am 11. September 2018 Meine liebes gutes Kind, Es ist schon, - oder sollte ich schreiben, erst - viertel nach zehn. Seit Mitternacht bis sieben schlief ich ziemlich fest, nur ein wenig kühl, weil das Wetter herbstlich geworden ist, und ich es bis jetzt unterlassen habe die elektrische Decke auf unser Bett zu legen. Die letzten drei Stunden ergaben sich dann als nur Halbschlaf, doch bequemer im weichen Bett als auf hartem Stuhl über dem Rechner. Gestern bekam ich von einem Herrn Doktor Reinhold Busch in Hagen ein in Papier gebundenes Buch mit dem Titel "Verstreut über fünf Kontinente", mit Berichten über die Nachkommen meines Urgroßvaters Jakob Rosenthal und seines Bruders Isaak. Weil meine Großmutter Elfriede, Jakobs Tochter war, erscheinen auch Du und ich, in Bildern und Beschreibungen wie auch Klemens, Laura und die Enkelkinder, und selbstverständlich, meine Eltern und Großeltern. Reinhold Busch ist einer der vielen Deutschen, deren Gewissen die Verfolgung der Juden in der Nazizeit nicht zu vergessen vermögen. Reinhold Busch, ein sich im Ruhestand befindender Spezialist in Tropen- und Lungenheilkunde, ist mir eine sehr sympathische Gestalt, aber das Buch das er schrieb hat viele Mängel. Ich hatte ihm reichlich Stoff geliefert, und wurde von ihm durchweg falsch zitiert. Auch sind viele Druckfehler in seinem Buch unberichtigt geblieben. Der wesentlichste Mangel des Buches aber - Du magst es ahnen - ist der törichte Anspruch dem Erleben auch nur eines einzigen Menschen in einem zeitungsartigen Bericht gerecht zu werden, geschweige denn dem Schicksal von hunderten. Es ist schlechthin unmöglich zu erzählen, unmöglicher noch es zu erleben, "wie es wirklich aussah". Zugleich möchte ich aber betonen, dass die Versuchen dieses zu tun, trotz ihres unerreichbaren Zieles, mit tiefen seelischen Bedeutungen behaftet sind. Überlegungen dieser Art leiten mich zu den vornehmlich sprachgebundenen Vorstellungen vom Dasein meiner selbst und meiner Familie, unumgehbare Vorstellungen die zu verstehen einem jeden von uns obliegt. Diese Vorstellungen sind zugleich Vorlagen und Spiegelbilder der Erfahrungen und des Erlebens darin unsere Tage und Nächte bestehen. Diese Vorstellungen werden von dem was uns geschieht gegeben, werden aber zugleich von uns geschaffen als Gegenwirkung des unseres Geistes. Die Erzählungen, tatsächlich sind es Dichtungen mittels derer wir versuchen uns und unsere Leben zu begreifen, dienen dies Leben zu verwandeln, und es manchmal besser, manchmal aber auch schlechter zu gestalten als es anderweitig wäre. Der Mythos betreffs unserer selbst, betreffs unserer Familie den wir pflegen hat außerordentlichen Einfluss auf unsere Zufriedenheit, auf unser Glück, und auf die Fruchtbarkeit unserer Bemühungen. Wir vermögen ihn nicht zu entbehren.