From: Ernst Meyer To: nihoni@icloud.com Subject: am 27. Dezember 2018 Date: Thu, 27 Dec 2018 23:24:51 -0500 nihoni@icloud.com am 27. Dezember 2018 Lieber Herr Nielsen, Indem ich Ihnen beiden diese Abschiedsgrüße bestelle, befinden Sie sich im Flugzeug hoch über den Wellen auf dem Weg nach Hause. Ich indessen sitze am selben Tisch in der gemütlich warmen Küche wo wir uns gestern besprachen, ungeduldig Ihnen ein weiteres Mal für Ihren Besuch zu danken. Die Tür hatte sich kaum hinter Ihnen geschlossen, als ich anfing in der Autobiographie von Michael Gielen, die Sie mir schenkten, zu lesen. Gielen nimmt den Leser mit angenehmer Unbefangenheit des Stils für sich ein. Zugleich stellt er mich der großen mir selber unlöslichen Forderung der Vergesellschaftung gegenüber. Gielen entstammt einer Familie von Schauspielern. Ihm ist die Bühnenaufgabe der Vermittelung zwischen dem Selbstbewusstsein und dem Allgemeinbewusstsein selbstverständlich. Das ist eine Pflicht der ich nicht gewachsen bin. Statt ihr nachzukommen, mache ich aus der Not eine Tugend, und versuche affenartig mich unter Kierkegaards oder Rilkes Mantel zu verstecken. Es ist mir peinlich, lieber Herr Nielsen, dass Sie sich von meiner Anspielung auf das Nichtlesenkönnen auch nur vorübergehen betroffen fühlten, wo doch ausgerechnet Sie gerade der Leser sind der meine schriftlichen Schnurrigkeiten aufs Großzügigste entschuldigt. Meine Bemerkung rührte von einer Erinnerung eines Seminars über die Metaphysik des Aristoteles dem Werner Jaeger mir im Herbstsemester 1951 erlaubte beizuwohnen. Es war das zweite Jahr meines Medizinstudiums. Zugunsten von Aristoteles, schwänzte ich die klinischen Vorstellungen, die ich geistlos, unsinnig und langweilig fand. Werner Jaeger der seine Studenten mit mir als "ho hiatros" (der Arzt) bekannt machte, amüsierte sich über den verirrten Medizinstudenten. Jaeger eröffnete sein Seminar mit der Erklärung, "Now I will teach you how to read." Er fuhr fort jedes bedeutsame Wort aus seinem jeweiligen Zusammenhang auszulösen, um es dann im Glanze seiner vielseitigen Sprachkenntnisse wie einen Schmuckstein glänzen zu lassen, indem er die verschiedenen Zusammenhänge zitierte, in welchen der gegebene Ausdruck anderen Ortes erschien. Je älter ich werde, desto geheimnisvoller wird mir das Lesen, das mich als jüngerer Mensch so selbstverständlich anmutete. Die Aufgabe des Schriftstellers, so erscheint es mir heute, ist nicht (nur) seine eigene Erfahrung und sein eigenes Erleben mitzuteilen. Dies wäre ihm nicht weniger erlaubt als seinen Lesern eigens erfundene Worte oder eigens geschusterte Grammatik zuzumuten. Der Leser sucht kein tête-à-tête, keinen Gedankenaustausch unter vier Augen, kein vertrauliches Gespräch zu zweien. Der Leser möchte in ein gemeinschaftliches Geist- und Seelenleben eingebürgert werden. Er bedarf Oikeiosis, Beheimatung in einer fremden feindseligen Welt, und diesen Schutz vermag ihm der Schriftsteller nicht als schnurriger Sonderling, sondern nur als Gesellschaftsvertreter zu besorgen. Daher beherrschen "Bestseller Lists", Kataloge meist gelesener Erfolgsbücher, die Feuilletons der Zeitungen, denn darin dass er liest und lobt was die vielen Anderen lesen und loben, findet der Leser die ersehnte seelische und geistige Geborgenheit. Mit allen meinen Versuchen eine gesellschaftliche geistige Gemeinschaft zu gründen, auch in der eigenen Familie, - und besonders hier -, meine angehimmelte Frau hat keines meiner Bücher je gelesen -, hab ich versagt. Aber die Liebe, die Agape, ist etwas ganz anderes. Sie ist nicht die Bereicherung an seelischen, geistigen oder gar materiellen Gütern. Die Liebe ist Ausdruck der Sehnsucht nach einer liebevollen Welt, die ich mit keinem Verlangen geliebt zu werden zustande zu bringen vermag, so dass ihretwillen, um sie zu verwirklichen, mir nichts übrig bleibt als selbst so maßlos es in meinen Kräften steht, zu lieben. Darf ich mir in diesem Zusammenhang eine theologische Folgerung erlauben? Es steht geschrieben: 16 Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Johannes 3:16 Luther Bibel 1545 Ist es denkbar, ist es möglich, dass auch ER, bei der Betrachtung der von IHM geschaffenen Welt, einen Ekel empfand so groß dass IHM nichts übrig blieb um sich und sie zu retten, als das größte denkbare Liebesopfer? Herzliche Neujahrsgrüße an Sie beide. Jochen Meyer