am 12. September 2018 Lieber Herr Nielsen, Etwa einundvierzig Tage sind seit meinem letzten Brief an Sie vergangen. Heute Abend schreibe ich Ihnen um unseren mir so wertvollen Briefwechsel nicht erlöschen zu lassen. Dabei bin ich entschlossen Sie nicht mit Überflüssigem zu belästigen. Bitte bemühen Sie sich um keine Antwort die Ihnen ungelegen wäre. Die mehreren Tage seit Ihres Sohnes und seiner Familie Rückkehr sind vergangen ohne dass eine Begegnung an der niedrigen Ligusterhecke zwischen den beiden Einfahrten mir die Gelegenheit gegeben hätte mich nach Ihrem Wohlergehen zu erkundigen. Nun bediene ich mich dieses Briefes Ihnen und Ihrer Frau meine Hoffnungen und Wünsche für Ihre Zufriedenheit und Gesundheit mitzuteilen. Weiß ich doch aus eigener Erfahrung, wie gebrechlich das Leben ist. Rilke hat sein Requiem für Wolf, Graf von Kalckreuth mit den Worten beendet: "Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles." Seit unserem jüngsten Briefwechsel haben sich meine Tage jedenfalls insofern verändert, als mein Enkel Nathaniel mit seinem Hunde ausgezogen ist. Eine Erklärung was ihm an seinem Großvater missfiel, vermochte er mir nicht zu geben. Dabei meine ich zu beobachten wie ich mit fortschreitendem Alter den jungen Menschen zunehmend bedenklich werde. Vermutlich bekommen sie Angst, an das Alter und an das Sterben erinnert zu werden, die sie dazu erzogen sind den Tod als flackernde Kerze in ausgehölter Kürbisschale und mit anderen Hallowe'en Possen zu veralbern. Die Einsamkeit in der ich nunmehr meine Tage verbringe ist mir nicht unbehaglich. Ich bin zufrieden und dankbar. Mich dünkt ich hätte mich mein Leben lang auf dies Alleinsein vorbereitet. Endlich ahne ich was es heißt zu beten. Jeden Morgen beginne ich den Tag mit einem Schreiben an meine vor nun fast drei Jahren verstorbene Frau in dem ich ihr berichte was ich denke und was ich fühle. Ich erzähle ihr dass ich träumte man hat mich in Schutzhaft genommen, ohne mir zu bestellen, warum. Vermutlich um mich vor mir selber zu schützen. Aus Erfahrung weiß ich dass ein Versuch mich zu verteidigen sinnlos wäre; denn meine Schuld, so deute ich Anaximandros, ist dass ich überhaupt existiere. Ich weiß, die Richter werden mich anhören, aber nur aus Höflichkeit. Ihr Urteil ist vorgefasst, und meiner Pflicht mich damit zufrieden zu geben bin ich längst nachgekommen. Wenn ich dann erwache, erscheinen mir die Zeitungsberichte des Tages Spiegelbilder des Traums. Denn Goethe's Worte, "dass die Welt wie sie auch kreise, liebevoll und dankbar sei", stammen gleichfalls aus einem wenn auch anderem Traum. Sie ist es nicht. Shakespeare (Sonnet 71) hat sie mit Recht als "this vile world" bezeichnet. Unsere Welt ist überall mit menschlichen Herdentieren bevölkert, mit entsetzlichen Wesen, die einander verfolgen, quälen und töten, um sich dann mit der Entschuldigung sie hätten es nicht so gemeint, sie hätten es nicht aus eigenem Antrieb sondern nur als Soldaten, auf Befehl, als Herdenmitglieder getan, den Sündenerlass erwerben. Ist es mir im Kielwasser dieser leidenschaftlichen Ausbrüche noch erlaubt Ihnen und Ihrer Frau meine Wünsche für zufriedene und gesunde Herbst- und Wintertage zu übersenden? Jochen Meyer