. Letzten Endes, glaube ich, macht es wenig Unterschied ob man sich für das entschuldigt was man tut oder ob man sich entschuldigt für das was man ist. Ich möchte aber in diesem Zusammenhang noch betonen, dass mein Unmut viel weniger mit Dir zu tun hat, als Du Dir wahrscheinlich vorstellst; sondern immer nur mit meiner Arbeit, ich meine, mit meinem Denken und Schreiben, und mit meinem Leben, das ich zwar nicht beklage, aber mit dem ich doch immer mehr oder weniger unzufrieden bin. Mit Dir hatte meine Depression eigentlich nur insofern zu tun als Du mich an Mutti und Papa erinnertest, besonders an Muttis Neigung alles zu bestimmen, alles anzuordnen, mir eine Rolle, zum Beispiel bei Gesellschaften oder Kirchgängen anzuweisen, welche meinen Gefühlen nicht entsprach, und bei mir das Gefühl auslösend, dass sie das was ich dachte und empfand garnicht verstand, oder schlimmer noch, dass es ihr gleichgültig war. Du wirst auch verstehen, dass es mich schmerzt diese Kritik an Mutti noch jetzt nach ihrem Tode meine aussprechen zu müssen, und wie sie selbst gesagt haben würde, jetzt in dieser lieblosen Weise über sie "herzuziehen". Es ist aber nun einmal so, dass ich mit meinen Gedanken und Gefühlen nicht zurecht komme, ohne sie mir so klar und deutlich vorzuführen, wie ich nur kann. Und mir ist die Erinnerung an wie es wirklich war durchaus vereinbar mit, und vielleicht sogar der unausweichliche Ausdruck meiner großen Liebe für sie. Ich möchte auch diese Gelegenheit nehmen, um Dir zu danken, für Dein Vertrauen in Geldangelegenheiten und für die Freigiebigkeit mit der Du mir Deine Unterschriften geleistet hast. Ich sehe in Bezug auf Dein Einkommen von Muttis Kapital keinerlei Schwierigkeiten voraus. Ich schlage vor, dass wir von Jahr zu Jahr besprechen, wie viel Geld ich Dir alle drei Monate überweisen soll, anderenfalls könnten wir ein gemeinsames Konto (joint account) anlegen, das ich regelmässig, je nach Deinem Bedarf, wieder auffüllen würde. Noch eines möchte ich in Beziehung auf Deinen Besuch bemerken, nämlich, dass es mir zum ersten Mal klar geworden ist, dass die scheinbar so großen Unterschiede zwischen uns im Grunde doch auf einer unscheinbaren Ähnlichkeit beruhen. Mir scheint es, dass wir uns in der Intensität und Unerbittlichkeit unseres Bestrebens eigentlich sehr ähnlich sind. Auf diesen Gedanken kam ich als ich zu verstehen versuchte, was Dich bewegt mit solcher Eifrigkeit, z.B. jeden Tag Ski zu laufen, oder in Museen zu gehen, oder in Konzerte, oder Freunde zu besuchen, oder im Flugzeug über das Land hin und her zu fliegen. Du nimmst es mir, hoffe ich, nicht übel wenn ich bemerke, dass diese Flüchtigkeit Deiner Aktivitäten Kritik an Dir und Deinem Tun herauszuforden scheinen. Aber kritisieren will ich nicht; im Gegenteil: ich vermag den Schluss nicht zu vermeiden, dass in meinem Leben eine ähnliche Flüchtigkeit herrscht und dass es bei mir eigentlich nicht viel anders aussieht, dass wir uns in dem Zwang zu rastloser Beschäftigung kaum unterscheiden, auch nicht in seiner manischen Intensität, sondern nur in der Richtung in welche die Ruhelosigkeit uns treibt. Der Zwang der Dich zu Deinen Ausflügen und Besuchen treibt, ist durchaus vergleichbar mit dem Zwang aus dem ich Aufsätze oder Computerprogramms schreibe. Auch wüsste ich nicht wie man von diesen schicksalsartigen Compulsionen behaupten könnte, dass die eine wertvoller oder minderwertiger als die andere sei. Sei mir bitte wegen meiner hirngespinstigen Ausfu#hrungen nicht bo#se. Hoffentlich trifft Dich dieser Brief gesund und wohlgemut in Windsor an. Sei vorsichtig und bleib gesund bis wir uns im Mai wiedersehen.