Subject: am 2. Maerz 2019 From: Ernst Meyer Date: 03/02/2019 06:22 PM To: Niels Holger Nielsen am 25. Februar 2019, 20:00 Uhr Lieber Herr Nielsen, Dank für Ihren Brief. In Heidelberg ist's schon längst nach Mitternacht, und sie sind vermutlich von Bad Mingolsheim in Ihre leere Wohnung zurückgekehrt. Ich weiß wie das ist.  Bezweifle aber dass es mir gelingen möchte Ihnen mit einem meiner Schwafelbriefe Gesellschaft zu leisten.  Zu den Elegien die ich so prahlerisch in Betracht zog, bin ich noch nicht gekommen.  Es fällt mir auf, dass ich letztendlich am wenigsten mit jenen meiner Schreibereien unzufrieden bin, die sich mir aus dem Unbewussten aufdringen, meist unerwartet, und die ich dann verantwortungslos für den belanglosen, vielleicht sogar abwesenden, Inhalt wie ein Diktat niederschreibe. Seit einigen Wochen hat sich ein Zusammentreffen mit zwei Mitgliedern des Orchesters meines Enkels Nathaniel entwickelt.  Zwei Mal, bis jetzt. Ob ein drittes Mal bevorsteht ist unbestimmt.  Dass es sich um regelmäßige Übungen handelt, ist unwahrscheinlich.  Außer mir selber, zwei Teilnehmer: Der eine ist ein sehr intelligenter, lediger, bemittelter einundvierzig Jahre alter Elektrotechniker Namens Nicola Chubrich, der für Nathaniel abwechselnd Bratsche und zweite Violine spielt.  Der andere ist ein jüngerer ebenfalls scheinbar sehr intelligenter Oboist, Michael Ochoa, so schweigsam, dass er mir bis jetzt nicht das Geringste vom seinem Leben erzählt hat.  Aber Michael versteht von der Geschichte der Philosophie, die Problematik des Niederschlags unverständlicher Sprachbrocken in vermeintliche Gesetze, von denen Kant meint dass sie die Welt regieren und dass ein jeder von uns ihnen absolut gehorsampflichtig ist.  Die beiden, Nicola und Michael, haben gebeten einige von Platons Schriften mit mir zu besprechen.  Sie kommen an ihnen beliebigen Abenden nach dem Essen und bleiben zwei bis drei Stunden zu ungezwungenen Unterhaltungen über das verabredete Thema.  Beim ersten Besuch, war es die Verteidigungsrede des Sokrates über die wir uns unterhielten, beim zweiten, das Gespräch Kriton, und in Vorbereitung für den kommenden, den dritten Besuch, hat Nicola vorgeschlagen, dass wir das Gespräch Phaedon lesen.  Ich bezweifle dass der beiden Interesse währen wird.  Alles ist vergänglich; Bleiben ist nirgends.  Darin stimmen Rilke und Heraklit überein. In diesem Zusammenhang bedenke ich mit melancholischer Ironie, dass ich es in den abschließenden Tagen nun doch, wenn auch nur zu einer Parodie der Professur, die ich mir in meinen jungen Jahren gewünscht hatte, gebracht habe.  Jedenfalls hat sich ein Seminar merkwürdiger Art ergeben.  Ich erlebe es als anregend immer wieder zum Nachdenken über Texte die ich nur kaum oder garnicht verstehe, veranlasst zu werden.  So zum Beispiel über den einschlägigen Hinweis auf das kärgliche Familienleben des verurteilten Störenfrieds Sokrates, wenn er seinen Freund Kriton betreffs der weinenden, klagenden, vielleicht sogar heulenden Ehefrau Xantippe beauftragt: [60α] κατελαμβάνομεν τὸν μὲν Σωκράτη ἄρτι λελυμένον, τὴν δὲ Ξανθίππην—γιγνώσκεις γάρ—ἔχουσάν τε τὸ παιδίον αὐτοῦ καὶ παρακαθημένην. ὡς οὖν εἶδεν ἡμᾶς ἡ Ξανθίππη, ἀνηυφήμησέ τε καὶ τοιαῦτ᾽ ἄττα εἶπεν, οἷα δὴ εἰώθασιν αἱ γυναῖκες, ὅτι ‘ὦ Σώκρατες, ὕστατον δή σε προσεροῦσι νῦν οἱ ἐπιτήδειοι καὶ σὺ τούτους.’ καὶ ὁ Σωκράτης βλέψας εἰς τὸν Κρίτωνα, ‘ὦ Κρίτων,’ ἔφη, ‘ἀπαγέτω τις αὐτὴν οἴκαδε. 60a] we found Socrates just released from his fetters and Xanthippe—you know her— with his little son in her arms, sitting beside him. Now when Xanthippe saw us, she cried out and said the kind of thing that women always do say: “Oh Socrates, this is the last time now that your friends will speak to you or you to them.” And Socrates glanced at Crito and said, “Crito, let somebody take her home.” Dieses Familienbild rief mir dann das kleine Lied ins Gedächtnis das mich trennungsverängstigtes Kind lebenslang getröstet hat.  Es stammt aus einer Oper von Heinrich Stölzel und ist durch den Eintrag ins Notenbuch der Anna Magdalena Bach bekannt geblieben. Bist du bei mir, geh ich mit Freuden zum Sterben und zu meiner Ruh. Ach, wie vergnügt wär so mein Ende, es drückten deine schönen Hände mir die getreuen Augen zu! Mit erstaunlicher Einfühlung, obgleich ohne Ahnung was sie besagt, spielt mein Enkel Nathaniel die Melodie auf seiner Trompete.  Wie unterschiedlich war nicht die Welt Athens im vierten vorchristlichen Jahrhundert von der Welt Deutschlands im achtzehnten!  Dem Phaedon gemäß, ließ Sokrates sich in den Tod begleiten nicht von seiner Frau, nicht von einer nahen Freundin oder von ein einem nahen Freund, sondern von einer zahlreichen Gesellschaft welche die wirkliche Beziehung der Menschen zu einander, wie ich sie erlebe, zersetzt. In diesem Zusammenhang ist mir bedenkenswert was ich mir seit Jahren in der vierten Kantate des Weihnachtsoratoriums als ein protestantisches Requiem erkläre.  Der einschlägige Text, vielleicht von Picander gedichtet: Immanuel, o süßes Wort! Mein Jesus heißt mein Hort, Mein Jesus heißt mein Leben. Mein Jesus hat sich mir ergeben, Mein Jesus soll mir immerfort Vor meinen Augen schweben. Mein Jesus heißet meine Lust, Mein Jesus labet Herz und Brust.   Jesus, du mein liebstes Leben,   Meiner Seelen Bräutigam, Komm! Ich will dich mit Lust umfassen, Mein Herze soll dich nimmer lassen,   Der du dich vor mich gegeben   An des bittern Kreuzes Stamm! Ach! So nimm mich zu dir! Auch in dem Sterben sollst du mir Das Allerliebste sein; In Not, Gefahr und Ungemach Seh ich dir sehnlichst nach. Was jagte mir zuletzt der Tod für Grauen ein? Mein Jesus! Wenn ich sterbe, So weiß ich, daß ich nicht verderbe. Dein Name steht in mir geschrieben, Der hat des Todes Furcht vertrieben. Ich betrachte diese Strophen als zur großen verkannten Dichtung des deutschen Barock gehörig.  Die darauf folgende Echo Arie für Sopran und solo Oboe höre ich als musikalische Darstellung der Todesahnung.  Das Echo ist die tröstende Heilandsstimme aus dem Jenseits von wo sie das ewige Leben verspricht. Flößt, mein Heiland, flößt dein Namen Auch den allerkleinsten Samen Jenes strengen Schreckens ein? Nein, du sagst ja selber nein. (Nein!) Sollt ich nun das Sterben scheuen? Nein, dein süßes Wort ist da! Oder sollt ich mich erfreuen? Ja, du Heiland sprichst selbst ja. (Ja!) Die drei Schriftstücke die wir uns aufgegeben haben, die Verteidigungsrede, die Gespräche Criton und Phaedon, mögen als Zusammenfassung eines altgriechisches Sterbensverständnisses gelesen werden, Sie sind Todeslehre, Thanatologie. Bedeutsam erscheinen mir verschiedene Themen, wie etwa die Götter und ihr Haushalt, die Verlockung einer möglichen Flucht, die Problematik des Exils in der Fremde, die dieseitige und jenseitige Phänomenologie des Todes, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Wahrheit und Lüge, in Beziehung zu den Richtern, Zeugen, und Opfern von Gerichtsverfahren. Diese Themen ließen sich mittels von induktiven oder deduktiven Deutungen erwägen. Induktive Erörterungen ergeben sich aus sorgfältigem, gewissenhaftem und vollständigem Zusammenlesen der vielen einzelnen einschlägigen Aussagen im gegebenen Schriftstück, bedürfen dennoch am Ende das zusammenfügende Verständnis des Lesers. Deduktive Erörterungen hingegen, setzen vom Leser eine vom Schriftstück unabhängige umfassende Deutung der Erlebenswelt voraus, eine Deutung welche jeweils von den Gegebenheiten einer vorliegenden Schrift bestätigt, berichtigt oder widerlegt werden mag. Weiteres ließe sich am gegebenen Beispiel erleutern. am 27. Februar 2019 um 22:00 Uhr Lieber Herr Nielsen, Wenn ich die ungeordneten Gedanken lese, die ich im Verlauf der beiden vergangenen Tage in diesen Brief gegossen habe, muss ich mich wegen ihrer Geringfügigkeit schämen, und mich fragen ob es nicht vernünftiger wäre den Versuch mich Ihnen mitzuteilen aufzugeben, und das Aufgezeichnete, wie meine Eltern gesagt haben würden, ad acta zu legen. Dann aber suchen meine Gedanken Sie in Heidelberg auf, und schlagen mir vor, dass es Ihnen vielleicht einen spaßigen Zeitvertreib bedeuten würde, sich über meinen Blödsinn zu amüsieren. Er bedarf keine Antwort, nicht einmal ein mattes Lächeln. Ich danke Ihnen für Ihren Vorschlag zu einem Versuch märchenartige Geschichten für Kinder zu schreiben.  Ich bin zu alt, bin der eigenen Kindheit zu entfernt, und fühle mich ihr entfremdet als ob sie der Anfang einer Reihe von Fehlern gewesen wäre, die schließlich erst jetzt zu Ende geht.  Meine vier Enkelkinder sind sämtlich erwachsen; die einzige gegenwärtige Beziehung ist das Geld das ich ihnen schenke und das Vermögen das ich ihnen hinterlassen werde.  Vor Jahren schrieb ich drei kleine Märchen. Die sind ihnen unter http://home.earthlink.net/~ernstmeyer/notes/uncle_fred.html http://home.earthlink.net/~ernstmeyer/notes/bean_salad.html http://home.earthlink.net/~ernstmeyer/notes/ackmedsch.html verfügbar, falls es Sie interessieren sollte. Abgesehen von den geringfügigen Haushaltspflichten, wie des Morgens die Bettlaken zusammenzuziehen und des Abends das Geschirr abzuwaschen, verbringe ich meine Tage mit dem Aufzeichnen meiner Gedanken und Gefühle, in der Hoffnung, dass in dem entleerten Gemüt, wie in einem Zauberbrunnen, Neues und vielleicht mehr Gültiges sich umso schneller ansammeln möchte.  Leider nur selten. Dann fange ich an zu lesen, komme vom Hölzchen aufs Stöckchen.  Jüngst, bei der Suche nach Verständnis des Phaedon von Platon, war es das Buch von Moses Mendelssohn mit dem gleichen Namen, und von da aus zu den Enneaden des Neuplatonikers Plotinus, dessen Griechisch zu entziffern mir nicht gelingen wollte. Danach fing ich an im Wachen von meiner vor drei und einhalb Jahren verstorbenen Frau zu träumen, und mir die Unwiederbringlichkeit der einstigen Gegenwart zu vergegenwärtigen. Zuletzt, wenn das Schreiben mir längst unmöglich geworden ist, und wenn auch die gedruckten Worte, wie hell und vergrößert sie auch auf dem Bildschirm erscheinen, keinen Eindruck mehr machen, erlaube ich mir mich von der Musik berauschen zu lassen.  Auch hier ist für mich heutzutage die Elektrotechnik unentbehrlich; denn es ist mir undenkbar mit meinem verkrüppelten Körper in einen Konzertsaal oder gar in eine Oper zu straucheln.  Stattdessen schalte ich meinen Rechner auf "Youtube" und wähle die Opernaufführung die meine Vorstellung derzeit verlockt.  Vor zweieinhalb Jahren, ich besinne mich auf unsere Korrespondenz, war's Figaros Hochzeit die mich bannte.  Kürzlich hab ich wiederholt eine Aufführung der von Richard Strauss vertonten Komödie Arabella am Bildschirm aufflackern lassen.  Die Kopfhörer ermöglichen dann eine Lautstärke genügend meine Schwerhörigkeit aufzuwiegen.  Das Ergebnis dieser ansprechenden Unterhaltung sind inwendige Auseinandersetzungen in verschiedenen Richtungen. Vorerst die laute, aufdringliche, oftmals chaotisch klingende Musik aus einer Überzahl mit einander ringender Instrumente, eine Kakophonie geeignet die Sehnsucht nach Melodie und Ebenmaß, wenn nicht gar nach Stille, vorm Einschlafen zu bewahren.  Hin und wieder, aber nicht oft genug, ertönen Stimme und Begleitung in Absätzen mit wunderbar harmonischer Übereinstimmung von Wort und Ton.  Nicht selten aber meine ich zu hören wie die gebastelte Musik der Instrumente die eingeborene Musik der Sprache zu bekämpfen scheint, als wollte der Komponist den Dichter zu Boden strecken, als wäre die Note bestrebt das Wort welches sie begleitet, hinzurichten.  Weder in Hofmannsthals eigenen Schriften, noch in den irgendwelchen Beschreibungen seiner Arbeit, habe ich Hofmannsthals Bewertung der musikalischen Deutungen seiner Dichtung erwähnt gefunden. Im Rahmen dieser Gedanken, erinnere ich die Beschreibung von Thomas Manns in seinem Roman, Dr. Faustus, wo der in die Wahnsinnsnacht versinkende Adrian Leverkühn klagt, "Ich will sie zurücknehmen," und dann, auf weiteres Fragen erklärt, es sei das Edle, Gute, und Schöne in der Welt, es sei die Neunte Symphonie die er zurücknehmen wollte.  In diesem Sinn, höre ich so manche Aufführung "moderner" Musik als Zurücknahme, als Widerrufung des musikalischen Gefühls das ich mir im Verlauf des langen Lebens angeeignet habe, mit dem ich mich tröste, und von dem ich zuweilen meine, dass es mir das Leben überhaupt ermöglicht. Vergleichbar geht's mir auf den Gebieten der Literatur und andrer Künste, als wollten zeitgenössische Künstler die große Überlieferung "zurücknehmen." Vielleicht, sage ich mir, sind die Verwandlungen der Künste naturgemäß und unvermeidbar, nicht weniger naturgemäß als meine träge Beharrungssehnsucht nach dem Erleben längst vergangener Tage. Wenn ich die Handlung der Oper Arabella bedenke, besinne ich mich der Angst (kürzlich von Ihnen erwähnt) welche das Anhören Grimmscher Märchen mir im Kindergarten auslöste. Bin dankbar endlich von dergleichen befreit zu sein, fähig nun das Dargebotene als Kunst oder als gekünstelt zu bewerten, und leidenschaftslos festzustellen, wie entfernt von meiner eigenen Erfahrung.  Arabellas Willkommen an ihren Liebhaber: "Sie seh'n nicht aus, wie jemand den das alles da interessiert," gilt auch mir. Unter dem Zwang der klassischen Zeitbeschränkung von 24 Stunden, findet die Verlobung von Arabella und Mandryka in 16 Minuten und 21 Sekunden statt.  Meiner Erfahrung gemäß nimmt soetwas fünf einhalb Jahre in Anspruch. Die Oper Arabella, wie die Zauberflöte nimmt ihren Anflug von einem Bild, ein Bild das Mozart in der Arie: "Dies Bildnis ist bezaubernd schön" in einer Weise veranschaulicht welche Paminas tatsächliche körperliche, geistige, seelische Schönheit nebensächlich macht. Paminas Bild ist zu Musik geworden.  Anders Strauss, der vermag nur die Worte: "So schön sind Sie!" immer und immer wieder von ihrem Liebhaber Mandryka laut und eindringlich der schönen Arabella wie einen Schrei, "So schön sind Sie!" ins Gesicht singen zu lassen. Fast widersinnig, denn die unschöne Aufdringlichkeit der Worte widerruft die angepriesene Schönheit der Heldin Arabella und beschattet die augenscheinliche Schönheit der Sängerin, Gundula Janowitz. Gehört die Frau auf die Bühne?  Der unverkennbare geschlechtliche Reiz den die Opernsängerin als Prima Donna ausstrahlt, ist ein heikles Thema das der Entschuldigung bedarf sobald es erwähnt wird. Nicht nur Opernsängerinnen, auch Schauspielerinnen, besonders im Kino, werden wegen ihrer vermeintlichen körperlichen und vielleicht auch seelischen Schönheit geschätzt, geehrt und besoldet.  War das schon immer so? Haben auch in der Antike, griechische Männer sich nach holden und schönen Frauen, nach Helena, nach Aphrodite, nach Ariadne, nach Artemis, nach Athena, nach Antigone, nach Iphigenie, nach Persephone gesehnt? Und in neueren Zeiten, hatte Miranda Verehrer abseits der Bühne? War Ophelia Geliebte von einem außer Hamlet?  Hatte Gretchen Liebhaber anders als Heinrich (Faust)? War Iphigenie von Männern anders als dem Barbaren Thoas auch bühnenabseits, und besonders hier ersehnt? Hatte Johanna von Orleans Verehrer hinter den Kulissen? Ist die erotisierung der Schauspielerin urmenschlich oder eine Erscheinung der Moderne? Ich weiß es nicht. Man möchte behaupten, dass besonders seit meiner Frau, seit Margarets Tod in jeder Frau die mir begegnet ein Abbild von Margaret, wie matt und fahl auch immer, in die Augen fällt.  Ich bin nie ein Schürzenjäger gewesen und werde mich im 89. Lebensjahre nicht in einen solchen verwandeln. Trotzdem, oder vielleicht deshalb möchte ich beschreiben, möchte verstehen und erklären, was vor sich geht wenn das wenn auch nur elektronische Bild einer Frau, klug, anmutig und schön mich beeindruckt. Die Arabella Aufführung von 1977 mit Gundula Janowitz auf dem Bildschirm des Rechners erinnert mich an meine Begegnung mit Margaret im Mai 1946. Ich sehe eine gewisse Ähnlichkeit in den Erscheinungen der beiden Frauen, nein nicht von Arabella und Margaret, sondern von der als Arabella vertarnten Gundula Janowitz entsprechend Gundulas Vorstellung von Arabella, entsprechend der Vorstellung des Regisseurs Otto Schenk und vielleicht sogar entsprechend der Vorstellung des Dirigenten Sir Georg Solti. Nur einen Augenblick, nur eine winzig geringe Zeit bilde ich mir ein, dass die Bühnengestalt, sei sie Arabella oder Gundula, wirklich ist, dass mir mit dieser Begegnung eine neue Liebe möglich geworden wäre, dass ich mich in Gundula verlieben dürfte.  Ernüchterung lässt nicht auf sich warten. Ich verstehe, was ich nie vergessen hatte, dass es (nur) ein Schauspiel ist worin ich verfangen bin.  Die Arabella Komödie ist Erfindung von Hofmannsthal.  Die Arabella auf dem Bildschirm ist Vorstellung von Gundula Janowitz.  Die Schauspielerin Gundula spielt viele Rollen, hat viele Gesichter, und meine Sympathie für Gundula wird von ihrem Auftritt in auch nur einer einzigen Rolle anders als Arabella gelöscht, wie etwa als Prima Donna mit von Schminke entstelltem Gesicht im Vorspiel in Ariadne auf Naxos, oder noch zerrüttender, als Sopranistin die in der H-moll Messe (unter Karl Richter) Christe Eleison und Domine Deus, rex coelestis, mit zum blauen Kleid passend blaugefärbten Augenlidern, singt.  Sehr wenig ist's das genügt mich zu überzeugen wie unmöglich mir eine engere Beziehung zu einem solchen Bühnenbildnis wäre, und mich umso dankbarer stimmt allein zu sein und zu bleiben.  Heute ist Gundula eine alte Frau mit weißen ausstrahlenden Haaren, die ihren hochgepriesenen erfolgreichen Lebenslauf als Opernsängerin mit weiteren rückwärtsgerichteten Besprechungen auf der Internetbühne bestätigt und befestigt. Alle Menschen sind Schauspieler. Die ganze Welt ist eine Bühne.  (All the world's a stage, behauptete Shakespeare.) Unterschiedlich sind nicht nur die Spieler, sondern auch die verschiedenen Bühnen.  Die Stimme der Sängerin befördert sie auf eine Bühne höher und weiter als fast alle anderen Bühnen, und verleiht der Sängerin dort unvergleichbare Sichtbarkeit.  Die meisten von uns aber spielen Privatschauspiele auf den historisch eng begrenzten Bühnen des persönlichen Lebens.  Ein jeder von uns (wie etwa mein Enkel Nathaniel) fühlt sich getrieben die Bühne auf der sein Leben sich abspielt aufs möglichste zu erweitern.  Von der Bühne zu scheiden ist eine andere Sache, ist möglich nur im Wahnsinn; endgültig und natürlich im Tod. Die Bühne auf der wir als Schauspieler erscheinen ist die Gesellschaft. Die Gesellschaft zwingt uns als Schauspieler zu leben, besonders die Ehe.  Die Ehe macht unsereinen unvermeidlich zum Schauspieler.  So bin auch ich zum Schauspieler geworden, wenngleich vielleicht eigener Art. Vielleicht sträubte ich mich gegen die Ehe weil ich wähnte, dass es mir unmöglich sein möchte die Rolle eines anderen zu spielen, der ich so dringend auf das eigene Ich erpicht bin.  Aber selbst dann, wenn ich meine nichts als mein eigenstes Ich zu vertreten, ist mir unmöglich nicht Schauspieler zu sein.  Denn von der Bühne auszureißen ist unmöglich.  Margaret war auch Schauspielerin.  Mit ihrer Ehe wechselte sie die Bühne und trat ein neues mehr leidenschaftliches Schauspiel an. Im zweiten Band meiner Romanreihe "Vier Freunde" hab ich das Thema der Bühnenehe angeschnitten ohne die geistig-seelischen Verwicklungen auszuloten.  In jener Geschichte hab ich den Gelehrten Jonathan Mengs mit einer Cembalistin, Susanna Freudenberg verkuppelt unter der Vermutung dass es vielleicht unter Umständen der Musik bedürfe, um eine körperliche Beziehung erträglich zu machen; hab aber, wenn ich mich nach so vielen Jahren recht erinnere, dies Thema nicht durchgeführt. am 2. März 2019 Lieber Herr Nielsen, Die Zusammenstellung dieses übermäßig langen und weitläufigen Schreibens erstreckt sich nun über sieben Druckseiten und fünf verschneite Tage. Hab' niedergeschrieben was mir in den Sinn kam, wie Aufzeichnungen in ein Tagebuch, von denen ich nicht weiß ob ich sie Ihnen zusenden darf. Wenn ich es dennoch tue, so bitte ich Sie um Entschuldigung für meinen Übermut, und wünsche Ihnen, und besonders Ihrer Frau, einen gesunden glücklichen Frühling. Jochen Meyer