Lieber Jochen, Herzlichen Dank für deinen Brief der sich wie Samt auf meiner Seele anfühlte als ich ihn las. Nun, da du meinst, dass das Niederschreiben von Gedanken hilft sich besser zu fühlen, wahrscheinlich deshalb weil durch das aktive formulieren die Gedanken und Gefühle so zum Ausdruck kommen, mach ich doch einfach weiter damit und kritisiere die Gesellschaft wie ich es schon seit meiner Schulzeit so gerne tue. Und da du auch gesellschaftskritisch bist kannst du mich ja des Besseren belehren. Unsere Gesellschaft hat Angst vor Schmerzen, denn Schmerzen bringen oftmals den Tod herbei und die Menschen kennen den Tod nicht und haben deshalb Angst vor ihm. Die Gesellschaft versucht alles Leid zu beseitigen, nicht unbedingt zu heilen, aber zu beseitigen. Hauptsächlich geschieht dies durch die Verwendung von Geld für einen gewissen Standard von Lebensqualität beziehungsweise Luxus, der Herstellung von Medikamenten, aber ist auch in politischen Entscheidungen sichtbar wie bei Staatsgrenzenschließungen und der Abweisung von Flüchtlingen, da diese ja leidende Menschen sind, die Leid in unsere Gesellschaft bringen würden. Das Problem hierbei ist nur, dass wenn es im Idealfall kein Leid mehr gäbe es auch keinen Grund zum Mitleid mehr geben wird. Und wie ich von dir lernte ist Mitleid eine Form der Liebe wobei wir aber eigentlich keine andere Form der wahren Liebe kennen als Mitleid. Demnach ist eine Gesellschaft ohne Leid auch eine Gesellschaft ohne Liebe. Um dieses Problem zu beheben entwickelt der menschliche Körper und Geist, dem Leid und Liebe fehlen, die Depression. Die Depression ist ein unwahres Leid, sie ist eine Lüge. Sie hat keine Ursachen, keinen Erreger wie andere Krankheiten, und ist dadurch unverständlich, deshalb ist sie schwer durch Mitleid geheilt zu werden, weil es schwer ist Mitleid zu empfinden. Siehst du Jochen, deine Frau hatte eigentlich Glück. Ich weiß nicht ob sie eine Therapie bzw. Chemotherapie gemacht hat als sie krank wurde. Aber auf jeden Fall hatte sie dein Mitleid. Die Gesellschaft denkt die Chemotherapie ersetzt das Mitleid, aber sie liegt daran falsch, die Therapie beseitigt nur den Krebs, sie heilt den Körper nicht. Ich weiß nicht inwieweit Heilung eigentlich möglich ist, weder medizinisch noch geistig. Das weiß ein erfahrener Arzt wahrscheinlich besser. Aber offenbar ist man erst geheilt wenn die Angst vor dem Tod überwunden ist. Vielleicht hast du diese Angst überwunden, aber das auch nur weil du abgeschieden von der Gesellschaft lebst, denn die Gesellschaft hat große Angst und diese Angst ist ansteckend, man kann sich von ihr sehr schwer befreien wenn man Teil der Gesellschaft ist. Sie denken sie müssen das Leid beseitigen, aber in Wirklichkeit muss man die Angst überwinden. Nun, jetzt bildet sich aber der Teufelskreis, denn Mitleid bekommt man von den Mitmenschen. Wenn nicht, dann hat man nur noch die Möglichkeit sich selbst zu bemitleiden, was sich für ein Herdentier wie den Menschen gar nicht schickt. Du überlebst sagst du durch die Liebe zu den Menschen. Und ich fühle mich dazu nicht fähig. Aber ich schreibe dir nicht aus Verzweiflung. Ich schreibe aus der Not zu lernen wie man die Menschen der Gesellschaft liebt. Ich bin nicht verzweifelt, denn wenn ich Mahler Symphonien höre oder wenn ich im Wald spazieren gehe oder in ein gutes Konzert oder in eine interessante Museumsausstellung gehe, oder wenn meine geliebte Cousine zu Besuch kommt, oder wenn ich konzentriert Cello übe und versuche einen Klang zu produzieren, der meiner Vorstellung entspricht, dann geht es mir äußerst gut. Mir geht es nur schlecht wenn es darum geht Teil der Gesellschaft zu sein, also kritisiere ich sie lieber wie der Fuchs die sauren Trauben. Aber so kann man doch nicht ein Leben lang leben, oder doch? Ich wünsche dir eine friedliche Adventszeit! Herzlichst, Cristina