Die Zeit verging mit der Unaufhaltsamkeit ihres Wesens, und hatte die Krisenepoche in welcher Katenus und Elly unmittelbar von Verhaftung wegen Landesverrat, mit lebenslänglicher Zuchthaus- wenn nicht gar Todesstrafe bedroht, von der Insel geflohen waren, in eine jetzt fast unwirkliche Vergangenheit geschoben. Die beiden sich so innig Liebenden hatten sich längst in der Linnaeusstraße eingelebt und waren, so schien es, unverbrüchlich Mitglieder des Döhringhauses geworden. Hier schienen sie nun so eingewurzelt hinzugehören wie einst in das große weiße Haus auf der Inselhauptstraße. Katenus fuhr fort seine philosophischen Träume zu entspinnen und das seine Phantasie durchrankende Gedankengefüge zu pflegen. Wenngleich in der uns allen und auch ihnen unentrinnbaren Welt, das Leben von der Brutalität der Gesellschaft und von der Verderbtheit der Regierung überschattet wird, verbrachten Katenus und Elly ihre Tage harmonisch, in gegenseitigem Verständnis und Liebe hier im Döhringhause wie auf einer Insel des Glücks inmitten der Stürme welche die umliegende Welt verheerten. Katenus war sich peinlich bewusst, wie übermäßig sein Reden, und er versuchte nicht nur seine Zunge, er versuchte auch seine Gedanken zu zügeln. Das merkten Jonathan und Joachim. "Du bist ja so still," sagte Jonathan eines Abends beim Essen zu Katenus. "Wir haben uns so an die Darstellungen Deiner Gedanken gewöhnt, dass wir sie, wenn sie ausbleiben, entbehren." Katenus sagte nichts. Er war von Jonathans gutem Willen überzeugt; er wusste dass Jonathan ihn weder beschämen noch verhöhnen würde. Die Ironie, die Katenus eindringlich empfand, wurzelte in den ungleichen Gesellschaftsstellungen der beiden. Denn Mengs war ordentlicher Professor, während Katenus nichts als ein gefahndeter Flüchtling war. "Mich beschäftigt das Wort, die Sprache, das Sprechen, das Erzählte, die Erzählung, und besonders die Geschichte als die dem Erleben zusätzliche Wirklichkeit," begann Katenus, denn der Aufforderung seine Gedanken vorzutragen und auszuführen vermochte er nicht zu widerstehen. "Wie meinst Du das?" fragte Mengs, in dem Bewusstsein Katenusens Erklärungen angeregt zu haben und nun gewissermaßen nach ihre Geburt wie ein Pate für ihre Entwicklung verantwortlich zu sein. "Die eigentliche, die ursprüngliche Wirklichkeit, und tatsächlich die einzige die dem Menschen unmittelbar zugänglich ist, entspringt dem gegenwärtigen Erleben. Das ist meinem Sprachgefühl entsprechnd ein Pleonasmus, ist Tautologie, denn Gegenwart und Erleben sind untrennbar. Erleben ist stets jetzt und hier, ist ewig gegenwärtig. Oder anders ausgedrückt, Erleben umfasst ein zugegeben beschränktes Maß der Zeit welches ich als Gegenwart bestimme, oder sollte ich sagen, welche sich als Gegenwart bestimmt." Nach diesen Worten schwieg Katenus, und auch Jonathan wusste nichts zu sagen. Schließlich durchbrach Katenusens Stimme die Stille: "Das ist es ja gerade, worauf es ankommt," und war sich selbst indem er es aussprach, der Unzulänglichkeit dieses Gedankenfragmentes bewusst. "Ein Beispiel, wie unabkömmlich ich der Sprache bedarf um Dir mein Erleben auch nur anzuzeigen, geschweige denn es zu erklären. Genau genommen ist es unmöglich Erleben in Sprache weder zu verwandeln noch aufgehen zu lassen. Die Sprache vermag stets nur auf das Erleben hinzuweisen, das Erleben anzuzeigen. Wohl bemerkt dass die Sprache, wann immer sie das Erleben besetzt, selbst zum Erleben wird, aber zu einem anderen Erleben als das worauf sie zeigte." "Manchmal erscheint es mir," erläuterte Mengs, "das unmittelbare Erleben möchte mit dem von der Sprache ausgelöstem Erleben im Streit liegen." "O ja," sagte Katenus, zufrieden dass Mengs auf sein Denken eingegangen war, "das geschieht sehr oft. Zum Beispiel, wenn ich in einer Unterhaltung mit Dir durch einen Zufall, durch ein Klopfen an der Tür, durch ein Zahnweh oder durch ein Kopfweh, oder vielleicht auch nur durch einen unerwarteten Gedanken, abgelenkt werde. Dann vermag ich Deine Stimme zwar noch zu hören, vielleicht sogar aber auch nicht. Ob ich sie höre oder überhöre, ob ich sie wahrnehme oder nicht, entzieht sich der Sinn Deiner Worte sich meinem Verständnis, entzieht sich also meinem Erleben. Bitte entschuldige mein Bekenntnis." "Das hast Du sehr überzeugend zum Ausdruck gebracht," lobte Mengs, "und keine Ablenkung hat mein Erleben Deiner Worte gestört." Von Mengsens wohlwollendem Verständnis bekräftigt, fuhr Katenus jetzt fort: "Die Sprache erschließt nun einen Erkenntnisbereich dessen Ausmaß nur von der Zahl der Lebenstage, - oder genauer gefasst, nur von der Intensität, von der Beharrlichkeit des Hörenden, des Sprechenden, des Lesenden, des Schreibenden, vor allem aber des Denkenden begrenzt ist." "Eine hoffnungslos unübersichtliche Fülle," sagte Mengs, Katenus aber widersprach ihm. "Unübersichtlich, gewiss, aber hoffnungslos, keineswegs," sagte er. Die Unübersichtlichkeit entspricht unser aller Leben die ihrem Wesen gemäß unübersichtlich sind. Die sollten wir feiern statt sie zu beklagen." Auf diese milde Rüge hatte Mengs keine Antwort, und nach einer kurzen Pause fuhr Katenus fort. "Es handelt sich um zwei große Stufen in der Erkenntnislehre, und demgemäß auch in der Ontologie, als der Lehre von der Wirklichkeit, vom Sein. Ich sage Stufen, weil notwendiger, unvermeidlicher Weise, der Ausgang von der Subjektivität, vom Bewusstsein, gemacht werden muss, auf einem Wege der von der subjektiven Wirklichkeit des Bewusstseins zu einer allgemeinen öffentlichen objektiven Pseudo-Wirklichkeit der gemeinsamen Gesellschaft führt. Ich bezeichne sie als Pseudo-Wirklichkeit, weil sie unvermeidlich auf das Bewusstsein des wahrnehmenden beteiligten Einzelnen, auf das sie sich stützt, angewiesen ist. Die innere subjektive Wirklichkeit und die äußere objektive Pseudo-Wirklichkeit stehen - oder liegen - in dialektischer Abhängigkeit von einander. Diese dialektische Abhängigkeit wäre der Kern der Philosophie, wenn es so etwas gibt." "Ich habe," fuhr Katenus fort, "über dies Rätsel monatelang, nein jahrelang, nachgedacht, und komme zu dem Beschluss, dass es unlösbar ist, und dass es Rätsel bleiben muss." Er schwieg, und seine Stille wurde erst nach geraumer Zeit von Mengs unterbrochen. Der sagte: "Du hast von einem unlöslichen Rätsel erzählt. Ich will Dich nicht mit der Bitte behelligen, das Unlösliche zu lösen. Bitten aber möchte ich Dich Dein, nein unser, unlösliches Rätsel ein weiteres Mal zu beschreiben. Denn meinem Verständnis gemäß weist jede gültige Erkenntnis auf ein unlösliches Rätsel das wir bewältigen nicht indem wir es "lösen" sondern indem wir uns seine Unlösbarkeit aneignen und Frieden mit ihr schließen." "Das hast Du ganz in meinem Sinne gesagt," erwiderte Katenus. "Es geht auch über meine Kräfte Dir meine Dankbarkeit für Dein Verständnis zu bezeugen. So verstanden zu werden ist ein seltenes Geschehen. Das unlösbare Rätsel," fuhr Katenus fort, "ist ein Herd der Wahrheit an dem Schnittpunkte, oder sollte ich sagen, an der Schnittlinie zwischen Innen und Außen, zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen dem Wort als Geheimnis des Einzelnen und als Gesellschaftsband. Der Sinn des Lebens liegt in der unheilbaren Wunde die sich stets aufs Neue daraus ergibt, dass der Mensch zugleich Seele und Herdenmitglied ist und sein muss. Mehr weiß ich Dir nicht zu erklären." So sprach Katenus. [Dies möchte auch in der Mathematik, in den Naturwissenschaften, in den Geisteswissenschaften, in den Rechtswissenschaften dargelegt werden, aber nicht jetzt und hier.] Bei einer anderen Gelegenheit bemerkte Katenus zu Elly: Jetzt ist die Zeit für die friedlichen und glücklichen Beziehungen (für das friedliche und glückliche Verhältnis) zwischen Dir und mir dankbar zu sein. Und doch, ganz so ruhig wie man es sich hätte wünschen mögen, ging auch das Leben im Döhringhause nicht vor sich. Es war aber Charlotte, oder jedenfalls so erschien es Jonathan, die Quelle der Unruhe. Obgleich sie schon seit Wochen, - oder waren es schon Monate - allnächtlich in Joachims Bett den Beweis empfing den sie so ausdrücklich begehrt hatte, dass tatsächlich ein Teil dieser Familie zu sein, war es unverkennbar, dass Charlotte unzufrieden war. Und keiner wusste weshalb. Die beiden jungen Menschen waren es zufrieden, dass keine Ehe zwischen ihnen in Aussicht stand, geschweige denn dass eine solche schon geschlossen wäre. [Dass zwischen den beiden jungen Menschen keine Ehe geschlossen war, und keine Ehe in Aussicht stand, waren sie es beide zufrieden;] Zufrieden waren sie auch, dass die gewissenhafte Anwendung von Verhütungsmitteln den Schwierigkeiten der unehelichen Schwangerschaft und den Elternverpflichtungen Unverheirateter vorbeugte. Joachim hegte das beunruhigende Gefühl, dass sich sein Leben gerade in diesen Monaten einer Verwandlung unterzog, deren Ausgang er sich nicht vorzustellen vermochte, einde Unbestimmtheit welche ihm zu diesem Zeitpunkt eine Bindung fürs Leben schwierig bis zur Unmöglichkeit machte. Zugleich aber diente das Verhältnis zu Charlotte ihm die dringende körperliche Not zu lindern; und er war Charlotte dankbar, sehr dankbar, dass sie ihm diesen Kompromiss ermöglichte. Hinzu kam, dass, anders als man es hätte erwarten mögen, die neue Beziehung zu Charlotte, Joachims Freundschaft mit Jonathan keineswegs beeinträchtigte. Im Gegenteil, je enger seine Beziehung zu Charlotte, umso ersprießlicher schien Joachims Zusammenarbeit mit Jonathan zu gedeihen. Das empfand auch Jonathan. Charlottes Unzufriedenheit mit ihrem neuen Leben das sie so ausdrücklich ersehnt hatte, fand einen unerwarteten Ausdruck. Sie wollte, sie bestand auf einen Hund. Das geschah in folgender Weise. Ungezählte geichmäßige Tage waren dahingezogen. Der Frühling war zum Sommer, und aus dem Sommer war Herbst geworden, als Charlotte bei einem Abendessen plötzlich und eindringlich von sich hören ließ. ==================== Charlotte war nun zufrieden und auch wieder nicht. Der Hund machte ihr viel Arbeit die ihre Bemühungen um den Haushalt im Döhringhause wesentlich beeinträchtigten. Dennoch war es ihr nicht mühsam ihre sich selbst auferlegten Pflichten zu bewältigen, und dies nicht nur weil Elly ihr zur Seite stand sondern weil aus unscheinbaren Gründen Charlottes Betätigung in der Aletheia wesentlich abgenommen hatte, so dass sie nun nicht mehr verpflichtet war dort regelmäßig zwei Mal wöchentlich zu erscheinen. In verschiedenen Wochen war es nur einmal dass Charlotte sich aufmachte in der Aletheia zu erscheinen. Ihrem Verlangen nach einem Hunde tat diese Erleichterung jedoch keinen Abbruch. Schließlich wurden ihre Dienste in der Aletheia so kraft und zeitraubend dass sie sich entschied den Hund dorthin mitzunehmen. Ihr dürft es mir nicht übel nehmen (nicht verübeln) erklärte Katenus eines Tages beim Abendessen, dass ich nicht aufzuhören vermag, ich meine, will sagen nicht aufzuhören zu sprechen, denn was ich sage entquillt meinem Denken, und mein Denken, befürchte ich, wird gleichzeitig mit meinem Leben sein Ende finden. Weißt Du, Katenus, begann Joachim eines Abends beim Essen. Ich hätte mir die Umstände unter denen ich Dich kritisierte nie vorstellen können, scheue mich auch es jetzt zu tun, aber eine Frage kommt mir nicht aus dem Sinn, und vielleicht ist es überhaupt besser zu fragen als zu bemängeln. ”Das ist sehr richtig, das ist richtig nicht nur für Dich, ich glaube es ist für uns alle das Beste. Ich kann mir keine Frage ausdenken durch welche der Fragende nicht veredelt wird.” “Du machst es mir wirklich leicht," sagte Joachim. "Ich hoffe nur dass Deine Meinung nicht umschwingt wenn ich die Frage gestellt habe: Warum bist Du nicht politisch engagiert? Mir scheint es, dass Du das öffentliche, das politische Leben verachtest. ======= "Einen Hund," unterbrach Charlotte das Gespräch. "Wir brauchen einen Hund." "Du meinst," sagte Katenus, "ein Hund möchte uns behilflich sein die Problematik der Zeitgeschichte, die Rätsel der Gegenwart welche uns beunruhigen, zu erschließen. Befürwortest Du ein rechtsgesinntes oder ein linksträchtiges politisches Tier?" "Ach ihr macht Euch über mich lustig, aber ich werde, aber ich habe davon genug und ich will Euern Spott nicht länger ertragen." Charlotte war vom Tische aufgestanden. Joachim erschrak über ihren Ärger. Es schien ihm sie war, vielleicht wie verschiedentlich zuvor, auf dem Wege zu Vordertür aus der sie fortgehen würde um nicht wiederzukommen. "Sei uns nicht böse," bat (flehte) Joachim mit einer Inständigkeit die ihn selbst als übertrieben und unpassend anmutete. "Ja, dann bewilligt doch bitte meinen Hund. "Ja, warum bewilligt ihr mir dann nicht meinen Hund?" "Charlotte," begann Jonathan beschwichtigend, "ein solches Tier würde eine weitreichende Abänderung unserer Gewohnheiten erfordern und die Pflege eines solchen Tiers bedeutet eine beträchtliche Verantwortung." "Du meinst also, ich bin der Mühe nicht wert." Wenn irgend hatte Jonathans (Einspruch) Versuch das Problem zu erläutern, Charlotten Unmut nur (lediglich) gesteigert (angepeitscht). Sie war auf dem Weg zur Tür, als Joachim sie zum zweiten Mal bat, "Charlotte, sei mir bitte nicht böse. Du und ich sollten in mein Zimmer gehen und dort alles mit einander besprechen; ich bin zuversichtlich Katenus und Elly und Jonathan werden uns unterstützen." (werden unseren Entschluss annehmen.) (werden gegen unsere Entscheidung nichts einzuwenden haben.) Dies Angebot bewirkte eine Umschwenkung von Charlottens Stimmung. Sie fühlte sich aufs Neue im Fahrersitz. "Jetzt gleich?" fragte sie. "Noch nicht. Ein bisschen später," war die Antwort, "Ich möchte hören, was Katenus über die politische Betätigung zu sagen hat." "Aber vergiss es nicht." "Nein, ganz bestimmt nicht; aber Du hättest ja auch reichlich Gelegenheit mich zu erinnern." "Wisst Ihr," begann Katenus, "Ich bin mir bewusst, dass ich zuviel rede. Mein Reden ist ein Spiegelbild, oder besser ausgedrückt, ein Echo meines Denken. Vielleicht ist es auch möglich zu viel zu denken. Ich weiß es nicht. Wenn ich die Geschichte der Philosophie überdenke fällt mir auf, dass für Sokrates und für die Stoiker, insofern ich mit ihnen bekannt bin, das Denken dazu diente das Leben zu bereichern wenn nicht gar zu ermöglichen. In dieser Hinsicht fühle ich mich ihnen verwandt." "Beschreib doch bitte die Alternativen," bat Joachim. "Die wesentliche Alternative die sich mir aufdrängt ist das Denken als Instrument oder als Ware in dem Wettbewerb des gesellschaftlichen Lebens zu betrachten." "Aber gingen die beiden Alternativen Denken als Lebensmittel und Denken als Wettbewerbsinstrument nicht auf das Gleiche hinaus?" fragte Joachim. "Da hast Du wieder einmal recht," sagte Katenus, "und dennoch möchte ich mir den Unterschied zwischen dem Blühen und Fruchtragen des Lebens und dem Wettbewerb vorbehalten." ÄÄÄÄÄ ÖÖÖÖÖÖ ÜÜÜÜÜÜ ßßßßßßßßß äääääääää ööööööö üüüüüüüü ********