c.basili@hotmail.com am 27. November 2018 Liebe Cristina, Endlich wieder einmal ein Brief von Dir! Du weißt, oder vielleicht weißt Du auch nicht, dass ich zwischen meinem sechsundzwanzigsten und zweiundreißigsten Jahr in dem kleinen Ort Damascus im Südwesten Virginias als Landarzt wirkte. Manchmal verarztete ich meine Patienten nicht in meinen Praxisräumen sondern besuchte sie in ihren bescheidenen kleinen Häusern. Manchmal war ich verspätet. Dann sagten die Patienten oder die sie pflegenden Angehörigen zu mir: "We almost gave you out of coming." Du verstehst also wenn ich schreibe: "I almost gave you out of writing." Umso lebhafter meine Dankbarkeit nun da Dein Brief erschienen ist, ein Brief der mich umso wertvoller dünkt als er sich jenseits höflicher Freundschaftsbezeugnisse an die Quellen Deiner Traurigkeit wagt. Hoffentlich geht es Dir inzwischen besser. Vielleicht, wenn Du so bist wie ich, hat das Aufsetzen Deines Briefes Deinen Kummer ein wenig verscheucht. (Schon seit Jahren empfinde ich mein Denken und Schreiben wie das Strampeln eines Ertrinkenden das ihn vorm Untergehen bewahrt.) Für Dich hoffe ich dass Deine Begegnung mit dem Kollegen der meint seine Freundschaft bezahlt bekommen zu müssen, zu einem Übergang in ein neues Stadium Deines Lebens wird, und dass in diesem Winter für Dich "von Neuem ein Jahr Deiner Seele beginnt." "Großes zu finden, ist viel, ist viel noch übrig, und wer so Liebte, gehet, er muß, gehet zu Göttern die Bahn. Und geleitet ihr uns, ihr Weihestunden! ihr ernsten, Jugendlichen! o bleibt, heilige Ahnungen, ihr Fromme Bitten! und ihr Begeisterungen und all ihr Guten Genien, die gerne bei Liebenden sind; Bleibt so lange mit uns, bis wir auf gemeinsamem Boden Dort, wo die Seligen all niederzukehren bereit, Dort, wo die Adler sind, die Gestirne, die Boten des Vaters, Dort, wo die Musen, woher Helden und Liebende sind, Dort uns, oder auch hier, auf tauender Insel begegnen, Wo die Unsrigen erst, blühend in Gärten gesellt, Wo die Gesänge wahr, und länger die Frühlinge schön sind, Und von neuem ein Jahr unserer Seele beginnt." (Hölderlin, Menons Klagen um Diotima) Als Du und ich uns vor zwei Jahren begegneten, da beeindrucktest Du mich mit der schicksalhaften Einsamkeit Deines Künstlertums und ich erwog die Möglichkeit, die ich schon in einem früheren Briefe erwähnte, Dir, wenn auch nur vorübergehend, ein bisschen Gesellschaft zu leisten. Der Schnittpunkt an dem möglicherweise Dein Lebenslauf sich mit meinem kreuzt, ist die Vorstellung die Verwirklichung des Lebens möchte darin bestehen mittels des Geistes bekannt und berühmt zu werden. Das ist ein Traum der einst auch mein junges Leben beherrschte. Es ist eine Jugendphantasie die mir fast selbstverständlich scheint, denn es sind die Helden und Heldinnen in unseren Märchen, die berühmten Gestalten in unseren Überlieferungen die uns den Geist, sei es der Musik oder der Gedanken, erschließen. Ich besinne mich lebhaft der Kinderzeiten wo mir Johann Sebastian Bach als Vorbild, als "role model" vorschwebte. Wie lächerlich, wo ich nie gelernt habe Klavier zu spielen. Jetzt muss ich mich fragen, was wäre denn meine Welt ohne Bach, ohne Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert, ohne Hölderlin, Kleist, Goethe und Rilke? Ich meine auch die Vorgänge zu verstehen mittels derer ich gelernt habe mich mit meiner Mittelmäßigkeit zufrieden zu geben. Goethe hat geschrieben: "Gegen die großen Vorzüge eines anderen, gibt es kein Rettungsmittel als die Liebe." Nietzsche hat geschrieben: "Wenn es Götter gäbe, wie hielte ich es aus kein Gott zu sein. Also gibt es keine Götter!" Äsop erzählt von dem Fuchs der sich mit der Einsicht tröstete, dass letzten Endes die Trauben zu sauer wären. Wie so vieles in meinem Leben, hab ich seiner Zeit beurkundet wie sehnlich ich wünschte Schriftsteller, vielleicht sogar "Philosoph" zu werden, und wenn sich dies Ziel unmöglich erwies, dann als Professor für Literaturgeschichte oder Philosophie das mir selbst Unerreichbare zu lehren. Schließlich hab ich mich mit der Vorstellung getröstet oder getäuscht, dass ich vielleicht in meiner so leidenschaftlich persönlichen ärztlichen Praxis die Wirklichkeiten der menschlichen Existenz, das Leben wie es zum Beispiel Dostoevski und Rilke beschreiben, in höherem Maße würde begreifen können, als hinter dem Katheder im Vortragssaal der Universität. Dieser Wahn, mit dem ich siebzig Jahre verbracht habe, hat mir mein Leben erträglich gemacht. Und nun ein weiterer Traum: Ich blättere das Buch meines Lebens zurück zu meinem fünften Jahr, und stelle mir vor, Du, zwanzig Jahre älter als ich, als meine Lehrerin, hättest mir das Cellospielen beigebracht. Wäre das nicht ein Geschenk mit dem Du mein Leben verwandelt hättest, und wäre es als solches nicht unvergleichbar großartiger als der Applaus und der Blumenstrauß nach dem Beschluss der Aufführung? Meiner Erfahrung gemäß ist der Schlüssel zum Lebensglück nicht der Reichtum des Ruhmes, der Ehre, oder des Geldes, sondern der Reichtum der Liebe: agape, nicht eros. Über die geschlechtliche Liebe zu dozieren hab ich Achtundachtzigjähriger weder Wunsch noch Recht. Aber in der anderen Liebe, in der Agape, in der unbefangenen menschlichen Liebe die nichts begehrt, besonders in der Liebe zu den Eltern, zu meiner Schwester, zu meiner Kusine, zu Kindern und Enkeln, zu den Patienten, hab ich bis ins hohe Alter verborgenes Glück gefunden. Auch heute noch. Nicht insoweit ich geliebt werde, sondern insoweit ich liebe. Der Wert der unerwiderten Liebe ist größer als der Wert der erwiderten. Meiner Erfahrung gemäß ist der Wert der verschmähten Liebe der Höchste. Grüße bitte Deine Eltern von mir. Dein Jochen