Am 9. Oktober 2018 Mein liebes gutes Kind, Es ist schon 11 Uhr 18 am Morgen, und ich befinde mich - oder sollte ich schreiben, mein Gemüt befindet sich, durcheinander. Das kommt davon, dass ich es mehrere Tage lang unterlassen habe Dir zu schreiben. Ich komme mir vor wie ein Schiffer der verloren geht, weil wesenlose Mühen ihm den Blick zu den Sternen, vor allem zu seinem Leit- und Lieblingsstern verschleiert haben, so dass, eh er es gewahrt, er nicht mehr weiß wo er ist. Der Gedanke an Dich ist mein Faden aus dem Labyrinth des entsetzlichen Lebens, ist mir der zuverlässigste Weg zurück zu dem der ich wirklich bin, oder genauer, zu dem der ich wirklich zu sein meine. Denn wie vermöchte ich behaupten zu wissen wer ich wirklich bin? Zugegeben, ich hab mich ablenken lassen. Am Freitag den 5. Oktober, um 2 Uhr 30, holte ich Klemens ab von seinem Büro, - eine Praxis ist es leider nicht zu nennen, - wir fuhren zusammen nach Hyannis, über den Sund nach Nantucket, dann mit einer Taxe nach Madaket zu unserem Haus, 3 Red Barn Road, wo Klemens die letzten Niederspannungskabel einzubauen gedachte, und mit dieser Anlage wurde er auch fertig; aber zum Aufräumen, Fegen, Staubwischen und vor allem zum Abliefern des Schutts an der Deponie, die Patricia Loring "the Madaket Mall" nannte, war keine Zeit, denn Laura bestand auf eine Herbstwanderung am 7. Oktober nach Mount Kearsarge. Du besinnst Dich wie oft wir in den Jahren nach unserm Umzug aus Damascus dorthin gefahren - dort hin geflohen - sind, mit dem Auto zum Parkplatz unmittelbar am felsigen Gipfel mit dem hohen Feuerwachturm. Vorgestern aber sind Klemens, Laura und Leah, mit einiger Mühe aber ohne Verletzung, den steilen steinigen Pfad an der Nordseite auf und abgestiegen. Indessen hatte ich am Freitag Abend auf Nantucket, noch nicht zum staubigen Zubettgehen bereit, die Gelegenheit wahrgenommen sämtliche 17 Bände der Schriften Sigmund Freuds kostenlos vom Internet abzurufen, um mich nun schließlich doch mit diesen erstaunlichen Beiträgen zum zeitgenössischen Geistesleben vertraut zu machen. Ich betrachte sie als einen wissenschaftlichen Versuch die Pornographie stubenrein, gesellschaftsfähig vorzustellen, und sie in einem Lessingschen Sinne zu retten. Mittels einer veralteten Youtube Besprechung (interview) aus dem Jahr 1965 mit Günter Gaus, worauf Klemens mich aufmerksam gemacht hatte, hab ich Hannah Arendt ein wenig kennen gelernt. Hab auch in ihrem "Origins of Totalitarianism" gelesen, und bin besonders beeindruckt von Hannahs kluger Betrachtung: Legends have always played a powerful role in the making of history. Man, who has not been granted the gift of undoing, who is always an un- consulted heir of other men's deeds, and who is always burdened with a responsibility that appears to be the consequence of an unending chain of events rather than conscious acts, demands an explanation and interpretation of the past in which the mysterious key to his future destiny seems to be concealed. Legends were the spiritual foundations of every ancient city, empire, people, promising safe guidance through the limitless spaces of the future. Without ever relating facts reliably, yet always expressing their true significance, they offered a truth beyond realities, a remembrance beyond memories. Legendary explanations of history always served as belated corrections of facts and real events, which were needed precisely because history itself would hold man responsible for deeds he had not done and for consequences that he had never foreseen. The truth of ancient legends, — what gives them their fascinating actuality many centuries after the cities and empires and peoples they served have crumbled to dust - was nothing but the form in which past events were made to fit the human condition in general and political aspirations in particular. Only in the frankly invented tale about events did man consent to assume his responsibility for them, and to con- sider past events his past. Legends made him master of what he had not done, and capable of dealing with what he could not undo. In this sense, legends are not only among the first memories of mankind, but actually the true beginning of human history. De nobis fabula narrabitur. Nicht nur "the true beginning of human history" sondern nicht weniger "the present accounts of human history". Denn vornehmlich und vielleicht ausschließlich als Legenden sind auch Hannah's einfühlende, nachvollziehende, nachempfindende Beschreibungen des Antisemitismus, des Imperialismus, und des Nationalsozialismus zu verstehen. Es gilt zu begreifen dass es, bei all ihrer Intelligenz, bei aller Feinfühligkeit, auch Hannah unmöglich ist die Wirklichkeiten auf welche sie hinweist zu erreichen, zu begreifen, und zu erschöpfen, so dass auch für Hannah, wie für uns anderen, die entsetzliche(n) Geschichte(n) die wir einander vom Tun unserer Vorfahren, unserer Bekannten, und unserer Verwandten, von unseren Volks- und Menschheitsgenossen erzählen, als verharmlosende Schleier wirken, die uns vor der Einsicht schützen dass wir alle es selber sind, die solches verbrochen haben, und schlimmer noch, fortfahren solches zu verbrechen; weshalb der Albert des Siebten Kapitels meines Döhringromans die Uniform des SS Sturmbannführers nicht ablegen wollte, um die Erinnerung wachzuhalten "dass auch ich ein solcher hätte sein können." Das Schlusswort und Schlüsselwort für die Geschichte des Menschseins ist und bleibt "entsetzlich", und Shakespeares Edgar im King Lear macht, unter dem Strich, die einzig mögliche Abrechnung mit der Geschichte: The worst is not, when we can say, This is the worst. In dieser Perspektive lese ich auch Hannahs Buch "The Human Condition". Schon die Unübersetzbarkeit ins Deutsche der Überschrift besagt die Gebundenheit des Geistes an die Sprache. Denn was Hannah bezweckt ist nicht auf den Zustand der Menschheit, sondern auf das Schicksal der Menschheit hinzuweisen. Aber ein Buch über "the fate of mankind" würde auf der US-amerikanischen Gedankenmesse als dumm und geschmacklos abgelehnt werden. Dabei meine ich schon den ersten Seiten zu entnehmen, dass Hannah, die sich in der Besprechung mit Günter Gaus zur deutschen als ihrer Muttersprache bekennt, the Human Condition in Worten schildert die ihr fremd geblieben sind und deren tieferen Sinn sie nicht völlig begreift, wie etwa wie sie zwischen labor (unvergesslich auch Kreißen), work (also of art) und action (the agent's acting) unterscheidet. Auf Deutsch spricht man von arbeiten, mühen, schaffen, wirken, handeln. Wäre es möglich das alles zu übersetzen? Vielleicht ist meine Kritik ein Unrecht und ein Versuch mich selbst zu brüsten. Auf jeden Fall, wenn ich ihr Buch zuende gelesen habe, oder weil ich es nicht zuende gelesen habe, werde ich mich bei Hannah entschuldigen müssen. Einschlägiger und triftiger aber noch, scheint mir die Betrachtung, dass ich selber kein Buch über die ganze Menschheit, about the Human Condition, verfassen könnte, sondern immer nur, und über nichts weiter als, Bruchstücke von Bekenntnissen über den einzelnen Menschen, über mein eigenes Schicksal, und über den Narzisten der ich nun einmal selber bin.