am 1. August 1994 Liebe Margrit, Es ist so unheimlich still, nicht, dass wir nicht von Dir gehört hätten; Du hast ja erst vor ein paar Tagen angerufen um Margaret zum Geburtstag zu gratulieren, um Dich nach unserem Befinden zu erkundigen, und um uns mitzuteilen, dass Du gesund bist. Ich weiß nicht was es bedeutet, dass ich so traurig bin; ich weiß nicht warum es mir so schwer f{llt, telephonische Höflichkeiten mit Dir auszutauschen. Ich glaube es ist wegen der Trauer, die mir bedeutet, dass etwas in mir gestorben ist, weil ich vermisse, was mir fehlt; die Vorstellung nämlich von Dir als meiner Schwester, um die zu sorgen meinem Leben einen tiefen, und möglicherweise seinen tiefsten Sinn gab. Ich verstehe und begreife, wie wenig Du davon wissen willst. Ich habe Deine wiederholten unveranlassten Erklärungen "Mutti and Papa must have picked me up somewhere," nicht überhört. Es mag auch sein, dass der unbedingte Wunsch sich von seiner Familie zu trennen gesellschaftlich veranlagt ist. Man sagt, die Kibbutzim in Israel wären von Menschen gegründet denen das innige Familienleben der europäischen Stätl unerträglich geworden war; andererseits vermute ich aber auch, dass etlichen Menschen die Intimität der Familie zur Lebensbedingung geworden sein mochte, und dass für diese der Einzug in den Kibbutz eine Art Sterben bedeutet haben muss. Ich begreife, wie wenig Du davon wissen willst; und die Sprache in der ich Dir schreibe soll es Dir leichter machen, meine Worte zu überhören. Wenn ich Dir vormals auf Englisch schrieb, so tat ich's aus der Vermutung, dass, da es englische Worte sind mittels derer Du mit Kollegen und Studenten, und vor allem mit Deinen Freunden verkehrst, Du dem Englisch zugänglicher sein möchtest als der Sprache deiner Familie, von welcher ich vermutete, dass Du ihrer, der Sprache ebenso wie der Familie, überdrüssig seiest. Aber auch das hat fehlgeschlagen, und nun sitz ich hier alleine, und denke dem Traume nach. Ob es gerecht, sinnvoll, oder auch nur nützlich wäre eine Wandlung unserer Beziehung zu erwarten? Die Juden warten bekanntlich noch immer auf ihren Erlöser, obgleich selbst die Vernunft eines Kindes zu der Erkenntnis gereicht, dass Er es sich anders überlegt hat. Die Christen haben ihn, aber, wie Frau Bruell erklärt haben würde: "Welch eine Enttäuschung!" Merkwürdig wie undenkbar es mir ist, dass mein Wesen sich wandeln sollte, dass ich mich jemals in Deiner kibbutzartigen Welt geborgen fühlen könnte. Andererseits, dass Du eines Tages doch zu Deiner Familie zurückkehren wirst, wie der Verlorene Sohn es tat, ist eine Vorstellung welche immer wieder im meinem Gemüt keimt, obgleich ich weiß, wie unrealistisch einerseits, und demütigend andererseits sie ist. Die Geschichte vom verlorenen Sohn verstehe ich übrigens als die Erfindung des senilen Vaters, oder zumindesten eine die man jemanden in vergleichbaren Umständen zu trösten oder ihm zu schmeicheln erlogen hat. Tatsächlich ist es, wie schon Rilke erkannt hat, dem "verlorenen" Sohn in der Fremde sehr wohl ergangen, und es ist ihm nie eingefallen den Weg nach Hause zu suchen. Ich frage mich manchmal, ob ich Dir und mir ein Unrecht tue, indem ich es schon seit so vielen Jahren unterlassen habe Dich zu kritisieren. Ich bin mir, ganz im allgemeinen, im Unklaren unter welchen Umständen ein Recht, unter welchen Umständen eine Pflicht zur Kritik besteht. Das Neue Testament, wie Du weißt, verbietet jeglichen Richtspruch, und verurteilt, bemerke den Widerspruch, den der seinen Bruder töricht schilt zu ewigem Verderben. Andererseits ist aber ist, als Ausdruck der Liebe, die Kritik die letzte Bestätigung der Zusammengehörigkeit des Kritikers mit dem Kritisierten, denn die Kritik setzt einen geistig-seelischen Bereich voraus, dem beide angehören. Darum, wenn sich einer der Kritik enthält, so bedeutet dies entweder Gleichgültigkeit gegen den anderen, oder aber eine unüberbrückbare Kluft zwischen ihnen. Ich weiß nicht was ich tun soll. Ich weiß nicht was werden wird. Ich weiß was gewesen ist, und was ich getan habe, und gebe zu, dass ich im Unrecht bin. Und doch weiß ich nicht was oder wie ich es anders hätte machen können.