Lieber Jürgen, Dank für Deinen Brief. Ich denke oft an Dich und hoffe sehr dass Du gesund und zufrieden bist. Aber ich weiß, wie schwer das Leben zuweilen zu sein vermag, und meine zu verstehen: es für Dich weder leicht noch einfach. Du erwähnst eine Selma als Schwester meines Großvaters Joe(l) Meyer. Mein Vater hat mir von seiner Familie nur vom Temperament seines eigenen Vaters berichtet, und auch dies nur beiläufig. Ich besinne mich auf Erwähnungen von Onkel Max und Tante Dora. Von anderen Onkeln oder Tanten väterlicherseits, kein Wort; mütterlicherseits, nur Tante Toni. In der Aufzeichnung der von den Nazis ermordeten Mitglieder der Rosenthal Familie erwähnt Reinhold Busch nur zwei andere Frauen mit dem Vornamen Selma: Selma Rosenthal geb. Kaufmann, geb. 1.1.1880 in Moers, und Selma Schönenberg geb. Rosenthal, geb. 13.5.1898 in Annen. Über die Familie meines Urgroßvaters Isaac Meyer besitze ich lediglich das als Anhang beigefügte Blatt, Seite 10, eines 1903 von Hermann Herzberg verfassten Stammbaums der Nachkommen von Heine Herz, zu denen auch mein Großvater Joe(l) Meyer gehörte. (Wenn ich recht besinne, hab ich Dir eine Kopie dieses Stammbaums vor fünf Jahren übersandt.) Darin ist unter Joe(l)s Geschwistern keine "Selma" aufgezählt. Denkbarerweise war sie ein uneheliches Kind. Du fragst nach meinen Besuchen in Oerlinghausen. Vor 1939, mögen es zwei oder drei (vielleicht auch mehrere) Fahrten gewesen sein, die in meinem Gedächtnis zu einer einzigen Reise zusammengeschmolzen sind von der ich Dir alles was ich erinnere in meinem kleinen Aufsatz berichtet habe. Nach 1945 bin ich nur einmal nach Oerlinghausen gefahren. Das war im Juni 1984, mit meiner Frau und meinem damals 17 Jahre alten Sohn. Wenn ich mich recht besinne, hatten wir in der Schleinitzstraße in Braunschweig in einem gemieteten Zimmer in einer Privatwohnung einige wenige Tage übernachtet, waren von dort nach Hildesheim gefahren, zu einer nach Zertrümmerung wunderbar wiederhergestellten Kirche, von da aus über Hameln nach Oerlinghausen, wo wir den Wagen auf der Hauptstraße abstellten, und zu Fuß den Weg den Tönsberg hinan zum jüdischen Friedhof machten, in den wir, weil er verschlossen war, über die Mauer stiegen. Auf dem Rückweg machten wir an dem am Sonntag geschlossenen alten Synagogen-Kunstverein an der Tönsbergstraße Pause, und gingen, mit einem nur flüchtigen Blick auf das Geburtshaus meines Vaters, Detmolderstraße 1, zu unserm Auto zurück, mit dem wir dann, ohne zu verzögern über Paderborn südwärts fuhren. Genau wohin, weiß ich nicht mehr; wenn ich zu raten hätte, würde ich antworten: nach Heidelberg. Ich schätze Reinhold Busch als einen wohlwollenden entsetzten Zeugen des nationalsozialistischen Unheils der ein Bedürfnis empfindet die Schicksale der jüdischen Opfer zu beschreiben und nachzuempfinden. Es bedarf aber nur eines Vergleichs der Aussagen die er mir zuschreibt mit dem Text den ich ihm (und Dir) übersandte, die Ahnung zu stiften dass es mir nicht gelungen ist ihm meine Meinungen und mein Erleben mitzuteilen. Das wäre ein weiterer Grund weshalb Du nicht scheuen solltest Dich meines kleinen Aufsatzes in Deiner eigenen Weise zu bedienen. Ein Brief von Dir ist stets eine Freude. Ich sende Dir meine herzlichen Herbstgrüße und guten Wünsche. Dein Jochen