Subject: am 4. Maerz 2019 From: Ernst Meyer Date: 03/04/2019 05:52 PM To: Niels Holger Nielsen am 4. März 2019 Lieber Herr Nielsen, Wäre ein Nachtrag zu den zügellosen Ergüssen die ich Ihnen neulich zukommen ließ der geeignete Ort Reue und Buße für die Abwesenheit von Maß und Mäßigung anzukündigen?  Mein Treppenwitz lässt mir keine Ruhe. Bei meinen Berichten von den Unterhaltungen mit Nicola Chubrich und Michael Achoa über Platons Gespräche über den Tod des Sokrates, hab ich wieder einmal - warum wohl? - die mir wichtigsten Themen ausgelassen: Wie ist die Tatsache dass Sokrates mit seiner herausfordernden Verteidigung in der Apologia und mehr noch, mit seiner Ablehnung der Fluchtvorschläge seines Freundes Criton, überlegt und absichtlich den eigenen Tod herbeiführte und somit Selbstmord beging, mit der Verurteilung des Selbstmords im Phaedon als sündhaft zu vereinbaren? Die induktive Lösung dieses Widerspruchs, die ich als einen möglichen Vorgang kürzlich zu bestimmen versuchte, scheint mir angesichts der unverfrorenen Widersprüchlichkeit des Texts unmöglich.  Eine deduktive Betrachtung hingegen schiene von Wert, denn die Fragen, was treibt den Menschen zum Selbstmord, und was hält ihn davon ab, scheinen mir auf unentdeckbare Geheimnisse zu deuten.  Ich bin von jeher von der sogenannten Freiheit des Willens unüberzeugt geblieben. Es sind nicht offenbare äußerliche Entscheidungen, es sind unerkennbare innerliche Bestimmungen denen zufolge wir handeln. Warum der Mensch sich unter den meisten Umständen zu Erhaltung seines Lebens gezwungen fühlt, ausnahmsweise aber sich gedrängt fühlt sein Lebens zu zerstören, ist eine Frage auf die ich keine Antwort weiß. * * * * * * Meine Feststellung, die Ehe sei eine Bühne auf welcher die Gatten ihre von Natur und Gesellschaft vorgeschriebenen Rollen spielen, hat auch mich überrascht, aber je mehr ich die Frage bedenke desto wahrscheinlicher scheint es mir dass dem so ist. Ich verstehe die Ehe, biologisch und psychologisch, als die Urform der Vergesellschaftung und beginne zu ahnen weshalb die Ehe mit der geistig-seelischen Einsamkeit, mit dem Selbstsein des Einzelnen, unvereinbar ist, eben so unvereinbar wie die Einsamkeit mit der Fortpflanzung des Geschlechts. Beginne zu ahnen weswegen Kierkegaard seine Verlobung auflöste; meine auch das Cölibat der katholischen Priester in einem anderen, neuen Lichte zu sehen. Einsam sein ist Voraussetzung für die höchste geistig-seelische Leistung, Voraussetzung für die Kunst. Nun aber dreht sich die Bühne, und in der nächsten Szene, im nächsten Akt wird sichtbar die unbedingten Abhängigkeit der Kunst von der Gesellschaft, als Spiegelbild, als Echo der Abhängigkeit des Einzelnen von ihr. Die Sprache, die Musik, das Universum der symbolischen Formen, sind Ergebnis und Ausdruck der Vielheit der Menschen, unmöglich und unvorstellbar ohne ihre Gesellschaft, lediglich als Erzeugnis des Einzelnen. Somit hat das Rad sich vollends gedreht.  The wheel has come full circle. Das Denken ist von selbst an seinen Anfang zurückgeführt, und bestätigt die Weisheit Heraklits. Der Weg nach oben und der Weg nach unten sind ein und der gleiche. Herzliche Grüße and Sie beide. Jochen Meyer