Lieber Jürgen, Seit ich ihn vor zwei Wochen empfing, liegt mir Dein letzter Brief im Sinn. Die Schwellenfrage, ob es mir erlaubt wäre, ihn umgehend zu beantworten, ist heute Nachmittag von Ablenkungen, auf deren Einzelheiten ich mich kaum noch besinne, verschleiert. Das sofortige Antworten hatte ich mir im Verlauf der Jahre zur Gewohnheit gemacht. Vielleicht wiederhole ich mich mit der Ausrede, dass ich vorsätzlich versuchte mein Denken "in real time" (in "Echtzeit") aufzuschreiben, will sagen, meine Gedanken, insofern sie sich als solche rühmen dürfen, schon indem sie sich im Gemüt entwickeln in die Tastatur einzugeben; weiß ich doch aus enttäuschter Erfahrung, wie mühsam, wenn nicht gar unmöglich es ist, das eben Gedachte später einmal aus dem Vorhin in eine neue Gegenwart zurück zu zitieren. Besonderen Dank für Deine Ergänzungen der Biographie meines Großvaters Joe(l) Meyer. Es möchte Dir die Einführung aufgefallen sein, - oder vielleicht auch nicht, - mit welcher Reinhold Busch in seinem Buch über die Rosenthal Familie, (Seite 29) seinen Lesern meine Familie vorstellt: 3. Elfriede Rosenthal und Joe Meyer: Elfriede Rosenthal, geboren am 9. Dezember (bzw. 12.9.) 1875, verstorben am 15. Juli 1934 in Deutschland, „war eine sehr schöne, dunkelhaarige, sehr ernste Frau,“ so Antonie Gerson. Sie heiratete am 6. September 1895 Joe Meyer, geb. am 7. Juni 1865 in Oerlinghausen als Sohn von Isaak Meyer und Emilie Heine Herzberg und Vetter ihres Schwagers Gustav Meyer. „Ihn mochte niemand, besonders wir Kinder nicht. Er klagte ständig vor Gericht, kämpfte mit Anwälten und war eine sehr dominante Person. Außerdem borgte er sich ständig Geld von der Familie und zahlte mit vollständig abgewertetem Geld zurück. Ich erinnere mich, daß mein Vater lachte und mich rausschickte, um mit dem Geld schnell ein paar Lebensmittel zu kaufen, weil die Preise während der Inflation 1923 täglich stiegen.“ Sein Enkel Ernst Jochen schreibt: „Infolge von Antonies Kritik sehe ich nun meinen zugegeben problematischen Großvater als eine tragische Gestalt, auch in Beziehung zu Elfriede und zu seinen drei Söhnen, und nun tröste ich mich für meinen Großvater mit meinem Lieblingszitat aus dem Buch Jesaja 53, 1-5.“ Hier ist die Rede von einem, der häßlich, unwert und verachtet war, aber für die Missetaten anderer von Gott bestraft wurde, damit sie geheilt wurden. „Auch die Schuld für die zermürbende Inflation von 1923 wird meinem Großvater angelastet. Daß er Geldsorgen hatte, ist mir bekannt; er ist zweimal in Konkurs gegangen. Er wurde gezwungen, das prächtige spätere Rathaus, Detmolderstr. 1, das er mit seinen drei Söhnen bewohnte und in dem mein Vater geboren wurde, zu verkaufen. Daß er Geld von seinem wohlhabenderen Bruder Max geborgt hat, kann ich mir vorstellen, daß es ihm an Geld mangelte, mehr als das entwertete geborgte Geld zurückzubezahlen, ist auch wahrscheinlich.“ Meine am 23. November 2017 verstorbene Kusine Marion Meyer Namenwirth, die Tochter meines Vaters Bruder Fritz, schrieb mir am 18. Juni 2009, My impression, from things my father (Fritz) said about his youth, is that the boys were raised under a harsh regime demanding strict obedience. My father often alluded to an incident in which one of the children did not want to drink his milk. When forced to do so, he made the milk come out of his nose. Their father then demanded that the child re-drink what had emerged from the nose. However my father never complained about his upbringing, never seemed to question anything about it. He seemed to be totally worshipful of his mother. He mentioned several times that he felt that Ernst was her favorite. I can't recall my father ever making an evaluative statement about his father. I gleaned that he had a terrible temper, illustrated by the time when he is said to have thrown ein kleider-schrank out a second story window.... Ich meine zu erinnern, dass mein Vater einst - vielleicht auch verschiedentlich - erwähnte, mein Großvater habe bei Mahlzeiten seinem Unmut mit so heftigen Faustschlägen auf den Tisch Ausdruck verliehen, dass Besteck und Geschirr zuboden fiel. Mir am unvergesslichsten ist ein Fiebertraum meines Vaters als er jetzt vor 32 Jahren im Sterben lag, wo er einer unbezeichneten Hörerschaft in unbeholfenem Englisch aus seiner Kindheit erzälte: "My father told me not to go on the frozen pond. I disobeyed him. I went and fell through the ice. They pulled me out. My father gave me a good spanking. That is all. I thank you for listening." (Mein Vater hatte mir das Betreten des gefrorenen Teichs verboten. Ich hab ihm nicht gehorcht, hab es dennoch getan und bin eingebrochen. Als sie mich 'rausgezogen hatten, hat er mir eine Tracht Prügel versetzt. Das ist alles. Danke dass Sie mir zugehört haben.) Diese erschreckende Erinnerung an den erschreckenden Ausdruck väterlicher Feindseligkeit, glaube ich, hat meinen Vater lebenslang belastet, und hat vielleicht dazu beigetragen, dass mein Vater meine leidenschaftliche Liebe zu ihm nie anzuerkennen vermochte, und sie in seinen letzten Lebensjahren ausdrücklich zurückgewiesen hat. Lieber Jürgen, bin mir bewusst, und schäme mich (aber nur ein wenig) indem ich Dir all dies erzähle, meines Ungehorsams dem römischen Befehl, de mortuis nil nisi bonum dicere, einem Wahlspruch von dem ich meine dass er diente die Unmenschlichkeiten der römischen Kultur in die Vergessenheit unerforschbarer Katakomben abzuschieben so dass er mit der Verlogenheit die er fordert, des Menschen Geist und Seele zerstört. Ich möchte ihn mit Shakespeares Ausspruch widerlegen: The weight of this sad time we must obey; Speak what we feel, not what we ought to say. The oldest hath borne most: we that are young Shall never see so much, nor live so long. Laßt uns, der trüben Zeit gehorchend, klagen, Nicht, was sich ziemt, nur, was wir fühlen, sagen. Dem ältsten war das schwerste Los gegeben, Wir jüngern werden nie so viel erleben. (Schlegel-Tieck) Wenn man, wie ich es tue, die Geschichte als Vergegenwärtigung der Vergangenheit betrachtet, und die Gegenwart als entstehende Geschichte, dann verschmelzen unsere Erzählungen der Vergangenheit mit unseren Berichten, mit unserem Verständnis der Gegenwart. Eine der nachdrücklichsten und nachhaltigsten Erlebnisse meiner Kindheit war die Besessenheit meiner Eltern, dass ein jeder von uns vier Familienmitgliedern seine Gedanken und Gefühle rückhaltslos auszusprechen verpflichtet war. Dieser Pflicht nicht nachzukommen, wurde als unwahrhaftig bescholten. Sie zu erfüllen aber führte zu nicht endenden "Auseinandersetzungen," denen ich vielleicht heute mein lebenslanges Liebesabenteuer mit der deutschen Sprache verdanke. Werde mir aber auch mit zunehmender Reife bewusst, in welch ungebührlichem Maße das in solcher Weise "auseinandergesetzte" gemeinschaftliche Gedankengut - oder sollte ich schreiben Gedankenlast - das Geistesleben des Einzelnen und der Gesellschaft bestimmt, sei es erweiternd oder beschränkend. Die Erkenntnis, dass unsere Lebenswelt durch die Sprache, durch die Geschichte, durch den Mythos, das Märchen und vielleicht sogar durch das Gedicht geschaffen wird, ist mir zum Wegweiser in eine früher ungeahnte Welt geworden. Bitte entschuldige meine unerbetenen Ausführungen. Wenn man alt wird, redet und schreibt man zu viel. Herzliche Grüße, Dein Jochen.