Am 15. September 2010 Lieber Herr Kollege Busch, Vielen Dank für Ihren Brief. Nachdem ich Ihnen am Anfang unseres Briefwechsels, die ersten Belege über die Auswanderung meiner Familie mitgeteilt hatte, erklärten Sie das Übermaß von Einzelheiten mit dem ich Sie überschüttete wäre unvereinbar mit ihrem Vorhaben die Geschichte nicht nur meiner, sondern der gesamten Rosenthal Familie zu erzählen. Sie hatten recht, und ich habe es unterlassen, Sie mit weiteren Einzelheiten über mich, über meine Vergangenheit, und über meine Gegenwart zu belästigen, und würde es auch jetzt nicht tun, wenn nicht Ihre Erklärung Sie möchten Boston besuchen, bei mir den Wunsch ausgelöst hätte, Ihnen (und gegebenfalls Ihrer Frau - denn Sie wissen, "Wer in die Fremde will wandern, der muss mit der Liebsten gehn,") einen solchen Besuch so angenehm, so erfreulich, und für Sie so billig wie möglich einzurichten. Sie wissen dass ich 88 Jahre alt bin. Die einschlägigen weiteren Tatsachen über mich als vorstellbaren (oder unvorstellbaren) Gastgeber, auf die ich meine Sie hinweisen zu sollen, sind dass ich zu taub bin mich in Gesellschaft zu unterhalten. Mit dem einzelnen Gesprächspartner, der laut, langsam und deutlich spricht, vermag ich mich bis jetzt noch zu verständigen. Meine Wirbelsäule und meine Hüften sind in einem Maße verkrüppelt, dass es mir seit fünf Jahren unmöglich macht, die Schnürsenkel zu verknoten, und seit etwa zwei Jahren, mich zu bücken um das auf dem Fußboden verlorene aufzuheben. Zum Gehen bediene ich mich zweier Spazierstöcke oder eines mit Vorderrädern versehenen Gehbocks. Das Auf-und-absteigen von Treppen ist nur am Geländer möglich. Beim Autofahren bin ich sehr vorsichtig. Ich wohne einzeln, allein, in einem unverschämt geräumigen Hause, ohne jegliche Hilfe mit dem Haushalt. Wenn Sie bei "Google" nach "174 School Street, Belmont, Massachusetts" fragen, erhalten sie Abbildungen und Beschreibungen. Wenn Sie und Ihre Frau bei einem Besuch in Boston, in meinem Hause wohnen möchten, würde ich anbieten Sie am Flughafen in Empfang zu nehmen, würde Ihnen und Ihrer Frau Schlafzimmer, Badezimmer und Wohnzimmer, die Küche und die Waschküche, sowohl wie die Wandschränke mit sauberen Bettlaken, Kissenbezügen, Handtüchern und Waschlappen zeigen, wie auch Besen, Kehrblech, Handfeger und Staubsauger die Ihnen zur Verfügung stünden. Ich würde es versuchen, aber ohne ein diesbezügliches Versprechen zu wagen, das Haus für einen Besuch von Ihnen mit dem Beziehen von Betten, dem Austeilen von Handtüchern, mit Aufräumen, Staubwischen, und Staubsaugen vorzubereiten. Lebensmittel würde ich Ihren Vorschriften gemäß mit oder ohne Ihre Hilfe einkaufen. Das Kochen und Tischdecken überließe ich Ihnen. Ich gäbe Ihnen Hausschlüssel; Sie vermöchten nach Belieben kommen und gehen. Ein Spaziergang von etwa zehn Minuten brächte Sie zum Autobus der Sie halb-stündlich in einer halben Stunde zum Harvard Square in Cambridge fährt. Von dort sind Sie in 15 Minuten mit der Untergrundbahn in Boston. Ich hoffe sehr dass Sie mir die Nüchternheit meiner Einladung nicht übel nehmen. Von wesentlicher Bedeutung erscheint mir Ihre Feststellung: "Es gibt ja auch unter Ihren Verwandten einige wenige, die nichts berichtet bzw. mit Totalverweigerung und Ablehnung reagiert haben, so daß ich auch nichts über ihre Beweggründe erfahren konnte. Das kann man wohl nur verstehen, wenn man selbst von einem vergleichbaren, tiefen seelischen Schmerz betroffen wurde." Dabei handelt es sich um den Konflikt des einen Bedürfnisses, vielleicht der Notwendigkeit, das was inwendig, innerlich, subjektiv ist geheim zu halten, mit dem anderen Bedürfnis, wenn nicht der Notwendigkeit gerade dies, das heiligste Erleben mitzuteilen. Die Lösung dieses Konfliktes, wenn es überhaupt eine Lösung gibt, meine ich in der Kunst zu finden. Im Kunstwerk, sei es in Literatur, Musik oder Malerei, wird das (subjektive) Erleben des Künstlers zur gegenständlichen, objektiven Darstellung. Ich gebe zu, wenngleich es überheblich klingt, dass ich die Geschichten über meinen Vater, über meine Mutter, über meine Schwester, und nicht zu letzt über mich selber, die ich Ihnen habe zukommen lassen, als Dichtung betrachte. Ich bin mir bewusst, dass man gewöhnlich Dichtung und Wahrheit gegeneinander ausspielt; dass Dichtung ihres Wesens gemäß als "unwahr" bescholten wird, und dass, wie der logische Positivismus behauptet, die "Wahrheit" ein beweisbares mathematisches symbolisches Gefüge sein soll. Das glaube ich nicht. Meiner Erfahrung und meinem Erleben gemäß besteht der erforderliche Seelenschutz nicht in der Verheimlichung des Erlebens, sondern in dessen tatsächlicher Unerreichbarkeit. In der Gesellschaft treten wir auf als Personen; Ursprünglich aber, im Lateinischen bedeutet Persona, Maske, ein Schirm welches das Innere des Menschen verdeckt und schützt. Deshalb, obgleich ich sie als Bruchstücke einer großen Konfession verstehe, fühle ich mich durch meine Schriften nicht bedroht. Ein jeder Leser versteht was er liest nur im Rahmen seines eigenen Erlebens; er versteht nicht mich, sondern, wenn er Glück hat, lediglich sich selbst. Herzliche Grüße, ihr Jochen Meyer