am 15. Dezember 2018 Liebe Gertraud, lieber Bernd, Herzlichen Dank für Euern so liebevollen Weihnachtsbrief. Ich hoffe dass dies Schreiben Euch wohlbehalten und warm an Eurem bayerischen Weihnachtsferienort antrifft, und dass Euch zwei sonnige fried- und freudvolle Wochen bevorstehen. Dem Bericht über mein Ergehen stehen auch stilistische Hindernisse im Wege. Schreibe ich es geht mir gut, so prahle ich; schreibe ich es geht mir schlecht dann klage ich. Möchte beides vermeiden. Außerdem erschweren die Vieldeutigkeiten der Feststellungen "es geht gut," oder "es geht schlecht," jegliche Antwort. Mit Sicherheit aber kann ich Euch berichten, dass ich dankbar und zufrieden bin, zunächst in der Gewissheit dass es nicht nur nicht ewig, sondern ganz gewiss nicht lange mehr so weiter gegen kann. Heutzutage beginnt mein Kalender mit dem Zeitpunkt von Margarets Tod, jetzt vor drei Jahren, zwei Monaten und vierzehn Stunden. Sie war sechs Jahre älter als ich, und sollte ich's so lange schaffen wie sie, stehen mir noch knappe drei Jahre bevor. Wie schnell die vergangen sein werden! Besonderen Dank für Deine Beschreibung der Weihnachtsfeieren Deiner Kindheit. Du weißt welch eine außerordentliche Stelle die Erinnerungen an Deinen Vater in meinem Gedächtnis einnehmen, und magst Dir vorstellen wie ich auch nur die geringste Ergänzung meiner Vorstellung von ihm begrüße. Ansonst ist mir Weihnachten ein weitläufiges Thema, davon zu berichten nicht Stunden sondern Wochen, wenn nicht gar Monate beanspruchen würde. Die Weihnachtsfeiern in der Hildebrandtstraße sind meinem Gedächtnis entschlüpft. Die in der Schleinitzstraße, in eine einzige Szene verschmolzen, mit Lametta und elektrischen Kerzen behangenem Weihnachtsbaum dessen Zweige über die unablässlich kreisende Eisenbahn von Merklin ragten. Weihnachten 1938, verbrachte mein Vater in New York, meine Mutter, meine Schwester und ich bei den Großeltern in Berlin-Nikolassee. Eine Besonderheit war ein transatlantisches Telephongespräch mit meinem Vater. Wir Kinder bekamen verschiedene zum Teil unpassende und gefährliche Geschenke, wie zum Beispiel, Rollschuhe. Mir am unvergesslichsten, in einer Schachtel mit dem Mont Blanc Etikett, ein Füllfederhalter ohne den stumpfzackigen Stern. Ich fühlte mich weichnachtsbetrogen; meine Mutter hatte mich unterschätzt, aber mein Verdruss währte nicht lange. Weihnachten 1939, in Konnarock, in dem alten zugigen verrussten Pfarrhaus auf der Anhöhe dem jetzigen Schloss gegenüber - vielleicht besinnt ihr Euch. Wir hausten damals inmitten der verdorbenen Haushaltausstattung aus Braunschweig. Meinem Vater, obgleich er das Staatsexamen in New York bestanden hatte, war die ärztliche Praxis in Virginia vorläufig verweigert. Meine Eltern verzweifelten. Sie wussten weder aus noch ein. Weihnachten 1939 war der Zeitpunkt an dem es mir klar wurde, dass meine Eltern meiner Betreuung und Liebe bedürften, dass ich sozusagen als Vater meiner Eltern wirken müsste, und versuchen das was das Schicksal - nicht nur die Nazis - ihnen angetan hatte, wiedergutzumachen. So wurde jedes Weihnachten eine Feier meiner Beziehungen zu meinen Eltern, ihre Leben lang. 1951 hab ich mich für meines Vaters Arztpraxis in Konnarock eingesetzt, und meinen Eltern das ihnen versprochene Haus, um das man im Begriff war sie zu betrügen, besorgt, bin 1956 nach Damascus gezogen um sie zu unterstützen, und habe 1977 das Haus nebenan, in Belmont, gekauft, um ihnen die Möglichkeit zu geben in meiner Obhut alt zu werden und zu sterben. Mein Vater hat das nie anerkannt. Meine Mutter, als sie schon geistig umnebelt war, hat mich verschiedentlich mit Florestan (aus Beethovens Fidelio) verwechselt und mich versichert: "'Süßer Trost in meinem Herzen, meine Pflicht hab ich getan,' das kannst auch Du sagen," obwohl ich nicht aus Pflicht sondern aus Liebe gehandelt hatte. Das Gedicht "Knecht Fuprecht" von Theodor Storm, das Du erwähnst: "Von drauß' vom Walde komm ich her; Ich muss euch sagen, es weihnachtet sehr!" gehört auch zu meinen Weihnachtserlebnissen, denn auch ich habe es unter dem Weihnachtsbaum aufgesagt, außerdem aber gehört es zu mir in besonderer Weise, denn beim Schreiben des 43. Kapitels meiner Romanzusammenstellung "Vier Freunde" http://home.earthlink.net/~jochenmeyer/freunde/f043.html wurde ich von diesen Strophen überwältigt und sah keinen Ausweg sie nicht in meinen Text aufzunehmen, obwohl ich aus dem Stegreif nicht hätte zu sagen vermocht was Storms Weihnachtsphantasie in jenem schwarzen Keller wo mein Protagonist Jonathan Mengs im Traum gefangen war, suchen sollte. Hatte die Umstände ganz vergessen, als Dein Brief mich an das Gedicht erinnerte, und mich bewog diesen außerordentlichen Hinweis auf ein anderes - vielleicht das wahre Weihnachten - ein weiteres Mal zu überlegen. Vorerst als ästhetische Erwägung, der Gegensatz von Rilkes gequälter Todesahnung und Storms leichtfertige, gewissenlose schicksalsfreie Heiterkeit. Erinnert mich an Hölderlins Schicksalslied Ihr wandelt droben im Licht Auf weichem Boden, selige Genien! Glänzende Götterlüfte Rühren euch leicht, Wie die Finger der Künstlerin Heilige Saiten. Schicksallos, wie der schlafende Säugling, atmen die Himmlischen; Keusch bewahrt In bescheidener Knospe, Blühet ewig Ihnen der Geist, Und die seligen Augen Blicken in stiller Ewiger Klarheit. Doch uns ist gegeben, Auf keiner Stätte zu ruhn, Es schwinden, es fallen Die leidenden Menschen Blindlings von einer Stunde zur andern, Wie Wasser von Klippe Zu Klippe geworfen, Jahr lang ins Ungewisse hinab. "Schicksallos, wie der schlafende Säugling" wäre vielleicht auch Knecht Ruprecht, aber ob "Blühet ewig Ihnen der Geist" auf den weihnachtlichen Hausierer mit Sack und Rute zutreffend ist, möchte dahingestellt bleiben. Umso zwingender scheint mir die Nebeneinanderstellung des schwarzen lichtlosen Kellers menschlicher Verzweiflung und der aufgepeitschten Heiterkeit des Festes, welches seinem Versprechen von Freude und Seligkeit, jedenfalls meiner Erfahrung gemäß nicht gerecht zu werden vermag. Entsprechend ist auch die Geschichte von Weihnachtsfeiern in meiner Familie, die bedacht war Freude und Genugtuung aus der Arbeit, und nur aus der Arbeit zu schöpfen, und die deshalb von Knecht Ruprechts spaßiger Heiterkeit zu nichts als angstvollem Schauder bewegt wurde. Lasst Euch Euer Weihnachtsfest durch meine Zweifel nicht betrüben, und seid, trotz allem, zu Weihnachten und zum Neuen Jahr herzlich gegrüßt. Jochen ==================================== Neuntes Kapitel Der Traum des Gelehrten Jonathan aber verfiel in einen nur leichten Schlaf. Er träumte, und im Traum befand er sich in einer unbekannten, in einer fremden Umgebung. Den Ort wo er jetzt war, den Flecken von dem er jetzt ausgehen musste, vermochte er nicht zu bestimmen, denn alles war dunkel. Zweifelsohne war er in einem Kellergeschoss so düster und undurchsichtig, dass er vorerst nicht feststellen konnte ob er sich nicht vielleicht doch schon in seinem eigenen Grabe befand. Also dies bedeutet es, sagte er sich, so kommt es dir vor, so erlebst du es, das Totsein, und jetzt erst verstand er deutlich die Rilkeworte aus der berühmten Elegie. Sich ihrer in dieser so fürchterlichen Lage in der er sich befand zu erinnern, war ihm ein großes Labsal; und dass die geheimnisdräuenden Verse die er so oft, stotternd und stümmelnd, seinen Studenten vorgetragen hatte, dass diese heiligen Sätze ihm jetzt mühelos und wortgetreu über die Lippen flossen, war ein erlösendes Wunder. "Freilich ist es seltsam, die Erde nicht mehr zu bewohnen, kaum erlernte Gebräuche nicht mehr zu üben, Rosen, und andern eigens versprechenden Dingen nicht die Bedeutung menschlicher Zukunft zu geben; das, was man war in unendlich ängstlichen Händen, nicht mehr zu sein, und selbst den eigenen Namen wegzulassen wie ein zerbrochenes Spielzeug. Seltsam, die Wünsche nicht weiterzuwünschen. Seltsam, alles, was sich bezog, so lose im Raume flattern zu sehen. Und das Totsein ist mühsam und voller Nachholn, daß man allmählich ein wenig Ewigkeit spürt. - Aber Lebendige machen alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden. Engel (sagt man) wüßten oft nicht, ob sie unter Lebenden gehn oder Toten. Die ewige Strömung reißt durch beide Bereiche alle Alter immer mit sich und übertönt sie in beiden." Tatsächlich war es ihm peinlich. Er schämte sich, seine literarischen Kenntnisse in dieser Weise großtuerisch vorzuführen, aber die Dichtung, sagte er sich, hat ihre eigenen Gesetze und rechtfertigt sich selbst. Außerdem war es ja auch überflüssig, dass er sich schämte, denn hier in dieser Gruft war keiner der ihn hören könnte. Oder doch. Täuschte er sich vielleicht, weil es so dunkel war? Plötzlich wurde er gewahr, dass was er soeben getan, was er soeben gedacht, was er soeben vorgetragen hatte, ungehörig, unordentlich war. Und wie ein Echo auf Rilkes tiefsinnig drohende Ahnungen drängten sich ihm die Worte eines anderen Gedichtes auf. Neben die Zeilen der Elegie schoben sich die Strophen des Weihnachtsgedichtes das seine Mutter ihn gelehrt hatte, das Gedicht welches er unter dem Weihnachtsbaum, eh es erlaubt war die Geschenke auszuwickeln, hatte aufsagen müssen: Von drauß' vom Walde komm ich her; Ich muss euch sagen, es weihnachtet sehr! Allüberall auf den Tannenspitzen Sah ich goldene Lichtlein sitzen; Und droben aus dem Himmelstor Sah mit großen Augen das Christkind hervor; Und wie ich so strolcht' durch den finstern Tann, Da rief's mich mit heller Stimme an: "Knecht Ruprecht", rief es, "alter Gesell, Hebe die Beine und spute dich schnell! Die Kerzen fangen zu brennen an, Das Himmelstor ist aufgetan, Alt' und Junge sollen nun Von der Jagd des Lebens einmal ruhn; Und morgen flieg ich hinab zur Erden, Denn es soll wieder Weihnachten werden!" Ich sprach: "O lieber Herre Christ, Meine Reise fast zu Ende ist; Ich soll nur noch in diese Stadt, Wo's eitel gute Kinder hat." - "Hast denn das Säcklein auch bei dir?" Ich sprach: "Das Säcklein, das ist hier: Denn Äpfel, Nuss und Mandelkern Essen fromme Kinder gern." - "Hast denn die Rute auch bei dir?" Ich sprach: "Die Rute, die ist hier; Doch für die Kinder nur, die schlechten, Die trifft sie auf den Teil, den rechten." Christkindlein sprach: "So ist es recht; So geh mit Gott, mein treuer Knecht!" Von drauß' vom Walde komm ich her; Ich muss euch sagen, es weihnachtet sehr! Nun sprecht, wie ich's hierinnen find! Sind's gute Kind, sind's böse Kind? Die grob vereinfachende Forderung des Urteilspruchs über das böse Kind und ihre unausgesprochene Brutalität setzten Mengs in Verwirrung. Die Frage ob die Bestimmung des Bösen nicht selbst das eigentlich Böse sei schien ihm jetzt viel bedeutender als die fahlen Überlegungen betreffs des Gestorbenseins. Denn auf das was jetzt zu bewerkstelligen war, was hier und heute geschafft oder verschuldet wurde, darauf kam es an, und auf nichts anderes. Bei diesen Überlegungen merkte Mengs, dass das Dunkel zu schwinden schien, oder war es nur weil seine Augen sich daran gewöhnt hatten. Er sah dass er sich in einem verzweigten Keller befand deren Räume einer in den anderen mündeten. Schwaches Licht sickerte durch verstaubte Fenster, denen es anzusehen war, dass sie, wenn überhaupt, seit Jahren nicht gewaschen waren. Die Wände waren an allen vier Seiten mit aufgebockten, übereinandergeschichteten Brettern bekleidet, ein jedes dicht besetzt mit angereihten würfelförmigen Pappkartons, deren Etikette die Urkunden bedeutender Gerichtsverhandlungen versprachen. Als Mengs aber den Deckel des ersten Kasten lüftete fand er ihn leer, so wie auch den zweiten und den dritten den er untersuchte. Der vierte Pappkarton enthielt nichts als ein dürftiges ungeordnetes Gemisch von Zetteln, Zeitungsausschnitten, Rechnungen, Gutschreiben, Quittungen, und dazwischen verstreut, zugeschnittene Stoffstreifen, scheinbare Überbleibsel der Arbeit eines Schneiders, vielleicht einer Schneiderin. In keinem der so anspruchsvoll plakatierten Behältern war auch nur eine Andeutung der versprochenen Berichte. Enttäuscht kam Jonathan zu dem Beschluss, dass dieses Lager unmöglich von einem verantwortungsvollen ernstzunehmenden Menschen hätte betreut werden können, dass es sich vielmehr um systematische Täuschung handelte. Dann aber beschlich ihn der Ärger. Er fühlte sich mit seinem Wunsch nach Ordnung, Klarheit, Eindeutigkeit, Gerechtigkeit, Gesetzlichkeit genarrt, verhöhnt, verspottet und betrogen. Traumwandelnd, aber umso entschiedener, wandte sich Mengs in das anschließende Gewölbe.