Date: Mon, 18 Dec 2017 11:03:02 -0500 From: Ernst Meyer To: Bernd Strangfeld Subject: am 18. Dezember 2017 Liebe Gertraud, vielen herzlichen Dank für Deinen Brief, und selbstverständlich für Deine Kenntnisnahme and besonders für Deine Kritik meiner stümmelhaften Poeterei. Das Gedicht das ich Dir sandte lautete: Wahrlich Wie bös' wir Menschen sind ist nicht zu fassen. Wir uns verachten und einander hassen. Denn Nächstenliebe ist ein eitler Traum, verschmückend Marzipan am Weihnachtsbaum. Bei dem Versuch die Lebenswelt zu richten, wir tugendhafte Ethik uns erdichten. Mit grauenhafter Strafe gehn wir um wie mit erlösendem Viatikum. Der Eintritt in das paradiessche Leben erkauft der Schmerz den wir den Tieren geben. Wir unterscheiden zwischen Mensch und Tier, uns Leiden zu ersparen: nur nicht wir! All unsre Geistigkeit ist ein Betrügen womit wir uns und unsren Gott belügen. Deine etwas kryptische Kritik: "Ich möchte dazu nur eine technische Bemerkung machen, die Wortstellung in der 2. Zeile des ersten Gedichtes betreffend: Solche Umstellung bleibt im literarisch gestimmten Halse stecken. Du bist doch gewandt genug, um dafür andere Lösungen zu finden, denke ich mir. Ähnlich in der 2. Zeile der 2. Strophe desselben Textes." deute ich darauf hin, dass Du an der Zeile: "Wir uns verachten und einander hassen." die Umstellung der Worte "uns verachten", beanstandest, nicht aber die Umstellung der Worte "einander hassen." - oder doch? und dass Du gleichfalls statt der Zeile: "wir tugendhafte Ethik uns erdichten." so etwas lesen möchtest wie: "wir erdichten uns tugendhafte Ethik." Dir zuliebe hab ich das Gedicht umgeschrieben. Jetzt lautet es: Wahrlich Wie bös' wir Menschen sind ist nicht zu fassen. Verächtlich wir, die wir einander hassen. Denn Nächstenliebe ist ein eitler Traum, schmückt wie das Marzipan den Weihnachtsbaum. Bei dem Versuch die Lebenswelt zu richten, Gelobte Tugend, Ethik, wir erdichten. Mit grauenhafter Strafe gehn wir um wie mit erlösendem Viatikum. Den Eintritt in das paradiessche Leben erkauft der Schmerz den wir den Tieren geben. Wir unterscheiden zwischen Mensch und Tier, uns Leiden zu ersparen: nur nicht wir! All unsre Geistigkeit ist ein Betrügen womit wir uns und unsren Gott belügen. Findest Du das besser? Indem ich's überlese, fällt mir auf, dass mir's (oder sollte ich schreiben, um die Verstellung zu vermeiden, "dass es mir") nicht gelungen ist die Inversionen zu berichtigen, denn jede der Zeilen: "Gelobte Tugend, Ethik, wir erdichten. Mit grauenhafter Strafe gehn wir um" enthält ja auch eine Umstellung der Worte. Darf "ich mich entschuldigen" sollte es heißen "ich entschuldige mich"? Liebe Gertraud, darf ich schreiben: "Die Botschaft hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube," oder muss ich in einem andren Versmaß schreiben: "Ich höre die Botschaft, aber der Glaube fehlt mir."? Bin keineswegs gesonnen die eigenen elenden dichterischen Anmaßungen in Schutz zu nehmen. Es ist die Ehre der für Wortspiegelungen so empfänglichen Muttersprache die mir am Herzen liegt, und für die ich gewillt bin mich lächerlich zu machen und meine Leserin zu verärgern. Die wenigen besonnenen - oder sollte es heißen besonnten Stunden die mir übrig bleiben verbringe ich mit Schreiben das im Internet der ganzen Welt zugänglich ist. Dass es von keinem gelesen wird hat mein vollstes Verständnis. Denn man liest um sich in eine gemeinschaftliche Geistigkeit einzugliedern, um die ich mich nie gekümmert habe, und heute wäre es viel zu spät damit anzufangen. Das Nantucket Fiasko fährt fort sich zu entwickeln, und in einer Verworrenheit der literarisch gerecht zu werden, jedenfalls an diesem kalten Wintermorgen über meine Kräfte geht. Deshalb Schluss, bis auf die herzlichsten Weihnachtsgrüße und Neujahrswünsche an Euch beide. Jochen * * * * * * am 28. Januar 2018 Liebe Gertraud, Dein Brief hat mir umso mehr Freude gemacht als ich ihn mit schlechtem Gewissen empfing, und mit der Besorgnis, dass er vielleicht überhaupt nie eintreffen würde, weil die Lehrerin nicht weiterhin geneigt war sich bei dem Widerreden des aufsätzigen Schülers aufzuhalten. Dank also für Deine Nachsicht und Geduld. Am 2.Januar, schließlich, ist Nathaniel in das Schlafzimmer im Erdgeschoss des Anbaus eingezogen, so dass ich zum ersten Mal seit Margarets Tod nicht mehr allein in diesem übergroßen Gebäude hause. In der Folge jedoch mit nur geringem Unterschied,denn wie die Bewohner jedes anderen gesitteten Fremdenheims begegnen wir einander mit ausgesuchter Höflichkeit, aber wenig mehr. In den vier kurzen Wochen die seit seiner Ankunft vergangen sind, haben wir genau eine gemeinsame Mahlzeit genossen. Das ist nur sachliche Feststellung, keineswegs eine Klage, denn in den vergangenen zwei Jahren bin ich mit der Einsamkeit vor der ich mich als junger Mensch in erbärmlicher Weise ängstigte, so inniglich vertraut geworden, dass es mir nunmehr unmöglich ist sie zu entlassen. Das hohe Alter hat mich, nicht dass ich jemals den Versuch gemacht hätte ihm zu entfliehen, eingeholt, von selbst und ohne mein Mühen. Wahrscheinlich wiederhole ich mich mit dem Zitat von Hölderlin: Am Abendhimmel blühet ein Frühling auf; Unzählig blühn die Rosen und ruhig scheint Die goldne Welt; o dorthin nehmt mich Purpurne Wolken! und möge droben In Licht und Luft zerrinnen mir Lieb' und Leid! – Doch, wie verscheucht von törichter Bitte, flieht Der Zauber; dunkel wird's und einsam Unter dem Himmel, wie immer, bin ich – Komm du nun, sanfter Schlummer! zu viel begehrt Das Herz; doch endlich, Jugend! verglühst du ja, Du ruhelose, träumerische! Friedlich und heiter ist dann das Alter. Von Zeit zu Zeit überrascht mich Dankbarkeit, wie friedlich und heiter sich tatsächlich auch mein eigenes Alter ergeben hat. Ich staune über die Empfindsamkeit des Dichters der in noch jungen Jahren diese Weisheit auszusagen vermochte. Er hat recht! Der Arzt diagnostiziert senile Euphorie, eine Krankheitserscheinung außergewöhlich, insofern die den Befallenen beglückt statt ihn zu quälen. An diesem Höhepunkt der diesmal wahrheitsgetreuen Rhetorik, erlaube mir zu schließen mit den zugegeben etwas verspäteten Wünschen zu einem gesundenen und zufriedenen Neuen Jahr, Euch beiden. Jochen * * * * * * am 30. Januar 2018 Liebe Gertraud, Beim verspäteten Überlesen meines vorgestrigen Briefes, fällt mir auf neben dem verduselten Datum, ich schrieb an 28., nicht am 26., des Monats, auch das verballhornte Rechtschreiben (oder Falschschreiben, Orthographie oder Plagiagraphie) des Wortes "aufsässig" als "aufsätzig" womit ich meine Haltung der Lehrerin gegenüber bezeichnete. Ein Hinweis auf die Tatsache dass, in den Monaten nach meinem Ausscheiden im Spätherbst 1938 aus Herrn Hirsekorns Sechster Klasse, die Erweiterung und Bestätigung meiner deutschen Sprachkenntnisse nicht so sehr mittels des Lesens als infolge der endlosen Unterhaltungen und Auseinandersetzungen im vereinsamten Familienkreise in Konnarock geschahen. Die Fähigkeit deutsch zu schreiben verblasste mit beängstigender Geschwindigkeit. Ab und zu besinne ich mich auf Worte deren Rechtschreibung mich besonders verblüfften. Heute morgen ist's "übrigens", von dem ich erinnere, das es mir entsprechend der nach Virginia verpflanzten braunschweiger Mundart als "überrings" aus der Feder fließen wollte. In diesem Sinne ist meine heutige "Aufsätzigkeit" ein Echo aus meinem Konnarocker Deutschland. Der Neugier halber, forschte ich bei den amtlichen Erben von Jakob und Wilhelm Grimm und fand folgendes: aufsätzig, insidiosus, hostilis, aufsäszig: der teufel ist ufsetzig dem menschen. Keisersb. hell. lewe 21; du wirst ufsetzig sein irer fersenen. 16; ihr werdet mich euch ganz aufsetzig machen. Opitz Arg. 2, 407; und ob mir wol die, die mich hassen, aufsätzig hin und her aufpassen, so stärket mich doch deine gnad. Weckherlin 117; witzlos war der fürwitz, aufsätzig der fürsatz. 702; bis endlich das ganze dorf aufsätzig war und ihm in einer nacht der stadel bis auf den grund abgebrannt wurde. Jucundissimus 5; aufsätzig wurde. Hahn 4, 25; suche anderswo frauen, die du ihren männern aufsätzig machen kannst. J. E. Schlegel 2, 408. s. aufsetzig. aufsätzigkeit, f. repugnantia, hostilitas, animus infensus: das ward aufsätzigkeit gescholten und den lictoren befohlen ihn zu züchtigen. Niebuhr 2, 239. s. aufsetzigkeit. =================== Aus all diesem ergibt sich die Frage: Bezeugt ein Mensch mit der verfehlten Annahme, wo kein Fehler vorliegt, einen Fehler begangen zu haben, somit seine Dummheit oder seine Klugheit? Krasse Analogien aus den Bereichen der Ethik: Wird ein Mörder der "versehentlich" seinem vorgesehenen Opfer das Leben rettet, durch sein Versehen ein "guter" Mensch? Oder um vieles naheliegender: Sollte ein Arzt der seinen Patienten dem er das Leben zu retten versuchte, versehentlich umbringt, für sein Versehen bestraft werden? Darüber streiten die "Rechts"anwälte. Liebe Gertraud, hoffentlich ärgere ich Dich nicht mit meinen Spitzfindigkeiten. Das fortgeschrittene Alter, so schein es mir, verwandelt die Existenz in unvorhersehbaren Weisen. In meinem Leben nimmt das Denken - sagen wir das Geschwafel - je mehr die Hüften sich weigern, zunehmend die Oberhand. Ein Missstand wogegen ich keine Abhilfe weiß, als um Entschuldigung zu bitten. Herzliche Januargrüße an Euch beide. Jochen * * * * * * geschrieben am 31. Januar 2018 abgesandt am 6. Februar 2018 Liebe Gertraud, lieber Bernd, Bitte vergebt mir auch diese unmittelbare Fortsetzung meines Briefes. Was mich heute Morgen nach nur sechs Stunden Schlaf aus dem Bett verscheuchte war Goethes Weisheit: Ich sag es dir: ein Kerl, der spekuliert, Ist wie ein Tier, auf dürrer Heide Von einem bösen Geist im Kreis herum geführt, Und rings umher liegt schöne grüne Weide. Frage mich ob er es vielleicht drauf angelegt hatte seinen Freund Schiller, der doch so leidenschaftlich gern spekulierte, zu sticheln, oder ob dieser Text der Freundschaft mit Schiller vorausging. Jedenfalls geht es mir mit dem Denken wie mit dem Reden, es will nicht unterbrochen sein, und die Schwafelsucht scheint mit dem Alter, statt sich zu begeben, heftiger zu werden. Die Vergänglichkeit des Wortes, von den Wörterbuchforschern so unverkennbar belegt, wird dennoch vom Worte selbst unwiderlegbar bestritten. Das Wort will sein, das Wort will verbleiben, wenn nur der welcher es heute ausspricht derselbe zu sein wähnt der er gestern war. In diesem Sinne hat der Evangelist dem Pilatus die Worte zugeschrieben: Ὃ γέγραφα γέγραφα. Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben. So erklärte auch Luther: Das Wort sie sollen lassen stahn Und kein’ Dank dazu haben. Er ist bei uns wohl auf dem Plan Mit seinem Geist und Gaben. Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib, Laß fahren dahin. Sie haben’s kein Gewinn. Das Reich muß uns doch bleiben. Was hier zu betonen gilt, ist der Widerspruch zwischen der unleugbaren Vergänglichkeit des Wortes und des Wortes immanenten Anspruch auf Ewigkeit. Die Ewigkeit des Wortes ist die einzige Ewigkeit der auch nur ein Einziger von uns jemals begegnet. Dieser Widerspruch zwischen der Vergänglichkeit und der Ewigkeit des Wortes hat nicht nur theoretische Bedeutung. Es ist ein Widerspruch mit wesentlichen praktischen Wirkungen. Auf der kleineren Bühne, erscheint er als Dudentravestie, das zwangsmäßige Bestehen auf sprachliche Einförmigkeit welche dazu dient das Wort mit den Schimmern der Bestimmtheit und der Ewigkeit zu vergolden. Auf der großen Bühne der Weltgeschichte wütet die Sehnsucht nach Ewigkeit des Wortes als Patriotismus, als Vaterlandsliebe, Ausdruck des Bedürfnisses, der Notwendigkeit die Eindeutigkeit der Sprache zu bewahren. Dies Bedürfnis ist Ausdruck der geistig-seelischen Abhängigkeit die uns einzelne, einsame Menschen an einander, an unser Zusammensein, an unsere Gesellschaft bindet. In diesem inneren Zwang zum Herdenmenschsein, ein Zwang der sich auch in dem Rechtschreibungsfimmel des Dudens offenbart, meine ich jedenfalls eine Ursache unserer verzweifelten und entsetzlichen Vergehen gegeneinander zu erkennen. Ein jeder von uns legt großen Wert auf die Verlässlichkeit (und Ewigkeit) der eigenen Sprache und "Kultur". Die Bedrohung von allem "Fremden" das die unabänderliche Sprache und "Kultur" beeinträchtigen möchte, sehe ich die Wurzel des Fremdenhasses, der Verfolgungen und Verbannungen, der Gefängnisse und Konzentrationslager. Hab' versucht in Dantes Divina Commedia eine Antwort zu finden. Was hat Dante mit seinem Versuch die Hölle zu beschreiben angerichet? War Dantes Beschreibung ein Verstehen? eine Rechtfertigung? eine verkappte Theodizee? Hat Dante doch tatsächlich geschrieben, der Herrgott hätte die Hölle aus Liebe!!! angelegt. Auch die Konzentrationslager?? Giustizia mosse il mio alto fattore; fecemi la divina podestate, la somma sapïenza e 'l primo amore. Gerechtigkeit trieb meinen hohen Schöpfer, Geschaffen haben mich (die Hölle) die Allmacht Gottes, Die höchste Weisheit und die erste Liebe Ich fühle mich von der Brutalität des Inferno überwältigt. In den seither vergangenen 700 Jahren, nicht ein einziger Bericht von einem Leser der sich beim Lesen dieses großen Gedichts erbrochen hat. Ich habe viel zu lernen, und erzähle Euch was ich an Neuem entdecke, wenn's dazu kommt. Zwischen Bericht über Nathaniel: Er scheint zufrieden zu sein. Die Temperatur im Haus ist gewöhnlich 10 Grad Celsius, nie weniger als 5 Grad, und selten höher als 15 Grad. Nathaniel wärmt sein sonst kaltes Zimmer mit elektischen Heizern. Viele herzliche Grüße an Euch beide! Jochen * * * * * * Subject: am 6. Februar 2018 From: Ernst Meyer Date: Tue, 06 Feb 2018 19:09:09 -0500 To: Bernd Strangfeld geschrieben am 31. Januar 2018 abgesandt am 6. Februar 2018 Liebe Gertraud, lieber Bernd, Vielen Dank fuer Euern Brief. Bitte vergebt mir auch diese unmittelbare Antwort. Vor einer Woche schrieb ich: Was mich heute Morgen nach nur sechs Stunden Schlaf aus dem Bett verscheuchte war Goethes Weisheit: Ich sag es dir: ein Kerl, der spekuliert, Ist wie ein Tier, auf dürrer Heide Von einem bösen Geist im Kreis herum geführt, Und rings umher liegt schöne grüne Weide. Frage mich ob er es vielleicht drauf angelegt hatte seinen Freund Schiller, der doch so leidenschaftlich gern spekulierte, zu sticheln, oder ob dieser Text der Freundschaft mit Schiller vorausging. Jedenfalls geht es mir mit dem Denken wie mit dem Reden, es will nicht unterbrochen sein, und die Schwafelsucht scheint mit dem Alter, statt sich zu begeben, heftiger zu werden. Die Vergänglichkeit des Wortes, von den Wörterbuchforschern so unverkennbar belegt, wird dennoch vom Worte selbst unwiderlegbar bestritten. Das Wort will sein, das Wort will verbleiben, wenn nur der welcher es heute ausspricht derselbe zu sein wähnt der er gestern war. In diesem Sinne hat der Evangelist dem Pilatus die Worte zugeschrieben: Ὃ γέγραφα γέγραφα. Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben. So erklärte auch Luther: Das Wort sie sollen lassen stahn Und kein’ Dank dazu haben. Er ist bei uns wohl auf dem Plan Mit seinem Geist und Gaben. Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib, Laß fahren dahin. Sie haben’s kein Gewinn. Das Reich muß uns doch bleiben. Was hier zu betonen gilt, ist der Widerspruch zwischen der unleugbaren Vergänglichkeit des Wortes und des Wortes immanenten Anspruch auf Ewigkeit. Die Ewigkeit des Wortes ist die einzige Ewigkeit der auch nur ein Einziger von uns jemals begegnet. Dieser Widerspruch zwischen der Vergänglichkeit und der Ewigkeit des Wortes hat nicht nur theoretische Bedeutung. Es ist ein Widerspruch mit wesentlichen praktischen Wirkungen. Auf der kleineren Bühne, erscheint er als Dudentravestie, das zwangsmäßige Bestehen auf sprachliche Einförmigkeit welche dazu dient das Wort mit den Schimmern der Bestimmtheit und der Ewigkeit zu vergolden. Auf der großen Bühne der Weltgeschichte wütet die Sehnsucht nach Ewigkeit des Wortes als Patriotismus, als Vaterlandsliebe, Ausdruck des Bedürfnisses, der Notwendigkeit die Eindeutigkeit der Sprache zu bewahren. Dies Bedürfnis ist Ausdruck der geistig-seelischen Abhängigkeit die uns einzelne, einsame Menschen an einander, an unser Zusammensein, an unsere Gesellschaft bindet. In diesem inneren Zwang zum Herdenmenschsein, ein Zwang der sich auch in dem Rechtschreibungsfimmel des Dudens offenbart, meine ich jedenfalls eine Ursache unserer verzweifelten und entsetzlichen Vergehen gegeneinander zu erkennen. Ein jeder von uns legt großen Wert auf die Verlässlichkeit (und Ewigkeit) der eigenen Sprache und "Kultur". Die Bedrohung von allem "Fremden" das die unabänderliche Sprache und "Kultur" beeinträchtigen möchte, sehe ich die Wurzel des Fremdenhasses, der Verfolgungen und Verbannungen, der Gefängnisse und Konzentrationslager. Hab' versucht in Dantes Divina Commedia eine Antwort zu finden. Was hat Dante mit seinem Versuch die Hölle zu beschreiben angerichet? War Dantes Beschreibung ein Verstehen? eine Rechtfertigung? eine verkappte Theodizee? Hat Dante doch tatsächlich geschrieben, der Herrgott hätte die Hölle aus Liebe!!! angelegt. Auch die Konzentrationslager?? Giustizia mosse il mio alto fattore; fecemi la divina podestate, la somma sapïenza e 'l primo amore. Gerechtigkeit trieb meinen hohen Schöpfer, Geschaffen haben mich (die Hölle) die Allmacht Gottes, Die höchste Weisheit und die erste Liebe Ich fühle mich von der Brutalität des Inferno überwältigt. In den seither vergangenen 700 Jahren, nicht ein einziger Bericht von einem Leser der sich beim Lesen dieses großen Gedichts erbrochen hat. Ich habe viel zu lernen, und erzähle Euch was ich an Neuem entdecke, wenn's dazu kommt. Zwischen Bericht über Nathaniel: Er scheint zufrieden zu sein. Die Temperatur im Haus ist gewöhnlich 10 Grad Celsius, nie weniger als 5 Grad, und selten höher als 15 Grad. Nathaniel wärmt sein sonst kaltes Zimmer mit elektischen Heizern. Viele herzliche Grüße an Euch beide! Jochen * * * * * * am 22. Februar 2018 NICHT ABGESANDT Liebe Gertraud, Das verlässlichste, beständigste Erleben im Denken meines hohen Alters ist das Erkennen meiner Fehler, und demzufolge die Notwendigkeit mich zu entschuldigen und meine Irrtümer zu berichtigen. Im vorliegenden Fall, die Erwgung in meinem letzten Brief an Dich:"Ich fühle mich von der Brutalität des Inferno überwältigt. In den seither vergangenen 700 Jahren, nicht ein einziger Bericht von einem Leser der sich beim Lesen dieses großen Gedichts erbrochen hat." Jetzt fällt mir auf, dass Dantes Divina Commedia in ihrer Art die "Summa Poetica" einer Seelenspeise zu betrachten ist deren "haut gout" bei Martin Luther eine schicksalhafte Übelkeit auslöste. Ich höre ihn im Refektorium zu einem seiner Mönchesbrüder sagen: "Es ist zum Kotzen," was sich nicht auf die Nahrung für den Körper bezog, sondern auf die katholisch kirchliche Auslegung des Christentums. Die protestantische Reformation wäre dann erklärlich als ein sich Übergeben der Seele, eine erlösende Erleichterung die ich noch heute mit Dankbarkeit spüre, besonders beim Lesen der Divina Commedia. * * * * * * am 1. April 2018 Liebe Gertraud, Für Deinen Brief vom 1. März den ich soeben ein weiteres Mal gelesen, hab verspäteten Dank. Deine Bemerkungen über die sich unerbittlich wandelnde Sprache gehen mir nahe, und wenn ich schreibe, dass ich die Sprache als meinen wertvollsten Besitz schätze, will ich mich keineswegs rühmen der Sprache gerecht zu werden. Den von Dir beanstandeten Ausdruck "geil" hab ich im Grimmschen Wörterbuch nachgelesen. Wieder einmal erscheint mir das Wort als Schleier vor unbegreiflichen einstigen und gegenwärtigen Schicksal. Und wenn Du wegen "überkandidelte Wortkombinationen" klagst, muss ich mich fragen ob ich mich als schuldig erkennen sollte, denn ich bin entzückt von der zurvorkommenden Leichtigkeit mit welche die deutschen Worte sich verketten lassen, und vielleicht lasse ich mich von ihr zu übermütigen ungebührlichen Zusammensetzungen verleiten. I've also started to experiment with analogous verbal amalgamations in English, although I'm at a loss for an example; none comes immediately to mind. Im übrigen ist es mir unmöglich, ohne die Schranken der Höflichkeit des Herzens einzurennen, dem was ich in den jüngst vergangenen Tagen gefühlt und gedacht habe sprachlich gerecht zu werden. Ich meine entdeckt zu haben, dass es auch im innersten Erleben, und besonders hier, etwas dem gesellschaftlichen Anstand (political correctness) Vergleichbares gibt das nicht ausgesprochen werden kann ohne Schmerzen und Ungerechtigkeit zu stiften. Vielleicht, wenn es mir aufgelegt ist lange genug zu leben, wird es in der Verzweiflung eines Romans oder in dem trostlosem Trübsinn von Gedichten, seinen Niederschlag bekommen. Inzwischen aber ist es erst April; der Mai kommt, und dann der Sommer, ohne mein Zutun. Herzliche Grüße an Euch beide. Jochen * * * * * * Date: Sun, 01 Apr 2018 21:00:20 -0400 From: Ernst Meyer To: Bernd Strangfeld Subject: Ostern, 2018 Liebe Gertraud, Für Deinen Brief vom 1. März den ich soeben ein weiteres Mal gelesen, hab verspäteten Dank. Deine Bemerkungen über die sich unerbittlich wandelnde Sprache gehen mir nahe, und wenn ich schreibe, dass ich die Sprache als meinen wertvollsten Besitz schätze, will ich mich keineswegs rühmen der Sprache gerecht zu werden. Den von Dir beanstandeten Ausdruck "geil" hab ich im Grimmschen Wörterbuch nachgelesen. Wieder einmal erscheint mir das Wort als Schleier vor unbegreiflichem einstigen und gegenwärtigen Schicksal. Und wenn Du wegen "überkandidelte Wortkombinationen" klagst, muss ich mich fragen ob ich mich als schuldig erkennen sollte, denn ich bin entzückt von der zurvorkommenden Leichtigkeit mit welche die deutschen Worte sich verketten lassen, und vielleicht lasse ich mich von ihr zu übermütigen ungebührlichen Zusammensetzungen verleiten. I've also started to experiment with analogous verbal amalgamations in English, although I'm at a loss for an example; none comes immediately to mind. Im übrigen ist es mir unmöglich, ohne die Schranken der Höflichkeit des Herzens einzurennen, dem was ich in den jüngst vergangenen Tagen gefühlt und gedacht habe sprachlich gerecht zu werden. Ich meine entdeckt zu haben, dass es auch im innersten Erleben, und besonders hier, etwas dem gesellschaftlichen Anstand (political correctness) Vergleichbares gibt das nicht ausgesprochen werden kann ohne Schmerzen und Ungerechtigkeit zu stiften. Vielleicht, wenn es mir aufgelegt ist lange genug zu leben, wird es in der Verzweiflung eines Romans oder in dem trostlosem Trübsinn von Gedichten, seinen Niederschlag bekommen. Inzwischen aber ist es erst April; der Mai kommt, und dann der Sommer, ohne mein Zutun. Herzliche Grüße an Euch beide. Jochen * * * * * * From: "Bernd Strangfeld" To: Ernstmeyer Subject: Dein Brief vom 2.4. Date: Fri, 6 Apr 2018 19:06:23 +0200 Lieber Jochen, es war beruhigend, von Dir zu hören, denn wir hatten uns schon einige Sorgen gemacht bei all den eisigen Wettermeldungen und Deiner Liebe für niedrige Temperaturen. Also willkommen! Es gäbe einiges zu berichten - wir waren 2 Wochen unterwegs, davon 10 Tage in Wien, was Bernd flüchtig und ich überhaupt nicht kannte, und sind viel gewandert in dieser wahrlich imposanten Stadt mit ihren ungeheuren Kulturschätzen. Welch ein Bombast an prächtigen, das Auge lange beschäftigenden Bauwerken, und dann die phantastischen Museen! Von den alten Ägyptern bis zum Architekten Otto Wagner (da gab es gerade eine Ausstellung), Klimt und Schiele, Klemens Brosch (von dem wir noch nie gehört hatten, der aber fabel zeichnete und sonstige Bilder schuf), dem Prater - atemberaubende Fahrkonstruktionen, die einen verdreht in die Luft schleudern, zum Beispiel -, das Hundertwasserhaus und -museum, die Hofburg, Schönbrunn... zweimal in der Oper und dreimal im Theater. Eine wunderbare Kinder-und Jugendbuchausstellung in einem tollen Palais, ganz kostenlos. und noch das eine oder andere. Auf der Hin-und Rückfahrt haben wir jeweils in Regensburg übernachtet. Beim Frühstück ging der Chef von Tisch zu Tisch und erkundigte sich nach dem Befinden und ob man gut geschlafen habe. Es war ein älterer, vornehm und hanseatisch wirkender Herr. Ich sagte ihm, dass meine Großmutter, die einen Gasthof betrieb, dies alles als "gediegen" bezeichnet hätte, und er zeigte sich hocherfreut. Dies schöne Wort sollte öfter benutzt werden! Du hast ja recht mit Deinen Beobachtungen, dass man im Deutschen Wörter aneinander reihen und überhaupt viele köstliche Spielchen betreiben kann. Im Englischen geht das ja auch, zu unserem großen vergnügen, und zu Deinem sicher auch. Etwas Interessantes erfuhren wir in Wien, als wir uns bei einem jungen Paar auf der Straße nach unserer Oper erkundigten: Ja, das ist dort, ...-, aber der Eingang ist auf der drüberen Seite. Das hatten wir nie gehört, aber verstanden und genossen. Die Oper ("Rusalka" von Dvorak) hat uns dann auch sehr gefallen. Im Augenblick fallen mir keine weiteren Sprach-Eigentümlichkeiten ein, aber ich werde mal wieder sammeln. Morgen fahren wir für eine gute Woche nach Weimar zu unseren alten Freunden. Und nun soll ja auch endlich der Frühling kommen. Es war ein langer und vielfach schwieriger Winter. Früher, mit jugendlichem Übermut und Optimismus, konnte man so etwas leichter ertragen, scheint mir. Heute ist der letzte Tag unserer Krötenrettungsdienstwoche (oder Kröten-Rettungsdienst-Woche, oder...). Da wir Mitglieder im BUND (Bund für Umwelt-und Naturschutz) sind, helfen wir im frühen Frühjahr bei der Aktion zur Bewahrung der Kröten, die aus ihren Winterquartieren erwachen und den Weg zu ihren Laichgewässern antreten. Dabei müssen sie in aller Ragel eine befahrene Straße überqueren und werden dabei in manchmal Massen überfahren. Also richten wir Zäune auf, etwas 35 cm hoch, entlang ihrer Hauptrouten, und graben in Abständen von etwa 15 m Eimer in die Erde, die mit der Kante gleich hoch abschließen. Die Kröten fangen am späten Abend an zu wandern, suchen einen Durchgang und fallen irgendwann in einen Eimer, aus dem sie nicht heraus gelangen. So gegen 21.30 fangen wir an, die Strecke aubzusuchen, leeren die Eimer in unseren mitgebrachten Eimer, finden oft noch viele Tiere, die den Zaun noch gar nicht erreicht haben, und tragen alle über die Straße, überklettern die Barriere und einen Graben und bugsieren die Tier durch den Maschendrahtzaun. In warmen, feuchten Nächten befördern wir mehrere hundert Kröten, in kalten, so wie letzte Nacht, die bei 0 Grad anfing und von grimmem Frost überwältigt wurde, überhaupt keine. Heute abend werdeb es wohl wieder ein paar mehr sein. In großer Überzahl sind die Männchen, kleine, zierliche, anmutige Erscheinungen, während es nur wenig alleinstehende oder-wandernde Weibchen gibt. Einige Pärchen finden sich auch. Die Weibchen sind deutlich größer und müssen die Last der Männchen (manchmal sind es tatsächlich mehrere) auf dem Rücken traten, tun das aber offensab klaglos. Gelegentlich werden sie auch im Wasser durch den Männeransturm ertränkt. Man kann mit der Natur durchaus nicht immer einverstanden sein. Im Garten fangen die Osterglocken an - reichlich spät -, die Scillien, die Chinodoxa. Lungenkraut blüht immerhin schon und ist eine beliebte Bienen-und Hummelweide, ebense wie die Helleboren. Wir hoffen auf mehr Grün und Bunt, wenn wir zurückkommen. Dir wünschen wir einen gemütserhellenden Frühling und grüßen Dich herzlich, Deine Gertraud und Bernd. P.S. Entschuldige bitte die diversen Tippfehler, ich komme nicht mehr zum Korrigieren, muss noch packen und dann retten! * * * * * * From: "Bernd Strangfeld" To: Ernstmeyer Subject: Deine Frühlingsgrüße Date: Fri, 20 Apr 2018 22:17:26 +0200 Lieber Jochen, Deine melancholische Stimmung kann ich wohl nicht wesentlich aufheitern, wenngleich ich sie gut verstehen kann. Was Du über Träume im rosa Abendschein schreibst, finde ich sehr anrührend und stelle mir vor, wie Deine Gefühle und Gedanken in Deine reiche Vergangenheit zurückwandern und Du riesige Landschaften vor Dir ausgebreitet siehst. So viel Leben, so viele Gedanken und Erlebnisse - kann man sich darin nicht gefühlsmäßig einrichten? Wir waren eine gute Woche in Weimar bei unseren alten Freunden, die sich immer zusammenfinden, wenn wir eine von ihnen (eine Freundin) besuchen. Einige fehlen inzwischen, manche schon seit langer Zeit. Noch geht es allen so, dass sie in Stadt und Land Kulturstätten besuchen und Reisen unternehmen können, darüber freuen wir uns alle miteinander. Der Blick aus dem Fenster zeigte die Verwandlung der großen Ahornbäume von eintönig schwarzen Gestalten zu voll erblühten, leuchtend gelben und, wie wir wissen, auch duftenden Erscheinungen. In manchen Tälern und vielerorts glich der Waldboden einem leuchtenden Teppich auch weißen und gelben Buschwindröschen, dazwischen dicke blaue Tupfen von Leberblümchen und Veilchen. Es war ziemlich märchenhaft. Dazu blühten die Schlehen und allerlei weiße, gelbe und rosafarbene Bäume. Alles vor mediterranblauem Himmel. die wahre Wonne. Zu unseren Geburtstagen hatten uns die Freunde Premierenkarten für den Tannhäuser im Nationaltheater geschenkt, das haben wir sehr genossen. In einer der Pausen warb uns eine flammend begeisterte Unicefdame als Mitglieder, sie war unwiderstehlich engagiert. Auf der Rückfahrt, immerhin fast 4 Stunden, davon das meiste bei Sonne, verirrte sich kein einiziges Insekt an unsere Windschutzscheibe. Das sagt einiges über die ziemlich trostlose Situation der Insekten. Zu Hause, wir kamen bei Sonne an, zeigte der Garten, dass er sich nun zu einem Betätigungsfeld für uns entwickelt hatte. Seitdem wirken wir heftig , entdecken, was die Wühlmäuse übrig gelassen haben (doch immerhin das meiste),schneiden trockene Stauden ab, ermutigen die Rosen durch wachstumsfördernden Schnitt, entfernen Wegplatten, schreddern, jäten, pflanzen um...Und morgen werden wir in einer Gärtnerei in Hilden (bei Düsseldorf) hoffentlich uns genehme Blumen finden, um die so früh im Jahr immer riesig scheinenden Lücken zu füllen. Regelmäßig in der zweiten Maihälfte wundern wir uns dann, warum wir jemals glauben konnten, es sei noch Platz für Neues. Es ist immer wieder ein beglückendes Abenteuer, so ein Garten. Lieber Jochen, jetzt gehe ich ins Bett, lese noch eine Stunde (mindestens), trinke einen Kräutertee (Pfefferminz und Süßholz) und hoffe auf noch weitere so unglaublich sonnige, sommerliche Tage wie die letzten. Und Dir wünsche ich, dass dieser erneute Aufbruch ins bunte Leben überall Dich ein wenig freudig stimmen möge. Alles Gute und herzliche Grüße, Gertraud und Bernd. * * * * * * From: "Bernd Strangfeld" To: Ernstmeyer Subject: Schon so lange her! Date: Sat, 9 Jun 2018 21:55:24 +0200 Lieber Jochen, das kommt mir schon traurig vor, dass wir so lange nichts voneinander gehört haben. Dein letzter Brief ist vom 6.April, habe ich Dir darauf nicht geantwortet? Ich weiß es nicht mehr. Ich kann verstehen, dass Du keine Lust mehr hast, Dich mit mir brieflich zu beschäftigen, aber ich finde es doch schade. So tu ich einfach mal, als wäre nichts gewesen, und berichte ein wenig von unseren Ausflügen hierhin und dorthin, auf die Gefahr hin, dass Du umblätterst. Die erste Maiwoche haben wir bei wunderbarem Wetter mit Freunden aus unserer französischen Gegend in Goslar und Umgebung verbracht. Ich wollte ihnen doch unbedingt meine Heimat zeigen, und die ist ja wirklich schön, ganz besonders zu dieser Jahreszeit. Wir sind viel gewandert, in den Liebenburger Wäldern vor allem, aber auch im Harz, und haben vor allem - nein,, ebenso wichtig - solche Prachtorte wie die romanische Kirche in Gernrode, Quedlinburg, Wernigerode gründlich bewandert und bewundert, sind endlich mit der Brockenbahn durch den Nationalpark zum Brockengipfel gefahren, dampfend, prustend, rüttelnd und schüttelnd und in dem Geühl, etwas lange Versäumtes endlich nachzuholen. Mit dem Sessellift schwebten wir von Thale hinauf auf die Klippen des Bodetals, bewunderten die Rosstrappe und waren beeindruckt von der wilden Steilheit der Bodeschlucht. Wie so oft in der ehemaligen DDR, fanden wir schnell einen Einheimischen, einen älteren Herrn, der womöglich Geschichtslehrer gewesen war, der uns aller Interessantes, Bewegendes und Humoriges über ältere und jetzige Zeiten erzählte, und wir hatten wieder einmal das Gefühl, doch ein vereinigtes Volk zu sein. Da wir ja beide so nahe der Grenze aufgewachsen sind mit allerlei Wehmut und Schmerzen, ist uns das immer wieder wichtig und erfreuend. Kaum hatten wir uns mit dem Garten und vor allem mit Kierspe wieder etwas vertraut gemacht, Freunde gewonnen, die für weitere 2 Wochen unserer künftigen Abwesenheit die vielen Kübel auf der Terrasse zu gießen versprachen, da fuhren wir Richtung Süden, zunächst ein paar Tage nach Konstanz, einen alten Freund besuchen und mit ihm in der lieblichen Gegend wandern, und anschließend weiter ins obere Lechtal, östlich zwischen Bregenz (ungefähr) und Füssen, ganz österreichisch alemannisch, Tirol, eine herrliche Gegend, die die Einheimischen durch die Statuierung eines Naturparkes zu schützen suchen, denn sie müssen den Spagat praktizieren, die Erhaltung der Natur mit dem Tourismus, von dem sie weitgehend leben, zu vereinbaren. Der Lech ist hier noch weitgehend ungezähmt, unbearbeitet, bringt Unmengen von Felsbrocken und Geröll mit, schafft weite Kiesbänke und Auen, die zeitweise trockenfallen. Wir hatten viel zu gucken und zu entdecken, unglaublich viele Pflanzen, die wir abends versuchten zu bestimmen, und zunehmend auch Schmetterlinge - allerdings nicht so viele wie erhofft, die Insekten werde ja überall weniger, wie Du vielleicht auch gelesen hast. Seit ein paar Tagen sidn wir zurück, auch hier gab es fast nur Sonne, zu rechter Zeit genügend Regen, das Kiersper Klima entwickelt sich ausgesprochen benutzerfreundlich. Der Garten strotzt und blüht aus Leibeskräften, wir schlängeln uns durch all die Pracht. Wie es Dir wohl gehen mag? Schreibst Du vielleicht doch wieder? Ich könnte mir denken, dass Du Sehnsucht nach Deinen Figuren hast, mit denen Du so intensiv kommunizierst. Hast Du vielleicht manchmal das Gefühl, dass sie Dir noch etwas zu sagen haben? (Bitte nicht glauben, das sei ironisch. Ich kann mir das jedenfalls vorstellen.) Eine Amsel schimpft ihren Abendtext. Warum sie sich nicht mit einem ihrer unerschöpflichen Lieder vom Tag verabschiedet, versteht auch unser vogelkundlicher Freund nicht, Wir grüßen Dich herzlich und wünschen Dir einen frohen, herzwärmenden Sommer, Deine Gertraud und Bernd. * * * * * * Subject: am 11. Juni 2018 To: Bernd Strangfeld From: Ernst Meyer Date: Mon, 11 Jun 2018 22:08:55 -0400 Liebe Gertraud und lieber Bernd, Euern Brief vom 9. Juni 2018 erhielt ich umgehend, mit elektronischer Geschwindigkeit, noch am selben Tage, vorgestern, Sonnabend, als Klemens und ich uns auf die Rückreise aus Konnarock nach Belmont vorbereiteten. Am nächsten Tage, Sonntag um halb elf, fuhren wir ab, und kamen dann nach ununterbrochener Autofahrt gegen Mitternacht in Belmont an. Die dreizehneinhalb Stunden lange Reise bot mir reichlich Zeit Euern Brief an mich, und meine Antwort an Euch, zu überlegen. Mitte April benachrichtigte mich Jeane Walls, - Ihr erinnert Euch an sie! - die Pflegerin erst meines Vaters, dann meiner Mutter in deren Sterbensjahren, und schließlich während der letzten fünfzehn Jahre, die Wärterin des Hauses das meine Eltern mir vererbten, dass sie Jeane, ihr eigenes Haus verkauft habe und alsbald in den benachbarten Kreishauptort Abingdon übersiedeln würde. Das tat Jeane, und ließ uns, jedenfalls mit dem Rasenmähen im Stich. Als wir Sonntag vor einer Woche in Konnarock ankamen, war das Gras ums Haus kniehoch. Die neuen Nachbarn welche sich nun an der Überwachung des Hauses beteiligen möchten sind Ed Tracy und sein Gattin Carolyn, geb. Shumate, deren jetzt verstorbener Vater, John Shumate, mein einstiger Spielkamerad, als amerikanischer Soldat bei Kriegsende meine Großeltern mütterlicherseits in Berlin-Nikolassee besuchte, und deren Großvater, Roy Shumate, am Bau des einstigen "Konnarock Medical Center" beteiligt war. Ed Tracy, Carlyns Gemahl in einer zweiten Ehe, war in Berufsjahren ein Beamter in der CIA, der nun im Alter bestrebt ist sein einstiges Tun und Lassen durch besondere menschenfreundliche Hilfbereitschaft aufzuwiegen. Er wird das Gras ums Haus mit seinem Aufsitzrasenmäher scheren, um mit berufsmäßiger Sachkunde dem siebenundzwanzig Jahre lang leerstehenden Haus den trügerischen Anschein des Bewohntseins zu verleihen. Die Ursache weswegen ich meiner Gewohnheit zuwider, es unterlassen hatte Euern letzten Brief rechtzeitig zu beantworten war nichts mehr oder weniger als mein 88 Jahre altes, seniles Gedächtnis. Ursprünglich unschlüssig wie und was ich Euch antworten sollte, hatte ich meine Antwort so lange aufgeschoben bis ich vergessen hatte, dass ich sie Euch noch schuldig war. Und auch heute am Spätnachmittag, wo sich die Sommersonne gegen die Giebel der gegenüberliegenden Wohnhäuser neigt, bin ich mir nicht klar mit welchen Gedanken, mit welchen Worten ich Euch grüßen, Euch unterhalten, Euch amüsieren, oder Euch anderweitig von meinem komischen eintönigen Leben erzählen sollte, wo ich doch selber der eigenen Worte längst so überdrüssig bin. Ich entbehre die Begeisterungen mit welchen Ihr die Insekten, die Vögel, die Blumen, das Grün der ausschlagenden Bäume begrüßt. Mein Blick ist, wie Ihr wisst, ins Innere, auf die Bilder - und Vorstellungen - einer unerreichbaren Vergangenheit gerichtet, und was ich dort zu erkennen meine verlangt in dringender Weise gesagt und beschrieben zu werden. Deshalb abgesehen von der vergangenen Woche in Konnarock, wo Klemens und ich vollständig mit der Instandsetzung des Hauses, des Rasens, der Fernsehüberwachungsanlage, und am Wesentlichsten, mit der Herstellung neuer gesellschaftlicher Beziehungen zu neuen Nachbarn beschäftigt waren, ohne Gelegenheit zu etwas anderem, verbringe ich die mir noch übrigen Stunden, Tage, Wochen, und vielleicht Monate und Jahre, mit Schreiben von Aufsätzen, Geschichten, und Gedichten, wohlbemerkt, lediglich an mich selber gerichtet, - denn ich kann von keinem Anderen erwarten oder gar verlangen, meinen Gedanken in die Einbildungs- oder Erfahrungsabgründe zu folgen, die ich meine entdecken und erforschen zu müssen. Ich gebe zu, dass es wahnsinnig ist Bücher für Keinen zu komponieren, und wahnsinniger noch, wie ich mich gewöhnt habe, Briefe an Margaret im Totenreich aufzusetzen, wo es doxh dort keine e-mail Adressen gibt, von wo ich kein Echo, geschweige denn eine Antwort zu erwarten habe. Nur Sinnvolles ist mitteilbar. Demgemäß ist es unmöglich Euch über den Inhalt meines Wahnsinns in Kenntnis zu setzen, wobei ich die Tatsache dass ich verrückt geworden bin, Euch nicht verhehlen würde, selbst wenn ich es vermöchte. Bleibt zufrieden und gesund, und empfehlt mich allen Käfern, Ameisen, Fliegen, Wespen und Bienen die Euch begegnen. Euer Jochen * * * * * * From: "Bernd Strangfeld" To: Ernstmeyer Subject: Dein Brief vom 11.Juni Date: Fri, 22 Jun 2018 14:18:20 +0200 Lieber Jochen, 22.Juni 2018 danke für Deinen Brief mit den Nachrichten Über Konnarock und Deine inneren Befindlichkeiten, voll Melancholie und Orpheus-mäßiger Rückwärtsgewendetheit. Nun hast Du also doch wieder eine Reise nach Konnarock gemacht, zum Glück mit Klemens als Nothelfer und Unterstützung für jeden Fall. Was für ein Unternehmen! Dass Ihr beiden das aushaltet, solch lange Fahrt, und dann diese intensive Begegnung mit all der Vergangenheit! Solche Überlegungen haben mich ja damals, nach unserer Pensionierung, dazu bewogen, nicht nach Goslar oder in die Umgebung, obwohl sehr geliebt, zurück zu ziehen - zu viel Begegnung mit Vergangenem, als alle noch lebten und noch viel Zukunft war. Also Jeane, so lange Euer guter Geist, so schien es mir jedenfalls, hat Euch verlassen, aber wie großartig, dass die Lücke sich gefüllt hat! Das sind interessante und bewegende Verflechtungen mit Euren Nachbarn, von denen Du erzählst. Ich erinnere mich, dass Du mehrfach von dem Ex-Cia-Mann erzählt hast und dass es sich in seiner Nähe etwas fremdartig anfühlte. Aber er hat sich sozusagen geläutert - Gratulation! Das ist sicher sehr entlastend für Euch. In Belmont widmest Du Dich wieder dem Schreiben. Interessiert sich eigentlich Klemens dafür? Aber dann würde er vielleicht Grenzen überschreiten, was Euch Beiden nicht recht wäre. Wohnt Nathaniel noch bei Dir? Wie geht es seiner Dirigenten-Karriere? Gestern abend wurde übrigens auf Arte die Premiere von Verdis "Macbeth" aus der Staatsoper Berlin übertragen, phantastische Aufführung, und draußen verfolgten weitere 30.000 Zuhörer/-schauer das geschehen. Beeindruckend und mitreißend. Wir sind sehr mit dem Garten beschäftigt, der in diesem Jahr eine nie erlebte Pracht entfaltet. Das Wetter im Mai und dem bisherigen Juni hat wahre Wunder gewirkt. Dazu füttern wir jetzt ganzjährig die Vögel - Vogel-Fachleute empfehlen das. Abends sammeln wir Mengen von Schnecken, die schon vieles ruiniert haben, und ärgern uns tagsüber über den Schwund, den uns die Wühlmäuse, ein findungsreiches und vorurteilsloses Völkchen, nahezu täglich bescheren. Gestern abend war wieder ein Igel zugange, faucnte ohne Unterlass, entweder aus Zorn oder aus Liebe. - Unter den Futterspendern, die sie nicht bedienen können, grasen friedlich nebeneinander eine oder zwei Ringeltauben und ein prächtiger Häher. In den Sträuchern am Komposthaufen tummelt sich ein winziger Zaunkönig. Eigentlich sollte man im Sommer gar nicht wegfahren, weil so viel los ist. Im Falle von Dauerregen sähe das allerdings nicht so rosig aus. Morgen feiert unser erster Schüler-Jahrgang unserer Geamtschule sein 40.Abiturjubiläum. Es waren fast 150 Schüler damals. Wir haben fast alle irgendwan einmal unterrichtet, wenn ich die Liste lese, kommen mir beinahe alle Gesichter wieder vor Augen. Es waren für alle Beteiligten auifregende Zeiten: der Pionierjahrgang der Gesamtschule, sieben solche Versuchsschulen in ganz NRW (modernstes Bundesland damals), und wir wurden in der Oberstufe wohlwollend und sehr kritische beäugt und von der oberen Schulbehörde begleitet. Es ist alles gutgegangen, aber die Anspannng war groß und alles sehr besonders. Zu vielen Schülern hatten wir ein freundschaftliches Verhältnis. * * * * * * From: "Bernd Strangfeld" To: Ernstmeyer Subject: Fortsetzung Date: Fri, 22 Jun 2018 14:40:46 +0200 Lieber Jochen, offenbar habe ich mal wieder eine falsche Taste gedrückt, so blieb der Brief ein Fragment, allerdings schon nahezu fertig. Ja, das Verreisen in der wachsenden Jahreszeit führt zu Konflikten, denn einerseits ist es jetzt überall besonders schön. , hoffnungsvoll, vielseitig, und andererseits trift das auch für den eigenen Garten zu. Die vom Winterfutter in die Terrassenfugen abgestürzten Sonnenblumenkerne haben sich vielfach zu kräftigen, bereits über einen Meter hohen Gestalten entwickelt, nebst anderer fugenliebenden, sehr übbigen Blimen (Echium vulgaris, Natternkopf, der richtig prunkt), dazu kommen etliche Kübel mit den bei Wühlmäusen und Schnecken besonders beliebten Pflanzen, so dass wir uns über dioe Terrasse nur noch schlängeln können. Tun wir aber gern. Übrigens haben wir vor 4 Tagen, von einem Besuch bei Freunden von Soest kommend, auf einem riesigen Erdbeerfeld für Selbstpflücker sieben Spankörbe köstliche Erdbeeren gepflückt, davon blieben nach Entfernen alles Nicht-Fruchtigen 14,5 Kilo netto, wovon wir für den Rest des Tages Marmelade kochten. Das Anlegen von Vorräten macht uns immer mächtig viel Vergnügen. Es ist plötzlich kalt geworden, heute morgen 10°, das sind wir gar nicht mehr gewöhnt. Bernd ist gerade von einer Einkaufstour zurückgekommen, hat auch zwei Säcke gejätetes Grünzeug zum großen städtischen Komposthaufen gebracht, wir kriegen nicht alles unter. Was für ein Wunder doch die Photosynthese ist! Deine Empfehlung an die Insektenwelt haben wir uns bemüht auszurichten, danke! Habe trotz allem einen schönen Sommer und sei herzlich gegrüßt von Deinen Gertraud und Bernd. * * * * * * From: "Bernd Strangfeld" To: Ernstmeyer Subject: Dein Geburtstag Date: Fri, 29 Jun 2018 09:58:11 +0200 Lieber Jochen, Kierspe, 29.Juni 2018 Vorgestern hattest Du Geburtstag, ich habe immer wieder daran gedacht, und plötzlich war der Tag vorbei. Aber heute nun! Bei unseren guten Wünschen für Dich überlasen wir uns dem, was Du Dir ersehnst, und hoffen jedenfalls, dass Du an jedem Tag etwas findest, das Dir Freude macht. Einen neuen Gedanken vielleicht, ein neues Gedicht oder die Erinnerung an Texte von Hölderlin und Rilke, ein Wiederfinden von Vergessenem, Liebem, das Dich ermuntern kann? Wir schwelgen hier in Sonne und Sommer, so etwas gab es überhaupt noch nie in Kierspe, aber auch nicht anderswo in unserem Lande. Im Garten tummeln sich Schmetterlinge, wie wir es seit etlichen Jahren nicht mehr erlebt haben. Gleich kommen alte Kollegen/Freunde, um den Tag mit uns zu verbringen, und abends Nachbarn - seltener Betrieb, über den wir uns mächtig freuen. Rote GrÜtze, Rhabarberkuchen stehen schon bereit, Bernd bereitet Paprikareis, ich habe die bedürftigsten Blumen gegossen, alles freudige Tätigkeiten. Morgen fahren wir wieder mal nach Herford, unsere Freunde besuchen, deretwegen wir vor nunmehr über elf Jahren dorthin gezogen sind. Am 1. Juli vor 10 Jahren sind wir zurück gezogen. Das Treffen ehemaliger Schüler , unseres ersten Jahrganges, anlässlich des 40.Jahrestages ihres Abiturs, des ersten Abiturs an unserer Pionierschule war ein bewegendes Erlebnis, voller Wiedersehensfreude und begeisterter Herzlichkeit und natürlich vieler Erinnerungen. Es waren sehr besondere Zeiten damals, an einer sehr besonderen Schule mit einer Atmosphäre von Aufbruch, Experimentierfreude und auch menschlicher und padagogischer Abenteuerlust, die allen Beteiligten bewusst war, sehr genossen wurde und bei diesem Wiedersehen sofort wieder präsent war. herzbewegend. Einen guten Sommer wünschen wir Dir! Herzlichste Grüße von Deinen Gertraud und Bernd. * * * * * * Subject: am 3. Juli 2018 To: Bernd Strangfeld From: Ernst Meyer Date: Tue, 3 Jul 2018 15:19:28 -0400 Liebe Gertraud, lieber Bernd, Vielen Dank für Euern Geburtstagsbrief der mit so warmer, freundlicher Sommersonne strahlt, dass ich nicht weiß wie ihn zu erwidern, ohne als Lebensglückspielverderber aufzutreten, und dies schon gleich mit dem Ärger welche die Klebrigkeit meines Umgangs mit den anderweitig kristallklaren Worten der geliebten deutschen Sprache auslösen möchte. Hab soeben die Etymologie des Ausdrucks "Nostalgia" nachgeschlagen, um zu ermessen ob ich Euch ein Klagelied über die Nostalgie nach dem einfachen, scheinbar unzweideutigen Begriff "Wahrheit" meiner nun so entfernten Kindheit anstimmen sollte. Meine Eltern verwalteten und bewachten das Wahre mit untrügbarer Selbstverständlichkeit, ins besondere meine Mutter die nicht nur die Wahrheit meiner Worte sondern die Wahrheit meiner Gedanken zu bestimmen vermochte. Damals muss ich als wahres Kind meiner Eltern erschienen sein, denn noch heute besinne ich mich wie meine Großmutter mütterlicherseits sich beklagte, ich müsse doch nicht "jedes Wort auf die Goldwaage legen." Und heute, heutzutage ist die Sicherheit und Selbstverständigkeit des Kindseins verflüchtigt und verflogen. Ich verbringe die mir noch bleibenden Tage meines Lebens in einem Dunst schopenhauerischer Vorstellungen, darunter die Wahrheit zu entdecken ich zumindesten des 800 Seiten fetten Buches "Wahrheit" von Karl Jaspers bedürfte, ein Band der wegen mangelnden Willens wie er bekanntlich zur Vorstellung gehört, seit sechzig Jahren ungelesen auf Bücherregalen Staub fängt. Inzwischen hat sich mein Verständnis verwandelt. Schon seit langem erscheint mir die Sprache nicht mehr als Schlüssel den Schrank der Wahrheit zu öffnen, sondern ehr als ein Schutzschirm der dient sie zu verbergen. Denn dass mir heute, mit 88 Jahren, die Wahrheit erträglich wäre ist so unvorstellbar wie dass es mir gelänge einen Sack Kartoffeln auf meine Schulter zu heben. Ich betrachte einerseits das Preisen, und andererseits das Beklagen meines Alltags wie die entgegengesetzten Ende eines Trapezstabes dessen der Seilkünstler sich bedient um sein Gleichgewicht zu bewahren, wohl bemerkt dass einerunser unfähig ist irgendwo zu bestehn als zwischen den beiden Enden, in der Mitte, wo er sich im Gleichwicht, will sagen, im Recht befindet. Ein Absturz in die Tiefen, in den Abyss des Unrechts wäre so schrecklich dass er undenkbar ist. Damit ist meine Situation deren Inhalt sich jeglicher Beschreibung sträubt, formell bezeichnet. Nichts bleibt übrig als Euch meine dankbaren Hochsommergrüße mitzuteilen. Euer Jochen * * * * * * From: "Bernd Strangfeld" To: Ernstmeyer Subject: Immer noch Sommer Date: Thu, 2 Aug 2018 13:31:36 +0200 Lieber Jochen, inzwischen hast Du hoffentlich meinen postalisch beförderten Brief bekommen? Wie überstehst Du die Hitze - oder ist die bei Euch gar nicht so außerordentlich? Hier ist es das allererste Thema, und die damit leider verbundene enorme Trockenheit, die der Natur einen etwas melancholischen Ausdruck verleiht. Wir gießen und wässern mit dem Schlauch, täglich, weil wir den Pflanzen das Leben und uns die Freude an ihnen erhalten wollen. Schlimm ist es für viele Tiere. Selbst die Amseln wirken erschöpft. Dabei gibt es immer hin unseren kleinen Teich, den wir schon etliche Male nachgefüllt haben, sonst wäre er eine Wüstenlandschaft. Naja. Aber es ist ein großartiger Sommer, ganz trockene Luft, Sonne meist von früh bis spät, Temperaturen 30° und mehr. Jeder Tag bringt neue Rekorde. 35° schaffen wir auch in Kierspe. Aber sich vorzustellen, dass es so noch mehrere oder gar viele Wochen bleiben könnte, ruft doch Panik hervor. Wir können unser Haus hinreichend kühl halten, und nachts kühlt es auf unter 20° ab. Eigentlich ein Traum. Nur einige himmlische Gießkannen voller sanftem Regen würde das Glück vollkommen machen. Bernd hat eine Woche an einem Orchester-Workshop in der Nähe von Niebüll teilgenommen - hatte ich das schon berichtet? Eine private Vereinigung von musikbegeisterten Nicht-Profis, die sich zweimal im Jahr treffen, gemeinsam üben und zum Abschluss ein kleines Konzert geben. Diesmal gab es 14 Zuhörer, wohl wegen der Hitze nur so wenige, aber trotzdem hat es allen Freude gemacht. Zum erstenmal war ein Kontrabass dabei - Bernd eben - und der Zugewinn bestand in einem doch sehr viel volleren Klang, was allgemein erfreute. Bernd ist froh, auf seine alten Tage noch so tauglich zu sein. Kluge Gedanken, sofern ich sie überhaupt jemals habe, verdunsten in der Wärme. Ich rekurriere auf Altvertrautes, etwa die Nibelungen Lesungen auf CD von meinem hochgeschätzten Mittelalter-Professor Peter Wapnewski, den ich in Heidelberg Anfang der Sechziger mit Begeisterung und Faszination gehört habe - eigenartig und so nah die Stimme - oder die Lohengrinsage, nachdem ich in 3Sat die Übertragung der neuen Bayreuth-Inszenierung gesehen habe. Im Gegensatz zu den beiden Frundinnen, mit denen ich darüber telefoniert habe, fand ich die Inszenierung nicht besonders gut, eher in vieler Hinsicht nahezu parodistisch, karikaturmäßig. Macht nichts. Anregend ist so etwas ja allemal. Und Reiner Kunze habe ich wieder gelesen, "Am Sonnenhang", ein Tagebuch des Jahres 1992. Das wirst Du nicht kennen, beschäftigt sich sehr mit dem Einfluss der Stasi auf Schriftsteller und mit dem Misstrauen westdeutscher Linker gegenüber DDR-Dissidenten. Haarsträubendes ist da geschehen. Und dann habe ich Musäus hervorgeholt und staune über den hochgradig elaborierten Stil , der manchmal mühsam zu lesen ist, und ergötze mich an der immer wieder auftauchenden Ironie. Immer wieder stehe ich vor unseren Bücherregalen und finde so vieles, das ich gerne noch einmal und überhaupt zum ersten Mal lesen möchte, greife manches heraus, weiß aber natürlich, dass vieles ungelesen bleiben wird. Sooo schade! #Derweil hat Bernd das Mittagessen geschaffen, Pellkartoffeln und Gurkensalat mit ein paar Kräutern aus dem Garten. Für den Nachmittag ist nichts geplant, zu heiß! Deshalb verabschiede ich mich. Komme gut durch den Sommer, wünschen Dir Deine Gertraud und Bernd. * * * * * * To: Bernd Strangfeld From: Ernst Meyer Subject: am 9. August 2018 Date: Thu, 9 Aug 2018 16:44:03 -0400 Liebe Gertraud, lieber Bernd, Vielen Dank für die beiden Briefe, der elektronische erschien am Morgen des 2. August 2018 in meinem Rechner, der gedruckte mit den Blumenbildern aus Euerm Garten lag spätnachmittags am selben Tag im Postkasten vorm Haus. Dem Internet entnehme ich dass die Hitze in Eurer Gegend sich inzwischen ein wenig gemildert hat. Mögen sich die Pflanzen, die Tiere, und auch Ihr Euch erholen! Hier in Belmont herrscht gleichfalls ein heißer Sommer, doch vielleicht nicht so beklemmend wie bei Euch. In den oberen Etagen des Anbaus, wo ich meine Tage verträume und meine Nächte verschlafe, sorgt die zentrale Kühlanlage für angenehm gemäßigte Temperaturen. Über die Außenwelt, also, ist nicht zu klagen. Das Viele das von der Innenwelt zu berichten wäre ist kein Stoff für einen Brief der bezweckt die Freundschaft zu nähren und zu erhalten. Eher sollte es in ungelesenen (und unverstandenen) Gedichten, Geschichten und Romanen grabsteinlos bestattet werden. Franz Kafka wo bist du, wenn wir deine Kunst so dringend bedürfen? Der Begriff Wahrheit ist ein verheißungsvoller Schlüssel, aber ins Schloss der Lebenslüge (vgl. Ibsen, Wildente) lässt er sich nicht fädeln. Mir scheint, es gibt so viele Lebenslügen wie es Menschenlebenstage gibt; denn ich jedenfalls entdecke mich jeden Morgen mit der Erfindung einer neuen Dichtung beschäftigt, mittels derer ich mich geistig gerechtfertigt und verklärt in den zeitlichen und räumlichen Mittelpunkt meiner Weltvorstellung schiebe. Das, so scheint es mir, ist der eigentliche Sinn meines beständigen Schreibens. Vielleicht wiederhole ich mich mit dem Bericht, dass am 26. Juli, Klemens und ich einen zwei Tage langen Besuch auf einem Bauerngut in Wisconsin machten, um bei der Zerstreuung der Asche meiner Kusine Marion die am 23. November 2017 in ihrem 78. Lebensjahre starb, zugegen zu sein. Sie war eine äußerst intelligente und geniale Frau der es nicht gelungen war - oder die es verschmäht hatte - eine Familie zu gründen. Klemens und ich waren ihre einzigen überlebenden Verwandten. Jetzt bin ich im Begriff die anregende, jahrelang währende Korrespondenz zwischen Marion und mir zusammenzustellen. Im Rückblick sind es ergreifende Biographien eines jeden von uns. Herzliche Spätsommergrüße Euch beiden! Jochen * * * * * * From: "Bernd Strangfeld" To: Ernstmeyer Subject: Aufbruch nach Frankreich Date: Thu, 30 Aug 2018 12:17:51 +0200 Lieber Jochen, irgendwie ware die letzten Wochen ziemlich turbulent, keine Muße für besinnliches Schreiben, aber nun, eine knappe Stunde vor dem Aufbruch, wenigstens ein paar Zeilen. Danke für Deinen Brief von vor kurzem. Die nächsten Wochen werden wir in Frankreich verbringen, zunächst in dem geliebten St.-Pierre, dann eine Woche bei meinem Vetter, auf der Rückreise einige Tage bei Freunden in Auxerre in Burgund. Im Spätsommer packt mich immer die Reise-und Veränderungslust, gelichzeitig tut sich auch vieles im Garten, so dass der Abschied schwerfällt. Gerade habe ich eine Weihnachtskarte samt Geschenk an mein Plan-Patenkind in Ecuador geschickt, bizarr in dieser Jahreszeit, aber die Sendungen sind einige Monate unterwegs. Nachbarb werden sich um wasserbedürftige Pflanzen im Garten kümmern, eine Freundn wird die schnell verzehrten Meisenknöde nachfüllen, Mitte Septemer kommen zwei Gäste aus frankreich (nicht mit uns bekannt), um am Kiersper Stadtfest teilzunehmen, der Städte-Partnerschaftsverein suchte Unterkünfte, da haben wir uns gemeldet. Immer ein wenig aufregend, solch eine Situation: Sieht auch alles wenigstens einigermaßen sauber und ordentlich aus? Na, wir hoffen es. Das Auto ist fast fertig gepackt, jetzt noch einmal die lange Liste durchgucken, dann Türen zu und los. Heute bis Neuenburg an der Grenze, morgen bis Pérouge bei Lyon - ein Städtchen wie aus dem Bilderbuch, wir waren vor 24 Jahren auf der Durchreise mit meiner Schwester dort und wollten immer mal ein wenig mehr Zeit haben - , und am Sonnabend dann St.-Pierre. Mal sehen, ob unser Nachbar noch lebt und seine Katzen und sein Hund, und ob noch Spuren von unserem Garten zu sehen sind.Viele herzliche Grüße! Gertraud und Bernd. P.S. Keine Zeit zum Korrigieren! * * * * * * To: Bernd Strangfeld From: Ernst Meyer Subject: am 3. September 2018 Date: Mon, 3 Sep 2018 00:37:32 -0400 Am 3. September 2018 Liebe Gertraud, lieber Bernd, Vielen Dank für den Brief bei Euerm Aufbruch nach Frankreich, besonders dass Ihr Euer Packen unterbracht um mir zu schreiben, wo Ihr zur Zeit so viel mehr Dringendes zu überlegen hattet. Wie Ihr wisst, ist mit meinen 88 Jahren, mein Reisen, abgesehen von dem Flug nach Wisconsin vor einem Monat, beschränkt auf Fahrten mit Klemens nach Nantucket zwecks der allzu langsamen Fertigstellung des Hauses dort. In Konnarock waren wir Anfang Juni, und haben bis heute keine Pläne für den nächsten Besuch. Besinne ich mich recht, so hab ich Euch berichtet, dass Jeane Walls ihr Haus in Konnarock verkauft hat und etwa 50 Km nach Abingdon gezogen ist, und dass unser Haus, wo Ihr uns seinerzeit besuchtet, nunmehr von einem sehr freundlich gesinnten, sich im Ruhestand befindenden CIA Polizisten mit berufsmäßiger Tüchtigkeit überwacht wird. Gesundheitlich geht es mir scheinbar verhältnismäßig gut. Da ich mein eigener Arzt bin, könnte es kaum anders sein. Denn nur arztlos, scheint mir, vermögen wir ruhig zu leben, und friedlich zu sterben. Meine verrosteten Hüftgelenke erschweren das Gehen, aber von zwei, oder auch nur einem Stock gestützt, komme ich hin wo ich will, wenn auch nur langsam, - und die Wendeltreppe auf die Ihr Euch besinnt, klettere ich zuversichtlich auf und ab. Außerdem bemerke ich zunehmende Schläfrigkeit, indem ich nach sogar neun Stunden festen Schlafs im Bett, während der Morgenstunden regelmäßig im Sitzen über dem Rechner einschlafe, - vielleicht ist's ein Maßstab wie langweilig ich mir selber bin. Nachmittags und abends bin ich dann völlig erwacht. Besinne mich wie Margaret jetzt vor drei Jahren von Tag zu Tag zunehmend schläfriger wurde mit kürzer und kürzer werdenden Bewusstseinsunterbrechungen, bis sie schließlich in den letzten drei Tagen überhaupt nicht mehr erwachte. Wer weiß was mir bevor steht. Mein 27 Jahre alter Enkel Nathaniel der seit dem 2. Januar dies große Haus mit mir teilte, ist ausgezogen um sich eine eigene Wohnung zu suchen, ohne dass es ihm möglich ist, die Ursache seiner Unzufriedenheit mit seinem Großvater auszusprechen. Meiner Beobachtung gemäß sind junge Menschen im allgemeinen vorm sehr hohen Alter geängstigt; denn sie möchten nicht daran erinnert werden dass auch sie eines Tages alt werden, die sie in ihrer Kindheit mit dem Tod nur als erleuchtete Kürbisschale und anderen Hallowe'en Possen vertraut geworden sind. Dabei ist mir meine Abgeschiedenheit angenehm und keineswegs bedrückend oder gar beängstigend. Ich bin dankbar für meine Einsamkeit. Mit meinen Versuchen zu schreiben fahre ich fort. Wie sinnvoll die Ergebnisse, wage ich nicht zu beurteilen, und ist vielleicht auch in Abwesenheit aller Leser, eine überflüssige Frage. Die Entscheidung über die Bedeutung dieses Briefes als Schreibübung liegt schließlich in Euerm Bereich als Zensur erteilende Lehrer. Ich wünsche Euch angenehme und ersprießliche Ferien. Euer Jochen * * * * * * From: "Bernd Strangfeld" To: Ernstmeyer Subject: Dein Brief vom 3.September Date: Tue, 9 Oct 2018 12:54:15 +0200 Lieber Jochen, es tut mir sehr leid, dass ich Deinen schönen, melancholischen Brief nicht viel eher beantwortet habe - aus vielerlei Gründen geschieht das so spät, der Hauptgrund ist unser vierwöchiger Frankreichaufenthalt, dessen Tage proppenvoll waren, zu unserer Freude, weil wir so viele Freunde getroffen haben und fast immer sehr beschäftigt waren, außerdem einige Lieblingsplätze unbedingt wiedersehen wollten, unseren geliebten !Botanistenweg" um die Südspitze des Mont Aigoual auf jeden Fall bewandern wollten, hier ud da eine Tasse Kaffe trinken, Schmetterlinge fotografieren, und - entgegen allen ganz festen Vorsätzen - doch wieder den lächelnden Erscheinungen der kleinen runden Pflaumen am Rande unseres Grundstückes nicht widerstehen konnten, sie abgepflückt haben (wobei bern leider ein teures Hörgerät unauffindbar verloren hat) undviel Marmelade eingekocht haben - mit geschenkten Schraubgläsern, einer geborgten Waage und in Supermärkten gekauftenm DR.-Oetker-Gelierzucker. Ziemlich verrückt, aber es hat solchen Spaß gemacht! Wir kommen und in solche Situationen immer vor wie die Goldmarie im Märchen von Frau Holle, die dem Zuruf der reifen Äpfel antwortet, weil sie sie nicht enttäuschen will. Naja, jedenfalls warn es herrliche zwei Wochen, viel zu kurz, und danach fuhren wir weiter zu meinem Vetter und seiner Frau, mit dem wir eine Woche lang intensive Gespräche über die Weltlage führten und außerdem eine ungeheure dornröschenhafte Brombeerhecke abgeschnitten haben, wodurch ein luftiges, blühfähiges Stück Landschaft wiedererstand. Auf der Rückfahrt noch ein paar Tage bei einem ungeheuer musikkundigen Ehepaar in Auxerre in Burgund besucht, dort auf einem gröeren Spaziergang endlich mal Regen erlebt, der uns am äußersten Ende unserer Wegstrecke ereilte, lang und gründlich, so dass wir bis auf die Haut durchnässt glücklich das Haus erreichten und uns freuten über den dringend nötigen nassen Segen. Gerade haben wir für Mai/Juni nächsten Jahres wieder für 4 Wochen "unsere" Vicaisie gemietet, hoffentlich klappt es. Wir lieben nun mal diese Erdengegend. Auch dort bleibt leider - zum Glück für die Kommune - die Zeit nicht stehen, es wird etwas gebaut, einige Leute ziehen in das Örtchen, das ja in unseren ersten Jahren außer uns nur drei Einwohner hatte. Dazu kamen, unregelmäßig, die Touristen, es gabe aber, vor allem im Winter, auch etliche touristenlose Wochen. Andererseits haben wir unter den Touristen auch Freunde gefunden. Hier in Kierspe hält das trockene, sonnige Wetter unbeirrt an. Immer noch blüht einiges, Dir werden Herbststern (Michelmas Daisies) ein Begriff sein, ud vielleicht erinnerst Du Dich, wieDu und Margaret und 2004 (?) im September zu einer Farm mitgenommen habt, wo Mengen von goldenen Goldruten (Soldago) und verschiedenfarbigen Herbstasteern blühten, einfrig besucht von dem wunderbaren Schmetterling Monarch. Außerdem gab es dort köstliches Eis. Und wir gingen durch einen etwas sumpfigen, herrlich bunten Herbstwald. Kommendes Wochenende fahren wir nach Köln zum jährlichen Treffen meiner Goslarer Abiturklasse. Diesmal war ich mit der Organisation beauftragt, hoffentlich habe ich alles richtig gemacht. Zwei Tage später brechen wir doch noch einmal zu einer Reise auf, nach Großbritannien, das uns durch seinen Brexit-Beschluss immer noch verstört. Wir wollen unsere Freunde bei Glasgow und bei Buckingham besuchen, vor dem Winter, der alten und schwächlichen Leuten nicht hold ist.Und jetzt gleich mache ich mit einer BUND-freundin, die kommenden Sonntag eine Pilzexkursionanführen wird, unsere dritte Voruntersuchung. Wegen der anhaltenden Trockenheit ist pilzlich sehr wenig los dieses Jahr, ganz im Gegensatz zum vorigen Herbst, der wahre Wunder vollbrachte. Und für den Nachmittag habe ich eine alte Freundin, unsere ehemalige Bibliothekarin, zum Sitzen unf der Gartenbank eingeladen. Dies ist noch kein hinreichender Brief lieber Jochen, aber ein Anfang. Ich bin gar nicht auf Deinen Brie eingegangen, das möchte ich aber, bloß ist jetzt nicht der rechte Moment, also die richtige Zeit. Bis bald mal wieder! Ich stelle mir vor, wie Du mit Deinem gedankenreichen, äußerlich ruhiger gewodenen Leben fortfährst und Hoffentlich von körperlichen Leiden kaum geplagt wirst. Mit ganz herzlichen Grüßen Deine Gertraud und Bernd. P.S. Die Sonne blendet, keine Zeit, die bestimmt vielen Fehler zu korrigieren. Bitte um Nachsicht! * * * * * * To: Bernd Strangfeld From: Ernst Meyer Subject: am 21. Oktober 2018 Date: Sun, 21 Oct 2018 15:47:35 -0400 Liebe Gertraud, lieber Bernd, wieder einmal herzlichen Dank für Euern Brief, der mich, wie stets, an die Brennpunkte Eueres Lebens erinnert, die Reisen, die Freundschaften und die Liebe zu Tieren und Pflanzen. Das sind Vorteile, Begünstigungen, auf die ich neidisch sein könnte, wenn ich statt so selbstzufrieden wie ich es nun einmal bin, ein neidischer Mensch wäre. Die Welt in welcher ich mich heute befinde hat Hölderlin einst überzeugend beschrieben: Am Abendhimmel blühet ein Frühling auf; Unzählig blühn die Rosen und ruhig scheint Die goldne Welt; o dorthin nimmt mich Purpurne Wolken! und möge droben In Licht und Luft zerrinnen mir Lieb' und Leid! Doch, wie verscheucht von töriger Bitte, flieht Der Zauber; dunkel wirds und einsam Unter dem Himmel, wie immer, bin ich Komm du nun, sanfter Schlummer! zu viel begehrt Das Herz; doch endlich, Jugend! verglühst du ja, Du ruhelose, träumerische! Friedlich und heiter ist dann das Alter. Es sollte mich wundern wenn ich Euch diese Strophen nicht schon vormals, vielleicht mehrere Mal zitiert habe. Sollte ich mich schämen es zu bekennen: Friedlich und heiter ist auch mein Alter. Ich habe es nicht verdient. Ich sende Euch meine herzlichen Wintergrüße. Jochen * * * * * * Subject: Aw: am 21. Oktober 2018 Date: Tue, 23 Oct 2018 17:51:03 +0200 From: Bernd Strangfeld To: Ernst Meyer Lieber Jochen, nur ganz ganz kurz, wir sind gerade von unserer einwöchigen Besuchsreise zu Freunden un Schottland und England zurückgekehrt, zufrieden, dass wir uns auf die Reise begeben haben, aber etwas ermattet und ein wenig ruhebedürftig. Danke herzlich für das schöne Hölderlin-Gedicht. Nein, ich glaube nicht, dass Du uns damit schon bekannt gemacht hast. Bis bald, wenn ich mich von der Reise erholt habe! England und Südschottland sind sehr dichtbefahrene Länder, anstrengend zu befahren. Bis bald! Liebe Grüße, Gertraud und Bernd. * * * * * * Subject: überfällige Antwort Date: Wed 31 Oct 2018 15:01:03 +0200 From: Bernd Strangfeld To: Ernst Meyer Lieber Jochen, dies ist ein erneuter Anlauf, auf Deinen brief vom 3.September zu antworten. Antworten ist schwierig, weil Du Deine Stimmung beschreibst, die ich mir durchaus vorstellen kann, aber außer dieser Feststellung weiß ich nichts Rechtes beizutragen. Ich stelle mir vor, wie Du in Deinem schönen großen Haus etwas mühsam auf und ab gehst, die notwendigen Dinge erledigst und wahrscheinlich überwiegend in der Vergangenheit lebst, Gedanken, Erinnerungen aufschreibst, vielleicht über manches anders denkst als früher, wiederum darüber nachdenkst, wunderbare Gedichte zitierst oder nachliest - oder kannst Du all das, was Du uns so freundlich mitteilst, auswendig? Und ich versuche mir vorzustellen, was ich wohl in einer ähnlichen Situation tun würde. Wahrscheinlich alte Briefe lesen, vor allem Fotos betrachten, vielleicht im ein oder anderen Bestimmungsbuch nachschlagen, alte Tagebücher nachlesen und versuchen, mich zu erinnern. Es ist ja schon ein umfang-und inhaltsreiches Leben, das Du und ich mit unseren geliebten Partnern geführt haben. Je länger man darüber nachdenkt, umso mehr fällt einem wieder ein. Es muss eine Freude an sich sein, die Sinnfrage stellle ich lieber nicht. Ja, Nathaniel. Hattet Ihr nicht ein gutes, enges, verständnisvolles Verhältnis zueinander? Ich meine mich zu erinnern. Aber das ist schon länger her. Ich habe immer noch die allerbesten Erinnerungen an ihn. Schade, dass er Dir nun fehlt. Während Du in Deinem Schlösschen einsam residierst, fuhrwerken Bernd und ich noch ein wenig in der näheren Welt umher, weiles uns körperlich noch ziemlich gut geht. Kaum aus Frankreich zurück, wo wir viele innige Begegnungen mit über die Jahre gewonnenen Freunden hatten, erlebten wir in Köln ein gelungenes Treffen meiner Goslarer Abiturklasse, das diesmal ich zu organisieren hatte. Alles hat bestens geklappt, strahlendes Sommerwetter trug erheblich dazu bei, der Dom beeindruckte wie immer gewaltig, die Ausgrabungen des römischen Praetoriums ebenfalls, zumal wir dabei eine ungemein kundige Führung eines phantastischen Führers erleben durften. Alles ganz im Zentrum, mühelos zu Fuß zu erreichen, was doch immer wichtiger wird. Der Rhein, die vielen Türme, alle Welt draußen , enorm viele Menschen in guter Stimmung, das Abendessen in geschichtsträchtigen, malerischen Gebäuden in der Altstadt, und alle Klassenkameradinnen mit Partnern - Gatten - froh, einander zu sehen , es gab viel zu erzählen - also, es war eine Freude. Und am Tag nach unserer Abfahrt gab es einen wilden Anschlag mit Geiselnahme mitten im Bahnhof, wo viele von uns auf ihre Züge gewartet hatten. Zwei Tage später fuhren wir für eine Woche nach Britain, unsere alten Freunde zu besuchen, die einen südlichvon Glasgow, die anderen bei Buckingham. Wir kennen uns schon ein halbes Jahrhundert und haben immer das Gefühl, uns gerade gestern zuletzt gesehen zu haben. Wer weiß, wie lange das noch so geht. Die schottischen Freunde halten Besuch nur noch etwa anderthalb Stunden pro Tag aus - wir sehen sie an zwei Tagen - , und unser Freund Bill, den wir 1967 als Referendare in Lüneburg kennen-und lieben lernten, erlitt zwei Tage nach unserer Abreise einen sehr scnweren Schlaganfall, von dem er sich wohl nicht mehr erholen wird. Das macht trübsinnig. Du siehst, wir sind mehr anderswo als in Kierspe emotional verankert, aber in unserem Haus fühlen wir uns sehr wohl. Gestern hat es schon mal versuchsweise geschneit, dann aber aufgegeben. Immerhin hat es auch tüchtig geregnet, endlich, denn das Land seufzt unter hemmungsloser Dürre. Der Rhein ist schon langhe nur noch zum Teil beschiffbar, die Talsperren sind mindestens halb leer, viele kleinere Bäche und Teiche sind längst ausgetrocknet. Wahrscheinlich werden wir uns nach etwaigen zehn Tagen Regen über ewiges Regenwetter beklagen. Lieber Jochen, ich wünsche Dir, dass Du Dich weiterhin einigermaßen zufrieden fühlst mit Deiner Umwelt und Deinen vielen Gedanken und Erinnerungen. Viele liebe Grüße, Deine Gertraud und Bernd.