Lieber Herr Nielsen, Schon wieder! Ich schäme mich Sie schon wieder mit einem Brief zu belästigen. Ursache ist, dass unser Briefwechsel mein Denken anregt. Das Gedachte will geschrieben, das Geschriebene verlangt gelesen, und deshalb abgesandt zu werden. Entschuldige mich dann mit der Vorstellung ich möchte am Ende das Geschriebene vielleicht doch nicht absenden, und tue es dann meistens doch, der Vollständigkeit halber, und um das Gedankengtreiben jedenfalls vorläufig zu beschließen. Vorerst aber eine Bitte: Vor einigen Wochen, haben Ihr Sohn und Ihre Schwiegertochter mir eine Einladung zu einer Gesellschaft, bei der auch Sie und Ihre Frau anwesend sein werden, zukommen lassen, eine Einladung die leider in meinem Rechner verschollen war, eh ich Gelegenheit hatte zu antworten. Bitte bestellen Sie Ihren Kindern, dass ich kommen möchte, und bitte teilen Sie mir noch einmal den Tag und die Stunde mit, denn auch die sind mir entkommen. Wenn mein Brief bei Ihnen den Eindruck hinterlassen hat, dass meine Gesundheit zu wünschen übrig ließe, hab ich Sie irre geführt, denn tatsächlich fühle ich mich geistig sehr wohl, und darauf kommt es an, denn die Gedanken verwandeln alles was sie streifen. Hölderlin hat von dem was ich zu erleben meine, in den abschließenden Strophen seiner Abendphantasie erzählt: Am Abendhimmel blühet ein Frühling auf; Unzählig blühn die Rosen und ruhig scheint Die goldne Welt; o dorthin nimmt mich, Purpurne Wolken! und möge droben In Licht und Luft zerrinnen mir Lieb' und Leid! - Doch, wie verscheucht von thöriger Bitte, flieht Der Zauber; dunkel wirds und einsam Unter dem Himmel, wie immer, bin ich - Komm du nun, sanfter Schlummer! zu viel begehrt Das Herz; doch endlich, Jugend! verglühst du ja, Du ruhelose, träumerische! Friedlich und heiter ist dann das Alter. Der Körper, mit seinem Weh und Ach, wird durch Wille und Vorstellung verwandelt und erlöst. Als achtundwanzigjähriger schrieb Rilke in sein Stundenbuch: O Herr, gib jedem seinen eignen Tod. Das Sterben, das aus jenem Leben geht, darin er Liebe hatte, Sinn und Not. Seit Jahren beschäftigt mich der Gedanke, dass ein jeder von uns nicht nur sein eigenes Sterben, auf das Rilke hinwies, nötig hat, sondern gleichfalls ein eigenes Kranksein, das so notwendig ist wie eine eigene Gesundheit. Denn leben heißt nicht nur gesund sein es heißt auch krank sein. Die vielen unstreitbar wertvollen Errungenschaften der modernen wissenschaftlichen Medizin, verleiten den Patienten zuversichtlich zu sein, dass alle Gebrechen des Körpers und des Geistes vermeidbar oder behebbar sein werden, wenn nicht heute, dann morgen. Was übermorgen geschehen wird, überlasse ich den Propheten. Heute und morgen aber walten Leben und Sterben im Schatten der Krankheit. Die 68 Jahre meiner ärztlichen Tätigkeit hab ich verbracht, bedrängt von der unlöslichen Frage nach den Wahrscheinlichkeiten ob die vorgeschlagene Behandlung des Patienten Wohlsein vergrößern oder vermindern wird. Manchmal kommt es mir vor ich wäre Arzt geworden aus Angst, aus Angst vor der eigenen Krankheit und vor dem eigenen Tod, Ich meinte die Selbstmacherei diene am geeignetsten,diese Ängste zu beschwichtigen. Gestern oder Vorgestern, gelegtlich einer Aussprache mit meinem Sohn, entfuhr mir der aufgeblähte Protz, ich hätte Angst vor nichts, es sei denn vor ICU, (intensive care unit), vor der Intensivstation. In der Spur meiner schamlosen Kritik an Aristoteles, und besonders an Kant, erinnere ich mich an die Begeisterung als ich als sechzehnjähriger zum ersten Mal Kants Kritik der reinen Vernunft und seine Kritik der Urteilskraft las. Heute meine ich dass ich die Verwandlungen denen mein Denken sich in den seither verflossenen zweiundsiebzig Jahren unterzogen hat, als einen Schlüssel ergreifen sollte, einerseits um das philosophische Schrifttum selbst, und andererseits um das Verständnis dieses Schrifttums zu verstehen. Bei Kants Erkenntnislehre hielt mich in ihrem Bann seine "kopernikanische Wendung" welche meinem Verstehen gemäß die sachliche objektive "Wirklichkeit" des Seienden in einen mir unerreichbaren transzendentalen Bereich verlegte. Damit erkläre ich mir warum Schopenhauer und die anderen Verehrer Kants des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts ihn bewunderten. Nicht weniger zwingend erlebte ich Kants Ethik, sein Postulat eines bedingungslosen kategorischen Imperatifs der den Willen, die Subjektivität des Einzelnen mit den universellen Allgemeingesetzen innig und untrennbar verschmilzt. Damals verehrte ich jenen kategorischen Imperatif als Bestätigung der Unbedingtheit meines eigenen Ichs, und somit die Versöhnung des Innen mit dem Außen. Heute verstehe ich den kategorischen Imperativ als Opfer der Seele auf dem Altar der Vernunft. Heute erkenne ich die vermeintlich universellen Gesetze als logische Phantasmagorien. Bei diesem Erwägungen besinne ich mich lebhaft auf die Umstände unter denen ich als junger Mensch mit dem Denken der griechischen Philosophen, Spinozas, und auch mit den Lehren Kants in Berührung kam. Es war in Vorlesungen von einem gutmütigen, genialen griechisch-amerikanischen Gelehrten, Raphael Demos, dessen jüngste Schwester viel viel später als ich Augenarzt geworden war in meiner Praxis als Patientin erschien. Ich hörte die Vorlesungen von Professor Demos zusammen mit einem wesentlich älteren Studienfreund, der während des Krieges in der amerikanischen Marine gedient hatte, und verständiger war als ich. Er war ein dem Trinken anheimgefallener irischer Katholik der alles verstand und nichts mehr glaubte, und mit nüchterner Miene meine Bewunderung für Kant erwiderte: You mean to tell me you believe all that nonsense? Er hieß Aloysius McCabe, ist längst verstorben. In meinem Roman Döhring hab ich ihm unter dem Namen Murphy ein Denkmal gesetzt. http://home.earthlink.net/~ernstmeyer/andere/kk15.html http://home.earthlink.net/~ernstmeyer/andere/kk16.html http://home.earthlink.net/~ernstmeyer/andere/kk29.html http://home.earthlink.net/~ernstmeyer/andere/kk41.html http://home.earthlink.net/~ernstmeyer/andere/kk42.html Bei Kants kopernikanischer Wendung, bei seinem kategorischen Imperativ, so wie auch bei Schopenhauers Entdeckung der Welt als Wille und Vorstellung scheint es mir, dass der wesentliche Gedanke, die entscheidende Einsicht in nur wenigen Worten angedeutet zu werden verlangt, weil der Gedanke, weil die Einsicht unmittelbar anschaulich und intuitiv überzeugend ist, indessen der Befürworter es für notwendig hält sie mit einer Beweisführung, more geometrico oder more logico, bekräftigen, verschanzen, verteidigen zu müssen. So unmittelbar überzeugend es mir, meine Welt als Wille und Vorstellung zu verstehen, so unbegreifbar ist es warum und wieso diese unmittelbare Anschauung eine vierfache Wurzel des Satzes vom Grunde bedürfe; ins Besondere, weil ich ihn wörtlich nehme, diesen Satz vom Grunde, eben als ein Gefüge dessen ich nicht bedarf um die Verwandlungen in der von mir vorgestellten Welt als Erscheinungen anderweitig unbenannter willensähnlicher Vorgänge zu würdigen. Mein eigener Wille ist mir eben so unerreichbar wie die mir vorgestellte Welt. Mit diesen Überlegungen erkläre ich mir dann auch das dritte Vorwort zu meinem Netzort das ich vor kurzem entwarf. Es soll nichts weiteres sein als ein Schnur die Anschauung des möglichen künftigen Lesers zu entzünden. Herzliche Grüße an Sie beide. Jochen Meyer