am 18. September 2018 Lieber Herr Nielsen, Dieser zweite Brief ist nun Antwort auf Ihren ersten. Zuvörderst meine Anerkennung Ihrer feinfühligen Bemerkungen über Nathaniels Flucht aus dem Seelengefängnis des Großvaters. Dass meine Leidenschaftlichkeit den Menschen - auch Familienmitgliedern - zum Ärgernis werden möchte, hab ich im Verlauf des langen Lebens verschiedentlich erfahren, so dass es mich weder überrascht noch betrübt und Gefühle meinerseits nicht beeinträchtigt, wenn das was ich als Liebe anpreise, weder anerkannt noch erwidert wird. Soeben hab ich versucht mittels des Internets meine Kenntnisse vom Manichäismus zu erweitern und zu vertiefen, wohl mit allzu bescheidenem Erfolg. Muss also versuchen meine Einsichten und Ansichten mit eigenen Worten zu schildern. Auffällig und verdächtig ist mir der Theologen unlöschbarer Durst nach einem gnädigen Gott, nach einem heiligen erbarmungsvollen Schöpfer und Erhalter der Welt, der laut des berühmtesten Dichters des Mittelalters, aus Gerechtigkeit, aus Liebe und Erbarmen die Hölle erfindet und überwacht. Auffällig ist's mir dass wir unsere Gesellschaft, so wie auch uns selber, grundsätzlich in der Sicht einer phantasierten Vollkommenheit betrachten, um dann das Abfallen vom Zustand vermeintlicher persönlicher Gesundheit als krank, um dann das Abfallen vom Zustand vermeintlicher politischer Tugend als schlecht, zu beklagen und zu verurteilen. Warum nicht das Gegenteil? Warum weigern wir uns die immer und immer wiederkehrenden Zeugnisse der Geschichte von unserer Brutalität als Einzelne und als Gesellschaft, zu beglaubigen? Warum sollten nicht die Kriege, die Zerstörungen, die Sklaverei, die Gefängnisse, die Folterkammern, die Verfolgungen, die Konzentrationslager, die Vernichtungslager, die Völkermorde, die Hinrichtungen, als das normale, als das maßgebende Betragen der Gesellschaft erkannt werden, und das Jagen, das Töten, die Verfolgung des beliebigen nächsten Tieres nicht weniger als des beliebigen nächsten Menschen das naturgegebene Verhältnis des einzelnen Menschen zum anderen Lebewesen, zu allem Lebendigen? Rilke scheint ähnliches geahnt zu haben, als er schrieb: XI Manche, des Todes, entstand ruhig geordnete Regel, weiterbezwingender Mensch, seit du im Jagen beharrst; mehr doch als Falle und Netz, weiß ich dich, Streifen von Segel, den man hinuntergehängt in den höhligen Karst. Leise ließ man dich ein, als wärst du ein Zeichen, Frieden zu feiern. Doch dann: rang dich am Rande der Knecht, - und, aus den Höhlen, die Nacht warf eine Handvoll von bleichen taumelnden Tauben ins Licht ... Aber auch das ist im Recht. Fern von dem Schauenden sei jeglicher Hauch des Bedauerns, nicht nur vom Jäger allein, der, was sich zeitig erweist, wachsam und handelnd vollzieht. Töten ist eine Gestalt unseres wandernden Trauerns... Rein ist im heiteren Geist, was an uns selber geschieht. Sonette an Orpheus Vielleicht sind der Frieden zwischen den Völkern, die Nächstenliebe zwischen den Einzelnen, nichts mehr oder weniger als Darbietungen von Überlebensinstinkten wirksam den Fortbestand der Menschheit allenfalls für eine beschränkte Zeit zu gewähren. Ist dies nicht der einzige Gesichtspunkt von dem die Geschichte der Vergangenheit und die Gescichte der Gegenwart verständlich und erträglich werden? Darf ein Christ die Kreuzigung als Ausnahme betrachten? Ich stelle nur Fragen. Um Antworten bitte ich Sie. Mein Loblied auf Stefan Georges Sonettendichtung möchte ich zurückstellen, nicht weil ich heute diese Dichtungen weniger bemerkenswert als gestern betrachte, sondern weil ich zu unwissend bin mir ein Urteil über sie zu erlauben. Georges ungemeine Behendigkeit mit dem Wort möchte auch als Schirm vor dem Zwang der Leidenschaft gedeutet werden, im Vergleich mit Rilkes Elegien und Sonetten, wo die Versform zerbricht weil sie der Leidenschaft und dem Leiden nicht standzuhalten vermag. Aber auch dies ist ein Urteil das ich mir nicht erlauben will. Sie haben recht, wenn sie die Abgeschiedenheit und die Einsamkeit des Alltags mit geistiger Ergiebigkeit verknüpfen. Des unbedingten Verlangens des ausgesprochenen Wortes gehört, und des geschriebenen Wortes gelesen zu werden, bin ich Schwafeler mir eindringlich bewusst. Das Verhältnis meiner selbst zu der mir so fremden Gesellschaft der ich dennoch meine körperliche und geistige Existenz, meine Gedanken und meine Sprache, schuldig bin, ist mir ein Labyrinth aus dem keinen Ausweg finden kann, es sei denn das Dichten. Ihnen mein Dank für Ihr Verstehen, und Ihnen beiden herzliche Herbstgrüße. Jochen Meyer