From: Niels Holger Nielsen To: ernstmeyer@earthlink.net Subject:Komplexität, Ihre außergewöhnlichen Briefe aus Belmont Date: Sat, 17 Nov 2018 04:17:28 +0100 (11/16/2018 10:17:28 PM) Lieber Herr Dr. Meyer, wieder einmal habe ich zu danken für anregende, in Gehalt und Stil bestechende Briefe, die den Rezipienten erfreuen, aber auch vor nicht geringe hermeneutische Herausforderungen stellen. Dabei ist alles klar und einleuchtend formuliert, schwierig wird es erst, wenn der Leser die dynamische Entwicklung der Gedanken, die sich bis zur Metadialektik steigert, in ihrer argumentativen Bewegung nachvollziehen will. Das liegt wohl daran, dass Sie sich auf sehr komplexe Sachverhalte beziehen und eine Reihe von methodischen Ansätzen synthetisieren, um dabei immer wieder zu markanten Zwischenergebnissen zu kommen. Und ich beziehe mich hier n u r auf Ihren Brief vom 12. November. Keine Spur davon, dass da “Denken sich in Unsinn auflöst”, im Gegenteil, der Leser, wenn er sich denn angemessen bemüht, wird mit authentischen Modulen des menschlichen Geistes, die sich zu einer Synopse fügen, belohnt. In meinem Fall allerdings erst, nachdem ich mir über fünf bis sechs Seiten handschriftliche Exzerpte gemacht hatte (cf. den Bildanhang, der ein wenig davon zeigt). Der Neckar, der noch Wasser führt, und das Große Heidelberger Fass, das schon lange nicht mehr gefüllt wird, sind sicher Embleme für die Aufladung des Geistes mit neuer Energie. Aber da haben Sie erkennbar keinen Mangel und können den mythischen Fluss und das renommierte Fass (Melville) als spielerischen Referenzrahmen einführen. Besorgt bin ich freilich darüber, dass Sie sich gesundheitlich nicht wohlfühlen. Ich hoffe sehr, dass Sie in dieser Hinsicht jegliche verfügbare Hilfe annehmen, auch wenn Sie als Arzt in mancherlei Hinsicht skeptisch sind. Sie hatten Ihren Brief am 9. November begonnen, dem 80. Jahrestag des unsäglichen Pogroms in Deutschland. Angesichts der unaufhebbaren Schuld kann nicht von Bewältigung gesprochen werden, aber es ist sehr gut, dass unermüdlich neue Forschungsergebnisse zu den grauenhaften Ereignissen vorgelegt werden. Sie fragen sich, wer sich für Ihr ‘Privatmuseum’ interessieren könnte. Die an Ihrem Netzort versammelten vielfältigen Schriften werden ihr Schicksal haben, wie es allen Büchern zukommt. Da ist so viel wertvolle Substanz enthalten, dass eine sorgfältige Archivierung mit einem hilfreichen Vorwort ein Desiderat ist. Das Erleben ist der komplexe Modus unserer Weltaneignung. Es käme darauf an, diese Komplexität in der sprachlichen Festschreibung dennoch zu erhalten. Damit sind endlos viele Schwierigkeiten verbunden, von denen die schwierige Vermeidung der Stilisierung nur eine ist. Ob das Erleben unabhängig von und vor Sprache und Denken existiert, erscheint mir fraglich. Das Denken - und damit Sprache - begleitet alle meine Vorstellungen. Es ist durchaus folgerichtig, wenn Sie der “pervasive duality” eine fundamentale Funktion zuschreiben, die ein Denken in Gegensätzen und damit dialektische geistige Prozesse begründet. Sehr bemerkenswert sind Ihre Ausführungen zur Zwiestellung des Menschen, denen Sie dann einen theologischen Exkurs folgen lassen, in dem die Dualität Glauben und Kirche in einen Gegensatz bringt, der, wenn ich recht verstehe, den subjektiven Ermöglichungsgrund für den Glauben des “wahren” Christen liefert, in Abgrenzung gegen alle Dogmatik, Hier, glaube ich, sehen Sie die gesellschaftlichen Mächte und Institutionen zu negativ (Einschränkung der Urteilsfähigkeit). Immerhin sehen Sie Handlungsmöglichkeiten im Politischen. Der Zustand, in dem die Welt sich zur Zeit befindet ist beklagenswert, weil deutlich erkennbar Verhaltensmuster des Autoritären und Menschenfeindlichen sich etablieren, die man längst für dauerhaft überwunden geglaubt hatte. Ich halte konstruktiven Widerstand dagegen für dringend geboten, aber auch für möglich. Voraussetzung für alle Bemühungen sind freilich geklärte Begriffe und intersubjetiv vermittelbare Argumente. Den Versuch, das zu leisten, sehe ich in Ihrem Brief, der in dialektischer Bewegung in einer fortgesetzten Kette von Gegensätzen letztlich die Komplexität der Welt und des Lebens als eine unablässige Herausforderung an den menschlichen Geist zu begreifen lehrt. Den scheinbaren Pessimismus, der die Komplexität der Welt, “die sich weder ästhetisch, noch ethisch, noch epistemologisch richten lässt”, beschwört, erkenne ich als einen Appell, ganz im Gegenteil in immer neuen Anläufen, sich den Herausforderungen zu stellen. Lieber Herr Meyer, aus Belmont schickt uns Alexander heute erste Bilder vom Schnee. Wir werden in gehabter Weise wieder Weihnachten in der School Street verbringen. Leider hat meine Frau noch erheblich mit den Folgen ihrer Knieoperation zu tun. Wir freuen uns darauf, Sie wiederzusehen. Herzliche Grüße, auch von meiner Frau, Niels Holger Nielsen .