Lieber Herr Nielsen, Am kommenden Sonntag werden seit den Tod meiner Frau drei Jahre vergangen sein, und von Zeit zu Zeit befällt mich die Würfelfrage wie lange es mit mir noch weiter gehen sollte. Die herkömmliche Zuflucht zu ärztlicher Beratung lässt zu wünschen übrig. Ob sie, unter dem Strich, das Leben verlängert oder verkürzt ließe sich nur statistisch berechnen; muss aber im Einzelfalle unbestimmt bleiben; dass sie aber sehr oft, wenn auch nicht immer, dem alten sterbenden Patienten die wenigen ihm noch übrigen Lebenstage verdirbt, scheint mir unverkennbar. Im Alter erleichtert das abnehmende Erinnerungsvermögen die Geduld. Stunden, Tage, Wochen, Monate eilen im Fluge an ein Ende das zwar jeden Tag voraus zu sehen ist, und doch niemals voraus erlebt werden kann. Im Verlauf Jahre hab ich so viel geschrieben, dass es jetzt, am Ende an Zeit ermangelt es auch nur flüchtig zu überlesen. Es ist denkbar, wenn nicht wahrscheinlich, dass ich mich zunehmend wiederhole. Auch das Wiederholen, so scheint es mir, ist eine unentrinnbare Alterserscheinung. Mir ist als zöge sich mein Denken zunehmend zusammen, auf immer mehr beschränktes Gebiet, bis zuletzt, darf ich es sagen? - auf einen toten Punkt. Wenn ich mir heute am regnerischen Spätnachmittag die abschließende Forderung stelle, in ein paar Sätzen den Ort zu bezeichnen wohin der Geist mich geführt hat, eh er mich im Stich ließ, die Stelle also wo der Geist mich hat sitzen lassen, so flüstere ich als einziges, das Wort "Dialektik". Am Anfang die platonischen Dialoge, welche ich lebenslang daraufhin gedeutet habe, dass "Wahrheit" jegliche apodiktische Bestimmung verschmäht, weil sie jenseits der Sprache waltet, wo es keine Apodiktik gibt; dass aber der Widerspruch des Zwiegesprächs unter Umständen ein Weiser sein möchte, der auf den sonst unerreichbaren Ort der Wahrheit hinzeigt. Ich zähle sie auf: Die epistemische Dialektik: Idealisierung und Entidealisierung. Die ontische Dialektik: Innen und Außen. Die psychische Dialektik: Subjektivität und Objektivität. Die ethische Dialektik: Gewissen der Seele und Zwang der Herde, aber sie alle hier zu erläutern hieße eine neue Gedankenspirale einzufädeln, und dazu sind der Abend, die Nacht, und vielleicht das Leben, zu kurz. Das alles sind dialektische Thesen und Antithesen die ich seit Jahren bebrütet habe, ohne dass es jemals einem meiner Gedankenküken gelungen ist die Eierschale zu durchbrechen. (Bekanntlich entwickeln unfruchtbare faule Eier mit der Zeit einen Ausguss von sehr übelriechendem Schwefelwasserstoff, ein Gift das in starker Verdichtung tödlich wirkt, und dadurch besonders gefährlich, weil ein leichter Dunst die Nasenschleimhaut betäubt und gegen stärkere Vergiftung unempfindlich macht.) Trotzdem, wenn nicht gar deshalb, wage ich eine weitere umfassende Dialektik vorzuschlagen, eine Dialektik höheren Ranges die vielleicht als Metadialektik bezeichnet werden sollte, wo eine der doppelten Waagschalen mit allen vier dialektischen Widersprüchen, dem epistemischen, dem ontischen, dem psychischen und dem ethischen Widerspruch belastet wird, indessen die andere der doppelten Waagschalen mit nichts als gesundem nüchternem Menschenverstand befrachtet ist, ein Verstand der behauptet dass es dem Menschen möglich ist vom Denken befreit, gedankenlos zu gedeihen und, zum Beispiel, Staatspräsident zu werden. Das sind keineswegs neue Erwägungen. Man möchte der Vergangenheit zu Ehren, die eine, die Dialektikschale, die Tonio-Kröger-Schale heißen, die andere, geistfreie, die Hans-Hansen-Schale. Lieber Herr Nielsen, entschuldigen Sie bitte die Unverschämtheit, und erlauben Sie mir eine letzte weitere abschließende unwissenschaftliche Dialektik vorzuschlagen. Die Metadialektik welche ich soeben beschrieb, weist - natürlich dialektisch, - in zwei verschiedene Richtungen. Sie weist einerseits in die Hans-Hansen- Richtung, denn Hans Hansen empfindet und verurteilt sie als Quatsch, womit er keine weitere Minute seines Lebens vergeuden will. In Hans Hansens Gemüt käme das Denken endlich zur Ruhe und fände die Dialektik schließlich ihr Grab. Die Metadialektik weist aber andererseits in die Tonio-Kröger-Richtung und würde, wenn nur wegen Tonios Liebe zu Hans, eine neue Dialektik noch höheren Ranges, - nennen wir sie die Metametadialektik - stiften. Und diese Dialetik dritten Ranges, würde zur Dialektik vierten Ranges den Ausschlag geben, und so immer weiter. Sie bedeutete einen Anfang ohne Ende. Damit wäre das ewige Gespräch zwischen den Freunden - oder Liebhabern - gewährleistet. Erinnert mich an das Kirchenlied von dem Kierkegaard bestimmte dass es auf seinen Grabstein graviert würde: Det er en liden Tid, saa har jeg vunden, saa er den ganske Strid med eet forsvunden, saa kan jeg hvile mig i Rosensale og uafladelig min Jesum tale Die poetische, nicht wortgetreue, Umdichtung lautet: Nur eine kleine Zeit dann ist's gewonnen dann ist der ganze Streit in Nichts zerronnen Dann kann ich ruhen mich an Lebensbächen und ewiglich mit Jesus sprechen Die Metadialektik die ich beschrieb würde somit, im Kröger-Gemüt die Ausgangsstelle für sich ewig erneuerndes sprachliches Verhandeln; und worauf sonst, sollte es unsereinem ankommen? Herzliche Herbstgrüße Ihnen beiden. Jochen Meyer