Subject: Vexierbild - Universität - Elegie From: Niels Holger Nielsen Date: 03/08/2019 10:20 PM To: ernstmeyer@earthlink.net Lieber Herr Dr. Meyer, erneut danke ich Ihnen für drei weitere Briefe, beladen mit schwerer und höchst anregender Fracht, deren weite Diversität dennoch in einem Urgrund verankert ist, dessen Tiefendimension sich schon aus Ihrer Biografie herschreibt, nämlich aus dem “ geistig-seelische(n) Bewusstsein meiner Kindheit”. Über diesem Fundament lässt sich eine lebenslange Generierung neuer Gedanken und Einsichten bewerkstelligen, die der Ambiguität der begegnenden Phänomene gerecht werden kann und sie dennoch in ein einheitliches und eindeutiges Gesamtbild überführt, dem eingestandenen “monistische(n) Bedürfnis” folgend. Ich hätte aber schon Fragen, wenn Sie Kierkegaards Gleichzeitigkeitsforderung als philosophische Aufgabe unseres Zeitalters postulieren, sodass “Gleichzeitigkeit” den Begriff “Zeitalter” und seine Semantik geradezu storniert. Wenn man zugibt, dass die Historiographie vielfach durch Unzulänglichkeit und Naivität belastet ist, so wird man doch die geschichtliche Dimension nicht ganz eskamotieren können. Die Schwierigkeiten, sich der Vergangenheit zu versichern, sind aller hermeneutischen Anstrengungen wert. Auch wenn man aus der Geschichte vielleicht nicht lernen kann, sie muss dennoch “konstruiert” werden, da sonst jeglichem Handeln die Hypothek der Verantwortung genommen wäre. Ist die Behauptung “History is bunk” nicht der Versuch, sich der Verantwortung zu entziehen? Müsste man nicht sagen, dass die Absolutheit, die im Konzept der Gleichzeitigkeit steckt, alle Nuancen, alle Schattierungen von Realität, jegliches Gegenüber aufhebt? Der dialektische Gedankengang in Hegels Phänomenologie des Geistes, der ja erst nach dem weitesten Durchgang in der absoluten Vernunft sein Ziel findet, wäre zu überspringen, wäre seiner Bewegung beraubt, da nur das Ziel (absolute Vernunft/ Gleichzeitigkeit) in seiner statischen Form Gültigkeit hätte. Das Absolute als etwas “Unableitbares”. Erlauben Sie, dass ich hier ein Zitat Heideggers anführe, welches ich einem prekären Zusammenhang entnehme. Ich finde es in einer kritischen Publikation zu Heideggers “Schwarzen Heften”, in denen seine Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie untersucht wird. “Die Philosophie als die denkerische Besinnung auf die Wahrheit des Seyns hat nur die Aufgabe, für die Wenigen, d.h. die Schaffenden, den Spielraum das Wissens und gründenden Sagens vorauszuschaffen. Daran, ob einer dies Wesen der Philosophie begreift und sich zur Notwendigkeit macht als ein Gleichrangiges, Unableitbares, entscheidet sich mit seine (sic) Zugehörigkeit zu den Wenigen - eine Zugehörigkeit, die man nie wählen und sich beschaffen kann, sondern die jedem als die große Last auf die Schulter gelegt wird.” (Heidegger, Überlegungen) Die Untersuchung der Heideggerschen “Überlegungen” weist im weiteren Kontext auf seine Verachtung der Historiker und ihres Faches hin, die sich aus dem Versuch einer mythischen Neubegründung des “Denkers des Seins” erklärt: “Die geschichtliche Besinnung ist die eigentliche Loslösung vom Historischen.” (Heidegger, Überlegungen) Alles dann doch sehr weit Kierkegaard entfernt, sieht man von der Radikalität ab, mit der geschichtliche Kontexte aufgegeben werden. Ihre beiden Gedichte, Geschichte I , Einst, sind wohl eher Gedankengedichte im Sinne Schillers, während Hofmannsthals Über Vergänglichkeit elegisch gestimmt ist. Ich möchte schon meinen, dass Elegien Geschichte brauchen. Aber zunächst, höre ich, haben Sie den Vorlesungs- und Seminarbetrieb an Ihrer neuen Privatuniversität aufgenommen. Es ist sicher lohnend, junge Musiker (Instrumentalisten) mit Platon vertraut zu machen, besonders, wenn man so aus dem Vollen schöpfen kann, wie es bei Ihnen der Fall ist. Wirklich eine großartige Idee, eine solche Keimzelle des Geistigen zu initiieren. Ob die ersten Hörer dann durchhalten, ist eher zweitrangig. Es wird immer wieder neue Interessenten geben. Zum Vexierbild demnächst noch mal einige Anmerkungen. Inzwischen ist es schon sehr früher Morgen und meine Selbstzensur ist außer Kraft gesetzt. So werde ich gleich abschicken. Zuvor aber noch herzliche Grüße von uns beiden, Niels Holger Nielsen PS Heute wurde gemeldet, dass Michael Gielen gestorben ist.