Lieber Herr Nielsen, selbstverständlich erfordert die aufdringliche Sofortigkeit dieser Antwort auf Ihren Brief, kaum eh ich mich für ihn bedankt habe, meine Entschuldigung. Ich wiederhole mich mit der Ausrede, dass ich vorsätzlich versuche mein Denken "in real time" (in "Echtzeit") aufzuschreiben, will sagen, meine Gedanken, insofern sie sich als solche rühmen dürfen, schon indem sie sich im Gemüt entwickeln in die Tastatur einzugeben; weiß ich doch aus enttäuschter Erfahrung, wie mühsam, wenn nicht gar unmöglich es ist, das eben Gedachte später einmal aus dem Vorhin in eine neue Gegenwart zurück zu zitieren. Mein jüngster Brief an Sie, den ich wiederholt überlesen habe, bietet den neuen Überlegungen ihre Ausgangspunkte, a) die sich aus der Inkarnation des Sohnes ergebende Inkarnation des Vaters, und b) die Folgen des verirrten Medizinstudentens Beteiligung an Werner Jaegers Seminar über die Metaphysik. In einer Photographie unseres Schlafzimmers in Damascus Virginia aus dem Jahr 1961, hängt über unserem Bett ein Abdruck eines großen Holzschnitts von Albrecht Dürer, 1511, genannt Die Dreifaltigkeit, eine Pieta wo statt der Mutter, der trauernde Gottesvater den Leichnam des getöteten Sohnes auf seinem Schoße bettet. Jetzt hängt das Bild in dem großen Schlafzimmer des alten Teils unseres Hauses wo seit Jahren ein längst nicht mehr gespieltes Cembalo die Stelle des Doppelbetts einnimmt. Es ist ein Bild dass meine Einbildungskraft, seit ich es bei Schoenhofs, dem deutschen Bücherladen im Harvard Square, vor 71 Jahren, als Nachkriegsbeute des U.S. Alien Property Custodian entdeckte, begeistert, ein Bild das nun im Gewelle unsres jüngsten Briefwechsels einen noch tieferen Sinn zu offenbaren scheint. Denn mit dem Hinweis: 16 Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. (Johannes 3:16 Luther Bibel 1545) und mit der Frage: Ist es möglich, dass auch ER, bei der Betrachtung der von IHM geschaffenen Welt, einen Ekel empfand so groß dass IHM nichts übrig blieb um sich und sie zu retten, als das größte denkbare Liebesopfer? kommt mir der weitere Gedanke, ob es nicht unvermeidlich ist, dass mit und durch die Inkarnation des Sohnes, das Wesen auch des Vaters sich als ein menschliches ergibt. Ich frage mich, und ich frage Sie, lieber Herr Nielsen: Wird der Gottessohn zum Menschen, ist es nicht unvermeidlich dass ihm der Gottesvater ins Menschsein folgt? Die Kritik der frommen Juden lautet, Jesus sei zwar ein hervorragender Prophet, doch ihn als Nebengott zu behaupten, wie die Christen es tun, ist unerlaubt. Meine Vermutung, der Herrgott offenbare sich letzten Endes als ein Mensch, und als solcher vielleicht sogar mehr als ein Gott, stellt die alte Kritik auf den Kopf, denn jetzt erscheint nicht nur der Christus als _nur_ ein gemarterter Mensch, sondern auch der Vater der ihn aus Liebe opferte, wird durch dies Opfer von seiner Gottesmaske befreit und erscheint _nur_ als Mensch. Gegen eine derartige entidealisierende Theologie hätte ich keine Einwände. Die Fährte nach Bestätigung oder Widerlegung meiner ungehörigen Vermutung führte mich zurück zu Werner Jaeger und seinem letzten Buch: Die Theologie der frühen griechischen Denker. Es enthält die Gifford Lectures, die Professor Jaeger an der Universtät St. Andrews in Schottland hielt. Das Thema jener Vorlesungen ist der Kreis philosophischer Probleme die herkömmlich als "natürliche Theologie" bezeichnet werden. Ich vermutete zur Klärung meiner Frage ob nicht vielleicht der hoch gelobte und geliebte Gott ein menschenähnliches, wenn nicht gar ein menschliches Wesen sei, keinen mehr versprechenden Ort als Professor Jaegers Vorlesungen zu finden. Doch entdeckte ich meine Vermutung schon im ersten Absatz seines ersten Kapitels gedämpft, wenn nicht gar enttäuscht als ich las: "Wenn ich ein Recht habe, als klassischer Philologe und Humanist meine Bemühungen um diesen Gegenstand (den wir herkömmlich unter dem Namen der natürlichen Theologie zusammenfassen) derjenigen (sic) von Philosophen und Theologen zur Seite zu stellen, so kann sich dieses Recht nur auf die Bestimmung des Stifters (der Vorlesungen) gründen, wonach auch die _Geschichte_ des Problems in diesen Vorträgen behandelt werden soll." Mit dieser Feststellung eröffnet sich für mich neben der Theologie eine zweite, mir ebenso wesentliche Problematik der Geschichte, mit der ich mich abfinden muss, eh ich versuchen darf, Professor Jaegers Gedankengang ihm nachzugehen. Und nun, 18 Minuten vor Mitternacht, weiß ich dass ich mit diesem Brief in diesem Jahr nicht mehr zu Ende komme. Vorläufig nur diese Bemerkung, dass ich hoffte mit Professor Jaegers Anleitung bei den unpersönlichen kosmologischen Darstellungen der Vorsokratiker, Erklärungen für die menschenähnliche Personalität des Gottes oder der Götter zu finden, wie sie bei Hesiod und Homer, bei Moses und im Neuen Testament, so entscheidende Bedeutung haben. Erkenne jetzt, 8 Minuten vor dem Neuen Jahr, dass die Geschichte des Erzählers von der Geschichte die er erzählt, untrennbar ist. Professor Jaeger war überzeugter Protestant, Mitglied der Gemeinde der University Lutheran Church am Harvard Square, (wo auch meine Frau und ich uns am 8. März 1952 trauen ließen). Ihm ist es unmöglich sich einen gottlosen Geist vorzustellen. Er schreibt über Thales von Milet, dem frühsten der vorsokratischen Denker: "Der Philosoph (Thales) verzichtet auf jeden allegorisch-mythischen Ausdruck für seine Erkenntnis, dass alle Dinge aus dem Wasser entstanden sind. Sein Wasser ist ein sichtbarer Teil der Erfahrungswelt. Aber durch seine Ursprungschau wird er andererseits doch in die Nähe der mythischen Theologeme üder den Ursprung geführt, er tritt vielmehr mit ihnen in Konkurrenz. Daß seine scheinbar rein physikalische Lehre für ihn zugleich einen metaphysishen Charakter hat - wie wir sagen würden - enthüllt der einzige in sprachlicher Prägung von ihm überlieferte Ausspruch, wenn der tatsächlich auf ihn zurück geht: panta plere theon, "alles ist voll von Göttern." Neunzehn Minuten des Neuen Jahres sind nun schon wieder vergangen. Ich wünschen Ihnen beiden, Gesundheit und Frieden in den noch Kommenden. Fortsetzung folgt. Jochen Meyer ======================== From: Niels Holger Nielsen To: Ernst Meyer Subject: Re: am 27. Dezember 2018 Date: Mon, 31 Dec 2018 23:54:45 +0100 (12/31/2018 05:54:45 PM) Lieber Herr Dr. Meyer, gleich nach dem Eintreffen in unserer Heidelberger Wohnung, sehr früh am Freitagmorgen und bei noch nächtlicher Dunkelheit, durch den Jetlag in den Modus surrealer Wahrnehmung versetzt, fand ich Ihren Brief vor, der mir in seinem Tenor wie eine Mediation zwischen den Kontinenten erscheinen wollte. Eben noch in Boston, aber tatsächlich schon wieder in Europa, waren Ihre Zeilen für uns wie eine Zusammenführung der entgegengesetzten Pole. Auch dies eine hermeneutische Situation der besonderen und besonders intensiven Lektüre, in der der Leser zumindest glaubt, alle Implikationen und Obertöne erhaschen zu können. Für diese willkommenen Worte herzlichen Dank. Gerade sehe ich, dass hier bei uns das neue Jahr nur noch Minuten entfernt ist. So wünschen wir Ihnen für das neue Jahr alles erdenklich Gute. Und wir wünschen uns von Ihnen weiterhin anregende Briefe und Texte, auf dass unsere Rezeptionsfähigkeit getestet wird. Herzliche Grüße, auch von meiner Frau, Niels Holger Nielsen Von meinem iPad gesendet > Am 28.12.2018 um 05:24 schrieb Ernst Meyer : > > nihoni@icloud.com > am 27. Dezember 2018 > Lieber Herr Nielsen, > > Indem ich Ihnen beiden diese Abschiedsgrüße bestelle, befinden Sie sich > im Flugzeug hoch über den Wellen auf dem Weg nach Hause. Ich indessen > sitze am selben Tisch in der gemütlich warmen Küche wo wir uns gestern > besprachen, ungeduldig Ihnen ein weiteres Mal für Ihren Besuch zu > danken. Die Tür hatte sich kaum hinter Ihnen geschlossen, als ich > anfing in der Autobiographie von Michael Gielen, die Sie mir schenkten, > zu lesen. Gielen nimmt den Leser mit angenehmer Unbefangenheit des > Stils für sich ein. Zugleich stellt er mich der großen mir selber > unlöslichen Forderung der Vergesellschaftung gegenüber. Gielen > entstammt einer Familie von Schauspielern. Ihm ist die Bühnenaufgabe > der Vermittelung zwischen dem Selbstbewusstsein und dem > Allgemeinbewusstsein selbstverständlich. Das ist eine Pflicht der ich > nicht gewachsen bin. Statt ihr nachzukommen, mache ich aus der Not eine > Tugend, und versuche affenartig mich unter Kierkegaards oder Rilkes > Mantel zu verstecken. > > Es ist mir peinlich, lieber Herr Nielsen, dass Sie sich von meiner > Anspielung auf das Nichtlesenkönnen auch nur vorübergehen betroffen > fühlten, wo doch ausgerechnet Sie gerade der Leser sind der meine > schriftlichen Schnurrigkeiten aufs Großzügigste entschuldigt. Meine > Bemerkung rührte von einer Erinnerung eines Seminars über die > Metaphysik des Aristoteles dem Werner Jaeger mir im Herbstsemester 1951 > erlaubte beizuwohnen. Es war das zweite Jahr meines Medizinstudiums. > Zugunsten von Aristoteles, schwänzte ich die klinischen Vorstellungen, > die ich geistlos, unsinnig und langweilig fand. Werner Jaeger der > seine Studenten mit mir als "ho hiatros" (der Arzt) bekannt machte, > amüsierte sich über den verirrten Medizinstudenten. Jaeger eröffnete > sein Seminar mit der Erklärung, "Now I will teach you how to read." Er > fuhr fort jedes bedeutsame Wort aus seinem jeweiligen Zusammenhang > auszulösen, um es dann im Glanze seiner vielseitigen Sprachkenntnisse > wie einen Schmuckstein glänzen zu lassen, indem er die verschiedenen > Zusammenhänge zitierte, in welchen der gegebene Ausdruck anderen Ortes > erschien. > > Je älter ich werde, desto geheimnisvoller wird mir das Lesen, das mich > als jüngerer Mensch so selbstverständlich anmutete. Die Aufgabe des > Schriftstellers, so erscheint es mir heute, ist nicht (nur) seine > eigene Erfahrung und sein eigenes Erleben mitzuteilen. Dies wäre ihm > nicht weniger erlaubt als seinen Lesern eigens erfundene Worte oder > eigens geschusterte Grammatik zuzumuten. Der Leser sucht kein tête-à- > tête, keinen Gedankenaustausch unter vier Augen, kein vertrauliches > Gespräch zu zweien. Der Leser möchte in ein gemeinschaftliches Geist- > und Seelenleben eingebürgert werden. Er bedarf Oikeiosis, Beheimatung > in einer fremden feindseligen Welt, und diesen Schutz vermag ihm der > Schriftsteller nicht als schnurriger Sonderling, sondern nur als > Gesellschaftsvertreter zu besorgen. Daher beherrschen "Bestseller > Lists", Kataloge meist gelesener Erfolgsbücher, die Feuilletons der > Zeitungen, denn darin dass er liest und lobt was die vielen Anderen > lesen und loben, findet der Leser die ersehnte seelische und geistige > Geborgenheit. Mit allen meinen Versuchen eine gesellschaftliche > geistige Gemeinschaft zu gründen, auch in der eigenen Familie, - und > besonders hier -, meine angehimmelte Frau hat keines meiner Bücher je > gelesen -, hab ich versagt. > > Aber die Liebe, die Agape, ist etwas ganz anderes. Sie ist nicht die > Bereicherung an seelischen, geistigen oder gar materiellen Gütern. Die > Liebe ist Ausdruck der Sehnsucht nach einer liebevollen Welt, die ich > mit keinem Verlangen geliebt zu werden zustande zu bringen vermag, so > dass ihretwillen, um sie zu verwirklichen, mir nichts übrig bleibt als > selbst so maßlos es in meinen Kräften steht, zu lieben. Darf ich mir > in diesem Zusammenhang eine theologische Folgerung erlauben? Es steht > geschrieben: > 16 Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, > auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das > ewige Leben haben. Johannes 3:16 Luther Bibel 1545 > Ist es denkbar, ist es möglich, dass auch ER, bei der Betrachtung der > von IHM geschaffenen Welt, einen Ekel empfand so groß dass IHM nichts > übrig blieb um sich und sie zu retten, als das größte denkbare > Liebesopfer? > > Herzliche Neujahrsgrüße an Sie beide. > > Jochen Meyer