Subject: am 6. März 2019 From: Ernst Meyer Date: 03/06/2019 09:24 PM To: Niels Holger Nielsen am 6. März 2019 Lieber Herr Nielsen, ein weiteres Mal Dank für Ihren Brief vom 24. Februar.  Ich hab ihn noch verschiedentlich gelesen. Durch Ihre Erwähnung angeregt habe ich dann, viele Jahre waren seit dem letzten Mal vergangen, in Schleiermachers Reden über die Religion gelesen.  Ich finde diese Reden eine anspruchsvolle philosophisch-theologische Hymne verwurzelt in weitverzweigten Voraussetzungen über unser geistiges Erbe, Voraussetzungen denen nachzuspüren ich vorläufig aufschieben möchte. Umso unmittelbarer ist das Bedürfnis mein Verständnis - oder Unverständnis - der von Kierkegaard geforderten Gleichzeitigkeit genauer zu beschreiben. Vorerst die Unbestimmtheit ob Kierkegaards Samtidighet als theologische oder philosophische Forderung gedeutet werden sollte. Diese Frage verschwindet für mich insofern ich Platon in dem Vorsatz beipflichte, dass die Philosophie als ihre Leitsterne auf das unbedingt Wahre, auf das unbedingt Gute und auf das unbedingt Schöne, will sagen auf das Göttliche, hinweist, so dass die Philosophie als Liebe zur Weisheit mit der Theologie als Lehre vom Göttlichen nicht nur übereinstimmt, sondern dass die beiden, Theologie und Philosophie, zusammenfallen, dass sie ein und dasselbe sind. Von jeher hab ich mir Kierkegaards Forderung um Gleichzeitigkeit mit Jesus als Nachklang der Mystik des 17. Jahrhunderts gedeutet, der Lehren des cherubinischen Wandersmanns, der Bachkantatentexte auch von Picander, der Kirchenlieder von Paul Gerhardt, wie etwa Ich will hier bei dir stehen, Verachte mich doch nicht! Von dir will ich nicht gehen, Wenn dir dein Herze bricht; Wenn dein Haupt wird erblaßen Im letzten Todesstoß, Alsdann will ich dich faßen In meinen Arm und Schoß. Dieser Choral bezeichnet das geistig-seelische Bewusstsein meiner Kindheit, das unvereinbar ist mit der aufklärerischen realgeschichtlichen Botschaft des 19. Jahrhunderts wie sie zum Beispiel in dem Wikipedia Aufsatz https://de.wikipedia.org/wiki/David_Friedrich_Strau%C3%9F beschrieben wird.  Demgemäß ist mir Kierkegaard's Anspruch auf Gleichzeitigkeit (des Bewusstseins) als Behauptung seines religiösen Erlebens gegen den zeitgenössischen geisteswissenschaftlichen Angriff zugleich verständlich und sympathisch. Wenn ich das eigene Denken überlege, beeindruckt mich meine Unzufriedenheit mit der Vielfalt der Behauptungen. Das monistische Bedürfnis verlangt verschiedenes geistiges Erleben zu vereinbaren, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Ich bin mir der Gefahren und Nachteile solch monistischer Neigungen bewusst. Im gegebenen Falle bin ich ihnen schwer verschuldet: sie haben mich auf weite, und wie mir scheint, fruchtbare Gefilde geführt. Seit vielen Jahrzehnten (aus meinen Tagebüchern wäre ersichtlich wie vielen) betrachte ich Verallgemeinerung und Ausdehnung der kierkegaardschen Gleichzeitigkeitsforderung als die eigentliche philosophische Aufgabe unseres Zeitalters, und demgemäß auch meines eigenen Lebens. Ich möchte der Erste sein auf den Widerspruch hinzuweisen, der Gleichzeitigkeit im Erleben als Aufgabe "unseres Zeitalters" nach sich zieht, wo es unvermeidlich ist, dass "Gleichzeitigkeit" das "Zeitalter" storniert. Mit "Zeitalter" wäre "Gleichzeitigkeit" aufgehoben, und umgekehrt. "Gleichzeitigkeit" besagt das Aufheben der Zeit, und somit wird "Gleichzeitigkeit" der Schlüssel womit ich beanspruche die Rätsel des Zeitbewusstseins - und der Geschichte - zu erschließen. Großspurig: Philosophie der Geschichte:            Geschichte I Im Lesesaal studieren wir Geschichte. Unzählge Bücher auf Regalen stehn, Enthalten die gelehrtesten Gedichte, die woll'n der Wahrheit nur im Wege stehn. Ein Sonnenstrahl dringt durch das offne Fenster, in seiner Bahn erglänzt der Staub im Tanz. Der Staub ist echt, im Buche sind Gespenster. Schau, es verhüllt der Staub der Helden Glanz. Der Staub im Licht hat größre Wirklichkeit als Staatsverträge der Vergangenheit, denn das Geschehene ist unerreichbar. Nur Gegenwärtiges ist mir begreifbar. Flüchtiger Staub bezeugt mein jetz'ges Leben. Geschichten nur als Phantasien schweben.               * * * * * *                 Einst Einst ist das trügerische Doppelwort bestellt mich zu bestricken, zu verführen. Es weist auf zeitlich unbestimmten Ort     und stellt sich an mich dorthin zu entführen. Einst bleibt mir ewig unerreichbar, sei's in der Zukunft, sei's Vergangenheit. Denn einst ist niemals hier und offenbar. Deshalb ist Jetzt die einz'ge Wirklichkeit. Was kümmert mich der Anfang einst der Zeit. Ich sorge nicht, dass einst die Welt vergeht. Ich wache jetzt, jetzt tu ich meine Arbeit. Jetzt ruhe ich und lisple mein Gebet. Was einst geschah das schenk ich den Poeten. Was einst geschieht ist Sache der Propheten.               * * * * * * Im Verlauf meiner 56 jährigen augenärztlichen Praxis, bin ich mir oft "optischen Illusionen", den Unbestimmtheiten und Veränderlichkeiten des vom Auge erfassten Bildes bewusst geworden, und habe gelernt diese Eigenschaften als unentbehrliche Bedingungen und Begleiterscheinungen allen Sehenserlebnissen und Erfahrungen zu deuten. In vergleichbarer Weise die Unbestimmbarkeit des Gegenwärtigen und die Unerreichbarkeit des Vergangenen. In diesem Zusammenhang bedenke ich den trostlosen Verlust der Vergangenheit, und zitiere Hofmannthal als meinen Zeugen: 1. Über Vergänglichkeit Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen: Wie kann das sein, daß diese nahen Tage Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen? Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt, Und viel zu grauenvoll, als daß man klage: Daß alles gleitet und vorüberrinnt Und daß mein eignes Ich, durch nichts gehemmt, Herüberglitt aus einem kleinen Kind Mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd. Dann: daß ich auch vor hundert Jahren war Und meine Ahnen, die im Totenhemd, Mit mir verwandt sind wie mein eignes Haar, So eins mit mir als wie mein eignes Haar. Die von Kierkegaard behauptete Gleichzeitigkeit mit Jesus ist dieselbe wie die Gleichzeitigkeit mit allem anderen Vergangenen das ich mir vorzustellen vermag, und erfordert die Ein- oder Umstellung des Gemüts vergleichbar mit der Umschaltung des Sehvermögens mittels dessen das zweitweilig Verborgene in einer optischen Illusion - in meiner Kindheit Vexierbild genannt - sichtbar wird.  Darüber hinaus erscheinen mir das Einüben und Ausüben des Erkennens von Gegenwarts- und Vergangenheitsillusionen wesentlich für die Wissenslehre, für die Epistemologie. Es bedarf nur geringer Überlegung einzusehen in welchem Maße die "Geisteswissenschaften" raffinierte gesellschaftlich veranstaltete Vergegenwärtigungen einer unerreichbaren Vergangenheit sind, eine Erkenntnis welche nichts über den geistigen oder gesellschaftlichen Wert solcher Bemühungen besagt. Aber auch die nicht-mathematischen Phasen der "Naturwissenschaften" sollten erkannt werden teils als raffinierte gesellschaftlich veranstaltete Vergegenwärtigungen einer unerreichbaren Vergangenheit und teils als raffinierte gesellschaftlich veranstaltete Illusionen einer künstlichen Gegenwart.  Beide, die gekünstelte Vergangenheit und die gekünstelte Gegenwart werden zu Dogmen denen beizupflichten, werden zu Wissenschaftswahrheiten an die zu glauben, Vorbedingung ist für meine Teilname am Gesellschaftsschauspiel. Mathematik ist etwas anderes. Sie ist nicht Wissen von Zeitlichem, sondern sie ist überzeitliches Können, das seine eigene Beschreibung, sein eigenes Kapitel bedarf. Herzliche Grüße und Wünsche für alles Gute, Ihnen beiden. Jochen Meyer * * * * * *