am 17. September 2018 Lieber Herr Nielsen, "Ein schlankes Leben!" Es ist ein anregendes schlankes Gedicht von einer geschmeidigen Vergangenheit, das Sie mir zusandten, das mich beschäftigt und beschäftigen wird, und das mir reichlichen Anlass gibt Ihnen zu danken. Ihre Verse muten mich an wie ein Gewächs mit vielen viel versprechenden Knospen.Sollten die Knospen sich erschließen, erblühen und vielleicht sogar Früchte tragen, würde ich in den verschiedenen möglichen Variationen zu dem großen Thema des sich offenbarenden Ichs mit Hingebung und Interesse lesen. Auf einem meiner Regale stehen seit sechzig Jahren, aus Nachlässigkeit ungelesen, die mehreren Bände der Geschichte der Autobiographie mit denen Georg Misch die Bemühungen seines Schwiegervaters Wilhelm Dilthey um die Geisteswissenschaften befestigte. Ich schäme mich diese Geschichte der Autobiographie und die Urkunden auf die sie sich stützt, mir nicht angeeignet zu haben. Denn weil ein jeder von uns nur das eigene Ich zu kennen vermag, weil alle literarischen Ergüsse als Bekenntnisbruchstücke gedeutet werden müssen, und besonders weil die Bibel, "das Wort Gottes", als die Autobiographie des Göttlichen, wenn nicht gar als die Autobiographie des Gottes selbst gelesen zu werden verlangt, ließe es sich behaupten, dass die Wurzeln nicht nur des menschlichen, sondern auch des übermenschlichen Geistes in der Autobiographie zu suchen sind. Leichter gesagt ales getan. Vor etwa zwanzig Jahren belehrte mich mein literaturkundiger Jugendfreund Helmut Frielinghaus, berühmt als Lektor für Günter Grass, dass mein Erstlingsroman "Döhring" nicht zur Veröffentlichung tauchte, weil weder der Inhalt noch der Stil dem zeitgenössischen Leser annehmbar wären. Damals riet mir Helmut eine autographische Familiengeschichte zu verfassen, als ein Thema das die moderne Jugend interessieren würde. Ich vermochte Helmuts gutgemeintem Rat nicht zu folgen, denn es war unmöglich das unvermeidlich inwendige Erleben in pseudo-objektivem Zeitungsstil zu veräußern, zu veröffentlichen. Doch was mir unmöglich schien, das vermochten die Schüler und Schülerinnen der Nibelungenrealschule in Branschweig als sie die grundlegenden (und schließlich preisgekrönten) Legenden verfassten auf welche die städtischen Maurer dann in den Bürgersteig jene Stolpersteine betteten über die noch niemand gestolpert ist. Was mir unmöglich schien, das vermochte auch Dr. Reinhold Busch, der mich vielleicht demnächst in Belmont besuchen wird, in seinem Buch "Verstreut über alle fünf Kontinente", das die Geschichte der Nachkommen meines Urgroßvaters Jakob Rosenthal erzählt. Inwiefern, wenn überhaupt, die Niebelungenschüler und Dr. Busch Geschichten erzählen die mich, die "mein Ich" betreffen, soll dahingestellt bleiben. Bei weitem brenzlicher für mich ist die Frage, ob es nicht ungehörig, ob es nicht unanständig ist, wenn ich Romane, Gedichte, Aufsätze und Briefe veröffentliche in denen ich bekenne, wer ich bin. Dabei handelt es sich um den Konflikt zwischen zwei widerstreitenden Bedürfnissen. Einerseits gehört es sich, das was inwendig, innerlich, subjektiv ist, geheim zu halten. Andererseits besteht ein Bedürfnis, wenn nicht gar die Notwendigkeit gerade dies, das heiligste Erleben mitzuteilen. Die Lösung dieses Konfliktes, wenn es überhaupt eine Lösung gibt, meine ich in der Kunst zu finden. Im Kunstwerk, sei es in Literatur, Musik oder Malerei, wird das (subjektive) Erleben des Künstlers zur gegenständlichen, objektiven Darstellung. Ich gebe zu, wenngleich es überheblich klingt, dass ich die Geschichten über meinen Vater, über meine Mutter, über meine Schwester, und nicht zu letzt über mich selber, die ich den Niebelungenschülern und Dr. Busch habe zukommen lassen, als Dichtung betrachte. Ich bin mir bewusst, dass man gewöhnlich Dichtung und Wahrheit gegeneinander ausspielt; dass Dichtung ihrem Wesen gemäß als "unwahr" bescholten wird, und dass, wie der logische Positivismus behauptet, die "Wahrheit" ein beweisbares mathematisches symbolisches Gefüge sein soll. Das glaube ich nicht. Meiner Erfahrung und meinem Erleben gemäß besteht der erforderliche Seelenschutz nicht in der Verheimlichung des Erlebens, sondern in dessen tatsächlicher Unerreichbarkeit. In der Gesellschaft treten wir auf als Personen. Ursprünglich, im Lateinischen, bedeutet Persona, Maske, ein Schirm welcher statt das Innere des Menschen zu offenbaren, dieses verdeckt und schützt. Deshalb, obgleich ich sie als Bruchstücke einer großen Konfession verstehe, fühle ich mich durch meine Schriften nicht bedroht. Ein jeder Leser versteht was er liest nur im Rahmen seines eigenen Erlebens; er versteht nicht mich, sondern, wenn er Glück hat, lediglich sich selbst. Somit meinen Dank für Ihren zweiten Brief mit dem autobiographischen Gedicht. Ihr erster Brief erheischt seine eigene Antwort; die wird folgen. Inzwischen herzliche Grüße an Sie und Ihre Frau. Jochen Meyer