Heute Morgen erscheint mir Sigmund Freud als der Anti-Platon unserer Geistesgeschichte, der Ausbund der Naturwissenschaftlichkeit. Denn während Platon den Eros Ursprung des geistigen Schaffens erkennt, bezeichnet Freud alles geistige Schaffen als Spiegelei einer verdrängten Libido. Beide Platon und Freud sind Dichter. Für Platon wird Dichtung zu intellektueller Hagiographie, zu Lob, Preis und Bezeichnung des heiligen fast unbeschreibbaren Ideals. Für Freud wird Dichtung zu intellektueller Pornographie, zu wissenschaftlicher, seelisch unbeteiligter Erzählung und Zergliederung des Allermenschlichsten, ein Voyerismus der dem Anstand des frommen Menschen zuwider ist. Die Bemühungen von Platon und Freud aber sind einander ähnlich, insofern die Behauptungen beider, des einen wie des anderen, nicht wissenschaftiche Entdeckungen, sondern künstlerische, dichterische Erfindungen sind. Inzwischen ist es Nachmittag, nein, es ist Abend geworden, und ich habe den größten Teil des Tages mit Nachdenken über die ungeahnt weite und tiefe Rolle des Dichtens im Geistesleben verbracht. In diesem Sinne deute ich auch Hannah Arendts Origins of Totalitarianism, auf Deutsch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Was Hannah schreibt ist nicht Philosophie, kein Ansatz zur Ergründung des Menschenwesens. Stattdessen eine dreiteilige journalistische Beschreibung historischer Phänomene, welche sie in Bezug auf ihren eigenen Lebenslauf, in Bezug auf ihre Flucht aus Nazideutschland. Es ist als Geschichte die Hannah erzählt; und ihren Erzählungen ist zu entnehmen, dass sie sich mit den Geschichten worüber sie schreibt, lange und eindringlich beschäftigt hat, dass diese Geschichten eine Verwandlung, einen Abdruck in Hannas Gemüt hinterlassen haben. Was sie in ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft beschreibt ist nicht die vergangene Wirklichkeit, sondern die Verwandlung in Hannas Geist welche die vielen Schriften über diese Vergangenheit ausgelöst haben. Der Unterschied ist von großer Bedeutung zugleich für das Verstehen von der Vergangenheit und für das Verstehen von Hannah. Die "reine Philosophie", wenn ich eine solche Vorstellung wagen darf, beschäftigt sich lediglich mit dem Göttlichen und/oder mit dem Innenleben meiner selbst, was das gleiche ist. Die schriftliche Beschreibung erzählt von einer potentiell gemeinsamen Außenwelt, deren Gemeinsamkeit und Gesellschaftlichkeit ich als das Merkmal der Objektivität erkenne. Alle Geistigkeit ist ein Pendeln, ein Unterhandeln zwischen der Gesellschaft und dem Ich. Dies ist der Fall wie wertvoll oder wie verwerflich die Verhandlungsteilnehmer auch sein mögen. In dieser Perspektive, in dieser Hinsicht sind das Sprechen und das Verstehen, das Schreiben und das Lesen die eigentlichen Bewegungen, die ursprünglichen Handlungen, des Geistes.