1. Kapitel Ankunft Die Untergrundbahn war bis zum Bersten überfüllt. Schon mehrere Minuten lang hatte der Zug, aus unscheinbaren Gründen, oder vielleicht wegen eines Ausfalls des elektrischen Stromes, bewegungslos im schwarzen Tunnelgehäuse gestanden. Auch die Motoren der elektrischen Kühleinrichtung lagen still. Die unerwartet eingekerkerten Fahrgäste sprachen in Flüstertönen. Das gepresste Atmen annähernd einhundert schwitzender, vergebens sich streckender und bald darauf wieder erschlaffender Leiber erfüllte den engen Raum wie mit dem Summen eines übergroßen Käfers. Die beiden trüben gelblichen Glühbirnen der Notfallsleuchte, eine an jedem der Wagenenden, bewirkten nur die geringste Lichtung des herrschenden Dunkels. Ein anschwellend bedrückender Geruch körperlicher Ausdünstungen erfüllte den engen metallenen Kasten und mahnte jedenfalls Joachim Magus an die zwar entlegene doch keineswegs ausgeschlossene Möglichkeit hier, wie in einer Gaskammer, zu ersticken. Der stand, seinen schwarzen, aus pappeartigem Kunststoff gefertigten Reisekoffer zwischen Waden und Fußgelenken schützend eingeklammert, unmittelbar an einer der hohen Schiebetüren durch welche die Menschenmasse in diese Enge hineingetrichtert war und aus welchen sie, vielleicht schon am nächsten Bahnhof, gottgefällig wieder herausplatzen würde. Vorläufig aber war die Tür zugeschoben und verriegelt, und durch das große länglich rechteckige Fenster in ihrer oberen Hälfte war nichts als die undurchdringliche Schwärze der Tunnelwand ersichtlich. Dabei empfand Joachim Magus einen gewissen Schutz, ein eigenartiges verdrehtes Gefühl von Befreiung, sich mit der linken Schulter und Hüfte statt gegen menschlich-tierische Leiber, gegen die kalte metallene wenngleich verschlossene Tür des Eisenbahnwagens stämmen zu können. Unmittelbar vor ihm ragten die rötlich schwartigen Wangen, eines wuchtigen blau uniformierten, mit Knüppel, Handschellen und Pistole bewaffneten Polizisten, dessen blauwässrige Augen Joachim wie verblühte Blumen anmuteten, indessen sie ihn teilnahmslos mit stumpfen Blicken zu mustern schienen. Gegen seine rechte Schulter und Hüfte fühlte Joachim den weichen, nachgiebigen Körper einer Frau, er schätzte sie in seinem Alter, höchstens aber nur vier oder fünf Jahre über seine neunzehn hinaus. Ihr wogten breite Wellen kastanienbraunen Haares über die Schultern, welche sogar in der trüben Dämmerung der Notleuchte, mit wunderbar goldenem Schimmer, als wären sie von einer sonst unsichtbaren Sonne beschienen, seinen Blick fesselten. Da ihm ihr Gesicht abgewandt war, und ihm dessen Züge entgingen, wie auch der Ausdruck ihrer Augen, ergänzte, ohne dass er es gewahr wurde, seine Phantasie das verdeckte Bild. Auch ihr Busen, und vor allem dieser, in dem Gedränge unvermeidlich gegen andere Leiber gepresst, war seinen sehnsüchtig-neugierigen Blicken unerreichbar, eine Tatsache welche Joachim jedoch mit trockener Erkenntnis entgegen nahm, bis plötzlich in seiner lebhaften Phantasie sich die ihm abgewandten Brüste umso leiblicher enthüllten. Aber in der Dunkelheit war die Röte welche in seine Wangen stieg keinem Mitreisenden erkenntlich. Was hätte es auch gefrommt, dass sie ihm zugewandt gewesen wären? Denn in den wenigen neunzehn Jahren seines Lebens hatte Joachim es sich oft genug eingeschärft, dass es des Menschen Pflicht sei den Reizen und Verlockungen des Fleisches zu widerstehen, und dass es in seiner, Joachims, Macht war, dieser Pflicht nachzukommen, obgleich die Entsagung, indem er erwuchs, sich ihm als steigend schwierigere Aufgabe darstellte und ihm immer größere Mühen bereitete. Hier in der bedrängenden Enge der Untergrundbahn dünkte ihn, als sei seine stille Freude am Glanz der Frauenhaare vom gleichgültigen Blick des Polizisten genehmigt, und allenfalls bewirkte sie eine bedeutende Verringerung des Unbehagens seiner gegenwärtigen Stellung. Und in dieser Stellung war ihm die stählerne Schiebetür, an die er sich umso fester schmiegte, im Augenblick nicht ungelegen, denn sie war weniger bedrohlich als der blaue Polizist, und weniger sehnsuchterweckend als das kastanienbraune Gewelle. Joachim wünschte, dass er sich setzen könnte, oder gar hinlegen, denn er war müde und sein linker Fuß hatte zu schmerzen begonnen. Seit gestern hatte er kaum geschlafen, denn er war die ganze Nacht aufgesessen, dessen besann er sich jetzt klar, in einem übernächtigen Schnellzug der ihn aus dem Städtchen seiner Kindheit im Süden in diese große Universitätsstadt getragen hatte. Um Geld zu sparen, hatte er sich eine Quartierung im Schlafwagen nicht gegönnt, und war sitzend die Nacht hindurch gefahren, schlaflos bis auf etwa zwanzig Minuten verstörten Träumens kurz nach fünf Uhr. Das war von den asketischen Übungen die er pflegte, und die er jetzt erst recht im Begriffe war sich aufzuerlegen, bei weitem nicht die gewichtigste. Heute morgen war er auf dem Weg sich auf der Universität eintragen zu lassen. Binnen weniger Tage würde das Herbstsemester beginnen, sein erstes. Wie hatte er nicht diesen Tag ersehnt, wie ungeduldig ihn erwartet. Er hatte ihn sich nicht vorstellen können. Nun war er da. In diesem Augenblick fühlte Joachim sich von den ihm bevorstehenden Aufgaben überwältigt. War es wirklich nur die Müdigkeit die ihn lähmte, oder hatte er sich in seinem ganzen Vorhaben übernommen? Offensichtlich war hier, im Gequetsche der Untergrundbahn, die Umkehr unmöglich, wovon aber ganz abgesehen er tatsächlich keinen Ort im Geistigen hatte dahin er hätte zurückkehren können, und kaum ein Haus auf Gottes weiter Welt das ihn aufnehmen würde. Vorübergehend war dieser übervolle Eisenbahnwagen der einzige Ort wo er hingehörte, sein einziges Zuhause. Aber die unmittelbare Nähe der Frau, deren Körper von ungemessenen Kräften gegen den seinen gepresst wurde, tröstete ihn, ob als Mutter, als Schwester oder als Geliebte, wagte er nicht zu entscheiden, und schien ihm das Dürftige seiner Geborgenheit um ein Geringes aufzuwiegen. So tief war Joachims Gemüt in die kastanienbraunen Haarwellen versunken, und es mag auch sein, dass er vor Müdigkeit mit offenen Augen einem traumlosen Schlaf verfallen, dass ihm die neu ansetzende Bewegung des Zuges entgangen war. Erst als dieser seine Reisegeschwindigkeit erreicht hatte, und das gleichmäßig dumpfe Dröhnen aufs neue von den Tunnelwänden widerhallte, erwachte Joachim zu dem Bewusstsein, dass auch dieser Teil der Reise seinem Ende entgegeneilte. Da merkte er plötzlich, dass es vor der Türscheibe gegen welche er seinen Kopf gelehnt hatte hell geworden war. Schatten von Bäumen und Dachgiebeln huschten vorbei. Das tiefe Gedröhn der unterirdischen Fahrt war einem sommerlichen Rascheln gewichen, welches ein Grundbass poltrigen Klapperns begleitete. Die Bahn indessen zog stets höher, das spürte Joachim, und der unsinnige Gedanke, dass ihre Wagen vielleicht tatsächlich leichter würden, schlüpfte durch sein Gemüt. Bald befand sich der Zug auf einer ziemlich hohen Brücke, welche einen weiten Ausblick über ein breites Flussbecken eröffnete, umrandet von der Himmelslinie einer großen Stadt. Von diesem Ausblick, der sich so wunderbar von der Tunnelschwärze abhob, war Joachim begeistert, und er wandte sich nun völlig seinem Fenster zu in dem halbbewussten Versuch ein unauslöschliches Abbild dieser Stadt, so wie sie ihm jetzt erschien, in seiner Erinnerung festzuhalten. Dabei kam ihm die Geringfügigkeit des Verkehrsmittels, in welchem er sich befand, zu Hilfe, denn der Zug dessen Geschwindigkeit sich ohnehin merklich vermindert hatte, stieß und ruckte zweimal, verlor aufs neue die Triebkraft, und rollte langsam, auf der Höhe des Brückenbogens zu völligem Stillstand. Joachim war in die Betrachtung des Stadtbildes das sich vor ihm ausdehnte, vertieft, und hatte auch diese erneute Pause nicht gewahrt. Die kleine Kreisstadt im Staate Maryland in welcher er aufgewachsen war verfügte über kaum mehr als zwei sich rechtwinklig kreuzende Hauptstraßen deren Ränder mit kastenartigen Schuppen besetzt waren, Geschäfte nach ihrer Art, wo Kaufleute ihre Waren feil hielten. Die Stadt die jetzt im hellen Morgensonnenlicht vor ihm erglänzte war anders, völlig anders, dessen war er gewiss. Er ließ seine schlaftrunkenen Blicke über Fluss und Ufer schweifen, über Parkanlagen und Häuserreihen die breiten Alleen hinan, die sich zufällig seinem Gesichtswinkel eröffnet hatten, den Hügel hinauf zu dem großen Dom dessen blitzende Goldkuppel sogar aus der beträchtlichen Entfernung seine müden Augen blendete, so dass er sie schließen musste. Er muss dann einige Minuten lang, und die Zeit verliert in dergleichem Gemütszustand ihr Maß, stehend geschlafen haben. Jedenfalls befand er sich auf der Schneide dieser beiden Welten, eben dort, wo man sich zerstreitet, und wo es unbestimmt bleibt, ob der Traum dem Tag oder der Nacht, dem Schlaf oder dem Wachen, entspringt, während doch die wahrhaftige Antwort ist, dass der Traum die Brücke ist, und tatsächlich die einzige, welche diese beiden Lebensbereiche miteinander verbindet. Er hat das Flussufer hinter sich gelassen, und schreitet nun langsam und bedacht eine breite Allee hinan, Er geht auf der linken Straßenseite. Rechts, jenseits der Allee, erstreckt sich ein großer Garten, dessen Blumenbeete, auf grünen Rasenflächen verteilt, unter hohen Ulmen und Eichen, mit Narzissen und Tulpen prangen. In seiner Mitten liegt ein Teich wo kleine vom Frühlingswind aufgetriebene plätschernde Wellen abwechselnd das Grün der wiegenden Bäume, das flockige Wolkenweiß, und das helle Blau des Himmels spiegeln, und übergroße weiße Schwäne wie Schiffe aneinander vorüber gleiten. An seiner linken, Hand in Hand mit ihm und im gleichen Schritt, geht eine Frau deren kastanienbraunes Haar zu einem gewundenen Knoten über dem Nacken gewickelt ist. Sie ist seine Frau, und er kennt das Haar von nachts her, wie es spät abends vom Zwang der Spangen gelöst ihr über den bloßen Rücken wallt, oder auch vorwärts geschleudert ein durchsichtiger Schleier die liebevoll schwellenden Brüste benetzt. Jetzt aber sind diese unter einem lockeren Mieder verdeckt, und besonders an diesem Festtage ist seine Frau fromm und sittsam gekleidet, und begleitet ihn, treu und stolz und demütig, zu der großen Weihe die seiner wartet. Ohne seine Schritte zu verlangsamen, wendet er sich ihr zu, freut sich an ihrem wohlgestalteten Profil, wovon er zuversichtlich sein darf, dass es ihn lebenslang begleiten werde, und bemerkt mit Verwunderung, an diesem Morgen die Straßen völlig leer zu finden. Nun streift sein Blick die Villen an seiner linken, stattliche ansehnliche Steingebäude, ein jedes inmitten prächtiger Gartenanlagen, mit einem niedrigen schmiedeeisernen Gitter umfriedet. Sein eigenes Haus liegt jedoch höher, am Domplatz, unmittelbar neben der Kathedrale mit der goldenen Kuppel. Er biegt mit seiner Frau links in die Seligkeitsgasse ein, denn dort, hoch auf dem Kamm des Berges steht sein Haus. Seine Frau erschließt die schwere eichene Tür und beide gehen sie hinein. Die prächtig geräumige weissgetünchte ihm nun so wohlbekannte Eingangshalle empfängt ihn. Ein weit ausladender aus Messing gewirkter Leuchtkörper schwebt wie eine erhabene Krone über seinem Haupt. Er wendet sich in sein Arbeitszimmer, dessen großer Schreibtisch aus Eschenholz gegen das Fenster, seinen Lieblingsausblick, gekehrt ist. Hier stellt er sich augenblicklich hin, und orientiert sich noch einmal an den ihm so vertrauten Wahrzeichen. Im Vordergrund das starke Gefälle des Bakenberges. Jenseits, der Hafen, mit Segelschiffen und Dampfern, Öltankern und Frachtbooten bestückt. Dahinter die Hafeninseln, an derem sandigen Saum er den aufsprühenden Gischt brandender Wellen erkennt. Und jenseits alles Menschlichen, das weite Meer mit vereinzelt aufblinkenden Schaumkämmen, das in der Ferne, wo leichter Nebel den Horizont verhüllt, mit dem unendlichen graublauen Himmel verschmilzt. Dahin steht seine Sehnsucht. Er blickt und weiß nicht ob wachend oder im Traume. "Es ist Zeit," sagt seine Frau, "komm, lass uns gehen," indem sie seinen kleinen Handkoffer mit den Noten und mit dem Text seiner Antrittsrede prüfend öffnet und ihn ihm zeigt. "Brauchst du noch etwas?" fragt sie? Er mustert das Gebotene, "Danke, es ist gut," sagt er. "Was ist die Uhr?" "Fünf vor", sagt sie. Zusammen treten sie durch die hohen Flügeltueren auf den Treppenkopf. Das Straßenbild hat sich verwandelt. An allen Ecken wehen an hohen Stangen weiß-blaue Fahnen, und auf dem Domplatz, unmittelbar vor dem Hauptportal, flattert ein weißes Banner mit blauen Buchstaben beschrieben: "Joachim Magus, Präsident der Befreiten Welt." Noch eh er die Stufen des eigenen Hauses betritt erscheint eine Ehrengarde von sechs blau uniformierten Polizisten mit rötlich schwartigen Wangen und blauwässrigen Augen um ihn zu seiner Amtseinführung zu geleiten. Sein Amtsvorgänger und der Oberrichter warten schon auf ihn. Der Oberrichter blickt ihn an, und fragt, "Do you", mummelt dann etwas das wie "Joachim Magus" klingen soll, in der Tat aber dem Nichtwissenden unverständlich bleibt, und fährt erleichtert fort, "solemnly swear," Joachim spricht ihm nach. Vor der versammelten Schaar hört er sich sagen: "Ich, Joachim Magus, verspreche und schwöre vor Gott, die Pflichten des Präsidenten der Befreiten Welt treu und gewissenhaft zu erfüllen, und die Verfassung der Befreiten Welt mit allen meinen Kräften zu schützen und zu bewahren." Was er dann tut ist seinen Hörern völlig unerwartet, aber da er nun Präsident ist, beträgt man sich, als entspräche auch die unerwartetste Handlung völlig der Ordnung. Von den Hunderten im Dom Versammelten regt sich kein Mensch. Joachim schreitet zum Orgelpult und setzt sich auf die Bank. Seine Frau erscheint mit den Noten, und schiebt sich neben ihn. Sie stellt die Partitur vor ihm auf. Es sind die Toccata, Adagio und Fuge in C Dur die er sich zu seiner Amtseinführung ausgesucht hat. Er zieht die Register. Vorsichtig, behutsam, verantwortungsvoll greift er in die Tasten. Der mächtige Akkord erklingt, und jeder Zuhörer weiß, eine neue Epoche der Zeit hat begonnen. Verzückt durchlaufen seine Finger die Notenfolgen der wunderbaren Musik. Nachdenklich und besonnen erzählen sie die Geheimnisse des Adagio, und ersteigen mit entschlossener Kraft den herrlichen Bau der großen Fuge, bis an das Ende wo diese sich siegreich in sich beschließt. Es ist die erste und vielleicht bedeutendste seiner Amtshandlungen. Er hat sie tadellos, fehlerfrei erledigt. Jetzt schreitet er zur Kanzel. Auch hierhin begleitet ihn seine Frau. Auf der schrägen Holztafel, entfaltet sie sein Manuskript, aber er bedarf dessen nicht, denn die Worte die er jetzt zu sprechen hat sind in sein Herz gegraben und fließen ihm mühelos über die Zunge. Er verlautbart seine Überzeugung, dass die Welt, nun endlich von Tyrannen und Tyrannei befreit, den Gesetzen einer idealen Harmonie unterworfen ist, durchaus vergleichbar mit jener die er soeben in dieser geweihten Halle hat erklingen lassen, und dass der Mensch seine eigentliche Sendung in dieser Welt erfüllt, indem er seinen Geist und seine Seele von dieser Harmonie stimmen lässt, indem er selbst gut und edel handelt, und dass er durch die Harmonie seiner Handlung selbst gut und edel wird, dass durch diese Fortentwicklung des Einzelnen zur Tugend welche unmittelbar bevorsteht, und schon in den ersten hundert Tagen seiner Präsidentschaft vollkommen erreicht sein wird, der Einzelne in sein Volk, das Volk in die Menschheit, die Menschheit in das Weltall, in kosmischer Harmonie eingegliedert werden, und dass dieser Harmonie zufolge nicht nur alle Armut sondern auch alles Verbrechen, dass rechtswidrige Handlungen aller Art durch Vernunft beseitigt werden, dass alle Menschen hinfort miteinander in Fried und Freuden leben werden, durch gemeinsames Glück verbrüdert, und dass, um es unumwunden auszusprechen, mit seiner Ernennung zum Präsidenten, mit dem Orgelspiel das er soeben vorgetragen, diese Epoche der Menschheit tatsächlich schon angebrochen ist. Infolge der gelungenen Lösung so vieler, wenn nicht gar aller wirtschaftlichen und politischen Probleme, bliebe nur eine Aufgabe übrig, ein Zeitalter der allgemeinen Menschenliebe und Brüderlichkeit einzuführen, und er, Präsident Magus, fordere nun alle Bürger, auch die welche gegen ihn gestimmt hätten, feierlichst auf, ihm, dem Präsidenten Magus, bei seiner heiligen Aufgabe hilfreich beizustehen. Er ist zu Ende. Eine andachtsvolle Stille folgt auf seine Rede. Dann setzt die Musik wieder ein. "O Freunde, nicht diese Töne," singt eine Tenorstimme, "sondern lasst uns fröhlichere anstimmen, und freudevollere," und alsbald ertönt das Quartett mit der Einladung zur Freude und Brüderlichkeit. Joachim ist mit dem Stil, ist mit dem Niveau seiner Amtseinführung, völlig zufrieden, fast begeistert von ihr, und er kann sich nicht enthalten in diesen lauten burschikosen und doch so menschlichen und menschenfreundlichen Chor einzustimmen, und so singt er mit: "Freude trinken alle Wesen an den Brüsten der Natur, alle Guten, alle Bösen folgen ihrer Rosenspur. Küsse gab sie uns und Reben Einen Freund geprüft im Tod, Wollust ward dem Wurm gegeben Und der Cherub steht vor Gott." Und weil es ein großer Chor ist, und die Musik laut erschallt, fügt auch Joachim kräftig seine Stimme bei. Er wiederholt, der Partitur getreu, im Crescendo, "Und der Cherub steht vor Gott." "Vor Gott.""Vor Gott." Er schreit, heftiger, bis seine Worte zuletzt das Chaos im Eisenbahnwagen beherrschen. Ein ziemlich heftiger Schlag auf die Schulter rüttelt ihn aus seinen Träumerein. "Hey, man, are you crazy? You're not supposed to sing in the subway. You're disturbing the peace." Es war die Stimme des stumpfblickenden Polizisten die Joachim hörte. "Are you on drugs?" fügte sie drohend hinzu. "Oh, I'm sorry," sagte Joachim, "I must have slept. I'm so tired. I was up all night." Den Polizisten schien diese Verteidigung zu befriedigen, umso mehr als von unter den Haarwellen eine wohl modulierte Frauenstimme ertönte, "I thought it sounded very nice; you shouldn't have woken him up." Bei diesem Lob von seiner unbekannten Geliebten, errötete Joachims Gesicht, ohne jedoch die Färbung der polizeilichen Wangen zu erreichen. Der Zuspruch der liebenswürdigen jungen Frau schien ihm, im Augenblick jedenfalls, den durch das Erwachen bewirkten Verlust der erträumten Präsidentschaft, aufzuwiegen. Auch das Getriebe des Zuges war erwacht, und dieser begann nun erst ruckartig, dann aber fließender und schneller sich vom Brückengipfel abwärts gegen den offenen Tunnelschlund an der anderen Seite des Flusses zu bewegen. Dabei verschob sich das magische Stadtbild welches Joachims Träumereien ausgelöst hatte, und begann alsbald schnell und unerbittlich hinter einer niedrigen Mauer am Straßenrande zu verschwinden. Eh Joachim es gewahrte, war er aufs neue im Dunkeln. Jenseits des länglichen Fensters, in der Schwärze des Tunnels, glänzte noch immer das Nachbild des goldenen Domes. Auch hörte Joachim über dem Getöse des klappernden Zuges und sogar in dieses vermischt, die Töne der großen Fuge mit welcher er seine Amtszeit eingeweiht hatte. Obgleich Joachim Magus aus seinem Präsidentsschaftstraum in unangenehm rüder Weise von dem stumpfblickenden Polizisten aufgerüttelt worden war, meinte er doch im Wesentlichen über jenen gesiegt zu haben, denn der Polizist war ja zu jener Ehrenabteilung beordert gewesen, die Joachim zu seiner Amtserhebung geleitet hatte. Jedenfalls fühlte Joachim jetzt keine Angst mehr vor ihm, und fing an so gut er es in dem Lärm vermochte, die Noten die er heimlich hörte, mitzusingen, tih ti ta tih ta tih ta tah. Den Takt dazu schlug er mit seiner müden Schläfe gegen die verriegelte Tür und fühlte keinen Schmerz. Er empfand sich in Anbetracht seiner Erschöpfung, und vor allem, bei der Gedrängtheit im Untergrundbahnwagen die er nun schon viele Minuten, mehr als er zu bestimmen wusste, ausgehalten hatte, erstaunlich wohl. Und demzufolge war es mit einem Anflug blöder Enttäuschung, dass er die nachlassende Geschwindigkeit des Zuges gewahrte, der nun doch in einen unterirdischen Bahnhof einlief. Vernünftiger Weise hätte Joachim gehofft, dass eine beträchtliche Anzahl seiner Mitreisenden die Gelegenheit wahrnehmen möchte, hier das Weite zu suchen, und somit die Überfülle im Wagen zu beheben. Dies aber war keineswegs sein Wunsch, denn es war ihm klar, dass unter diesen Umständen auch die Frau unmittelbar bei seiner rechten Seite sich von ihm fortbewegen, vielleicht sogar aussteigen und für immer entfernen möchte, eine Vorstellung die ihn beunruhigte, weil ihre Nähe ihm in dieser Fremde ein so unerwartetes Maß Geborgenheit bescherte. Auch den Polizisten wünschte er eigentlich nicht zu entbehren, denn letzten Endes war er jenem die Genehmigung schuldig, sein Gemüt in den kastanienbraunen Wellen baden zu dürfen, und diese Genehmigung wurde fortwährend bestätigt, indem jener nun, blau uniformiert und ausdruckslos, als Leibwache über Joachims müder Sehnsucht waltete. Alles aber kam anders als Joachim es sich ausgemalt hatte. Der Zug war in der unterirdischen Halle zum stehen gekommen, doch blieb die Schiebetür welche Joachim stützte verschlossen, denn der Bahnsteig grenzte an die andere, die rechte Seite des Zuges. Als sich die entlegenen Schiebetüren endlich öffneten, und zahlreiche Fahrgäste sich der ihnen plötzlich gewährten Freiheit bedienten, dauerte es doch eine Weile eh die so erzeugte Lüftung sich bis in Joachims und des Polizisten Revier ausdehnte. Dann aber machte sich der Blau-uniformierte auf, schritt mit raschen hölzernen Bewegungen zur Tür, und war umgehend jenseits der kastanienbraunen Haare verschwunden. Jetzt kamen die Augenblicke, mehrere Sekunden müssen es gewesen sein, die entscheiden sollten, wie weit die Frau welche die Binnenkräfte des überfüllten Wagens ihm angedrungen hatten, sich von ihm entfernen würde. Denn dass an dieser Haltestelle dem Gedränge ein Ende würde, ergab sich als selbstverständlich aus der Menge aussteigender Passagiere. In Bezug auf sich selbst war Joachim entschlossen, seinen Standort zu wahren, und seinen Koffer zwischen den Füßen stehen bleiben zu lassen, wo er war, nicht weniger als die eigenen Glieder. Wenn das Mädchen an dieser Haltestelle den Wagen verließe, wäre es ihm sowieso unmöglich, wenn nur aus rein äußerlichen Gründen, von den inneren Hemmungen ganz abgesehen, ihm nachzuspüren. Bliebe es aber im Wagen so würde er ihm, wohin es sich auch bewegte, mit den Augen folgen können. Die Frau aber erwies keine Eile sich zu entfernen, und Joachim schmeichelte sich mit dem Einfall, dass ihr vielleicht doch, trotz der Zerrüttung seines Anzugs welche der durchwachten Nacht im Eisenbahnzuge angerechnet werden musste, seine Nähe nicht unbedingt unangenehm gewesen sei. Zuletzt aber, als kein weiterer Fahrgast den Wagen verließ, und als sogar auf der entgegenliegenden Bank ein Sitzplatz frei geworden war, da wich sie schnellen Schrittes dorthin, entflechtete mit bündigem Kopfschütteln einige verwickelte Haarsträhnen, setzte sich, und ließ ihren Blick abwechselnd über Joachims Gestalt und über die bunten Werbeplakate an dem breit gewölbten Deckenrand streifen. Joachim war ihrem Gang mit den Augen gefolgt und schaute auch jetzt noch in ihrer Richtung, absichtlich aber über sie hinweg, ihr Gesicht vermeidend. Als er sie dann aufwärtsblickend gewahrte, bediente er sich der Gelegenheit, sie vom Scheitel bis zur Sohle zu mustern. Ihr Gesicht fand er, war starr und ausdruckslos und enttäuschte ihn, und unter den bauschigen Falten ihres Sommermantels, war die Gestalt ihres Körpers unerkenntlich. Joachim war zu müde, und wohl auch noch zu sehr unter dem Eindruck seines Amtsantritts, um auch nur den Versuch zu machen, das Verhüllte durch seine Phantasie zu ergänzen. Zuletzt hob sie ihre Augen und sah ihn an, und als er dies gewahrte, erwiderte er ihre Blicke, unverbindlich, mit den seinen. Bald war der Zug aufs neue in schleunigste Bewegung geraten, und eilte der nächsten, der letzten, der Endstation zu, wo auch er, Joachim Magus, würde auszusteigen haben, und wo auch die Frau unvermeidlich würde ihm folgen müssen oder er ihr. Wie er diesen Abgang bewerkstelligen würde, wusste Joachim noch nicht, denn einerseits wollte er das allzukurze Zusammensein mit der Freundin nicht mutwillig vermindern, andererseits war er entschlossen ihr nicht nachzulaufen. Er wollte sie nicht im Stich lassen, wollte aber auch nicht von ihr im Stich gelassen werden. Er rückte an seinem billigen Koffer, hob, um die eigene Tragkraft zu prüfen, diesen ein paar Zoll vom Boden, auch aber um zu versichern, dass dessen geringfügiges Gehäuse nicht vorzeitig in die Brüche gegangen sei, und dass es den vermutlich kurzen Weg zu der neuen Wohnung noch würde überstehen können. Indem er sich in dieser Weise auf das Aussteigen vorbereitete, erinnerte er sich des Stadtbildes das ihm auf der Höhe des Brückenbogens in die Augen gefallen war, und das bei ihm den einzigartigen und eigentlich sehr beunruhigenden Traum ausgelöst hatte, der ihm erneut so lebhaft gegenwärtig war, als wäre er ein zweites Mal in eine Märchenwelt versetzt. Beschämend daran war ja gerade die Tatsache, dass es offensichtlich ein Wunschtraum war, ein Traum der ihm Begierden vorführte, des Reichtums, der Macht, des Weibes, Begierden die auf Güter zielten welche er als verwehrt betrachtete, und welche er sich nicht erlauben wollte, weil, wie er es sich erklärte, sie eine Belastung für die Seele bedeuteten, eine Belastung die keineswegs von der Vorstellung einer alles umfassenden und alles durchdringenden Harmonie aufgewogen würde. Denn diese Harmonie, das verstand Joachim jetzt sehr genau, lag oftmals im Streit mit dem Drang nach Reichtum und Macht, und im Streit auch mit den körperlichen Begierden. Ach, dieser Traum, so lieblich er auch gewesen war, gab vor letzthin unvereinbare Widersprüche zu vereinbaren und war deshalb ein Lügentraum gewesen, dem nachzuspüren verboten war; und doch meinte Joachim, indem er zu der Frau auf der Bank gegenüber schaute, die in diesem Moment mit ihren grüngrauen Augen auch ihn betrachtete, dass es ihm nicht verboten sei, und dass er es sich von Zeit zu Zeit erlauben dürfte, einen solchen Traum zu träumen. Diese Nachsicht machte den unmittelbar bevorstehenden Abschied von seiner Freundin um manches leichter. Der Zug war nun längst in die hell erleuchtete Halle des Universitätsplatzbahnhofs eingelaufen, hatte gebremst, und hatte sich soeben mit einem kleinen Ruck völligem Stillstand ergeben. Joachim gewahrte, dass er nun, statt sich bei phantasievollen Tändeleien aufzuhalten, unverzüglich mit seinem Gepäck, welches ihn ohnehin schon genug behinderte, von hier würde ausräumen müssen, sonst würde er vielleicht noch, samt seines schweren Koffers in einen Untergrundbahnschuppen, oder Gott weiß wohin, verfrachtet. Die Schiebetüren, wieder an der entfernten Seite, hatten sich geöffnet, und Joachim schleppte nun, so rasch seine Kräfte es erlaubten, seinen schweren schwarzen Pappkoffer durch die Tür, über den Bahnsteig, hin zu den raumhohen metallnen Drehtoren, die man dem Ausgang zuvorgebaut hatte die kostenlose Bahnfahrt zu vereiteln. Der Weg zum Rolltreppenschacht, war von zweien dieser kreisenden Gittertüren versperrt, zwei zahnlose Fleischwölfe, in welche die Aussteigenden genötigt wurden sich hineinzuzwängen um unmittelbar danach, mehr oder weniger unversehrt, von dem mechanischen Ungetüm auf die nahliegenden Rolltreppen ausgeschieden zu werden. Die Tatsache, dass der Koffer den er schleppte, für den engen Raum des Drehtores zu lang schien, setzte Joachim in Verlegenheit. Unschlüssig zaudernd stand er vor der noch unbestandenen Probe, als er in seinem Rücken eine unbekannte Frauenstimme hörte. Er wandte sich um, und erkannte sofort, dass sie dem Mädchen gehörte, welchem er während der langen und eigentlich recht ermüdenden Fahrt ein so überreichliches Maß stiller Aufmerksamkeit geschenkt hatte. "Du musst ihn aufs Ende hoch stellen, so!" hatte sie gesagt, und ohne auf die Befolgung ihres Rates zu warten, nahm sie den Koffer, kippte ihn hochkant, und zog, ihre Anweisung der Prüfung unterziehend, das armselige, doch schwere Gepäckstueck ohne weitere Erklärung hinter sich in das Drehtor. In dem Bewusstsein, dass sein ganzes irdisches Eigentum ohne seine Bewilligung im Begriff war ihm entzogen zu werden, stürzte Joachim eilends in den sich eben schließenden Spalt dem Koffer und dem Mädchen nach. Unerbittlich trieb das Gesetz der Beharrung das gitterne Tor um seine Achse. Es presste seine beiden Gefangenen gegeneinander und gegen den rüden Koffer als den dritten in ihrem Bunde, und zwang sie, so schien es Joachim, sich wie zu einer vierbeinigen Kreatur zu verflechten. wenn auch nur vorübergehend. Es können nicht mehr als Sekunden gewesen sein, dass sich der Junge und das Mädchen zusammen im engen Abteil der Drehtür, im spärlichen Raum des kreisenden Käfigs, durch den Umfang von Joachims schwerem Gepäckstueck intimer noch als er es ohnehin schon war, in engste Körpernähe getrieben, eingefercht befanden. Umgehend wurden sie dann, der beharrenden Bewegung zufolge, wieder entlassen. Strampelnd und strauchelnd gewannen sie das Freie. Die körperliche Nähe hatte nur Augenblicke gewährt, lange genug jedoch, um Joachims Herzschlag ihm in die Kehle zu treiben, und vom Adamsapfel bis zum Rückgrat zwischen den Schultern durchdrang ihn stichartiger Schmerz. "Danke, danke vielmals," gelang es ihm gerade noch hervorzustoßen. Auch die Frau war scheinbar durch die mechanisch erzwungene Vereinigung in Verlegenheit verschlagen. Mit schnellem Blick versichterte sie sich der Unversehrtheit ihres Partners und seines Gepäcks, und eilte sogleich, mit einem hastigen "Auf Wiedersehen," die elektrischen Rolltreppen hinauf, ihren Aufstieg beschleuningend indem sie auf dem treibenden Band, das sie ohnehin in die Höhe gezogen hätte, mit raschen Schritten nach oben drängte. Joachim und sein Koffer folgten ihr auf den beweglichen Stufen, in solchem Abstand, jedoch, dass er, zum Treppenkopf gelangt, obgleich er in allen Richtungen ausschaute, die Frau nirgends mehr zu erspähen vermochte. Er ruhte jetzt etwa eine halbe Minute. Die nächtige Fahrt war ermüdend genug gewesen; und das soeben überstandene Untergrundbahnabenteuer, gespickt mit exotisch verantwortungslosem Traum, die Verlockung der scheinbar doch nicht übermässig zurückhaltenden Frau, und jüngstens die von der Drehtür mechanisch erzwungene Vereiningung mit ihr, hatten ihn, er fühlte es jetzt, restlos erschöpft. So war er zugleich erleichtert und enttäuscht seine Freundin verloren zu haben, erinnerte sich dann aber eindringlichst seines Vorhabens, seiner Verpflichtungen, seines Zieles, und weil er unschlüssig war in welche Richtung er sich kehren sollte, entschied er, den nächsten Studenten der auf dem belebten Fußsteig an ihm vorbei kommen würde, zu befragen, wie man zum Eulenhaus gelangte, denn das war die Adresse wo ihm die Behörde, etwa zehn Tage zuvor, mittels brieflicher Nachricht, ein Zimmer zugesagt hatte, sein neues, und tatsächlich jetzt einziges Zuhause. Es war ein großer muskulöser Junge in kurzen Hosen und enganliegendem Hemd das in großen schwarzen Buchstaben den Namen der Universität verkündete, der den Fußweg daher geschlendert kam. Joachim mutmaßte ihn als künftigen Studiengenossen, und sprach ihn mit eintöniger, ihn selbst überraschend lauter Stimme an, "Wie komme ich zum Eulenhaus?" indem er mit der rechten Hand den Griff seines Koffers der im hellen Morgenlicht um manches schäbiger aussah als im Dunkel der Untergrundbahn, etwas fester umklammerte. Der beleibte Mensch, vermutlich Turner oder gar Fußballspieler, machte vorerst keine Anstalten Joachims Frage zu beantworten. Unhöflich schritt er an ihm vorbei, dann aber drehte er sich und maß Joachim mit verächtlichem Blick. Die Gestalt des gebückten, mit offensichtlich billigem Koffer beschwerten frühreifen Knaben erweckte seine Neugier. Mit herablassender Hilfsbereitschaft fragte der Fußballspieler, "Was willst denn du im Eulenhaus?" "Ich wohne da," antwortete Joachim. "Du wohnst da, und solltest nicht wissen wo es gelegen ist? Du scherzt," sagte der Große, bestrebt seine köperliche Überlegenheit ins Geistig-gesellschaftliche zu übersetzen. "Willst mir vielleicht noch weis machen, du seist der Präsident. Das sollte ich dir auch glauben? O.K., Mr. President." Joachim war dem Hohn nicht gewachsen und zuckte. "Dies ist mein Koffer," sagte er, als vermöchte er mit diesem Ausspruch seine Zugehörigkeit zum Eulenhaus zu beweisen. Auf die Frage der Präsidentschaft ging er nicht ein. Der Große zeigte ihm dann aber doch die Richtung. Erleichtert nahm Joachim zur Kenntnis, dass der Weg sich als ein sehr kurzer erwies, denn das Haus lag im Universitätshof, knappe zweihundert Meter jenseits des Tores vor dem die beiden verhandelt hatten. Eine goldenen Eule auf schwarzer Tafel, mit messingnen Bolzen im rotem Backstein der Porticowand verankert, bestätigte ihm sein Ziel. Joachim blieb stehen, klammerte seinen Koffer zwischen seine Enkel und nahm sein neues Zuhause in Augenschein. So eindrucksvoll hatte er es nicht erwartet. Es war ein fünfstöckiges Steinhaus, etwa fünzig Meter lang und halb so tief, aufgezogen in gemischt neuromanischem und neugotischem Stil. Die Fenster des Parterre waren in flache romanische Rundbogen eingefügt. Im zweiten Stock waren es seichte gotischen Spitzen, im dritten und vierten bestanden die Sturze aus unverzierten waagerechten Granitquadern, und diese sagten Joachim in ihrer Einfalt am Besten zu. Dem Brief von den Behörden, erinnerte er jetzt, war zu entnehmen gewesen, dass ihm ein Zimmer im Erdgeschoss zubestimmt war. Er musterte die Fassade und stellte fest, dass dies tatsächlich ein paar Stufen oberhalb der Erdebene lag. Er fand es gut und entschloss dass er damit zufrieden sein würde. So blickte er die unterste Fensterreihe entlang und dachte hinter welchem der verschiedenen geheimnisvoll anmutenden Fenster ihm sein neues Zuhause beschieden sein möchte, ließ dann den Blick die feuerrote Mauer hinanklimmen und sagte sich, dass es doch nicht sinnvoll sein würde, der schlichteren Fensterreihen dort oben halber, die drei oder vier Stockwerke etliche mal am Tage auf und abzusteigen. Obgleich er ihn niemandem ausgesprochen hatte, war ihm die dumme Leichtfertigkeit dieses Gedankens peinlich. Längs der Vorderseite des Eulenhauses erstreckte sich eine mit Backsteinen ausgelegte Terrasse welche an jedem Ende in ein überdachtes Portico mündete. Dort waren die beiden Eingangstore. Er wusste nicht, welches der beiden Portale zu seinem Zimmer führte; beide standen sie offen. Er entschied sich für das nördliche, und trug seinen Koffer hinein. Wie dunkel es sein würde hatte er nicht erwartet. Unter den frisch grünenden Bäumen im Freien hatten sich seine Augen ans Licht gewöhnt. Jetzt konnte er garnichts sehen. Hoffentlich vorübergehend nur, des Gedankens aber, so irrsinnig auch, dass er vielleicht blind geschlagen wäre, vermochte er sich nicht zu entwehren. Oder träumte er, und war es nur Müdigkeit die ihn lähmte. Wie angewurzelt blieb er in der düsteren Halle stehen. Doch eh sich seine Augen ans Dunkel angepasst hatten, tönte eine Stimme, von der er zuerst nicht wusste woher sie kam. "Junge, da stehst du im Wege. Womit ist dir zu helfen?" in einem Tonfall der zugleich unerwartet und bekannt schien, und der Joachim sofort Vertrauen einflößte. "Zimmer Nr 3," antwortete er, "man hat mir Nr 3 zugewiesen." "Hast deinen Schlüssel schon? Mac ist hier Euch alle zu versorgen." Joachims Augen hatten begonnen sich an das Dunkel zu gewöhnen, und jetzt vermochte er die Gestalt eines Mannes zu unterscheiden. Der stand an der Tür eines kleinen Kontors, worüber ein kleines hölzernes offenbar selbst angefertigtes Schild: "Mac, Super" seinen Namen und sein Amt bekündete. "Wo finde ich Mac?" fragte Joachim. Der Mann schüttelte den Kopf. "Hast ihn gefunden." sagte er, und fügte hinzu, "Da kannst du deinen Koffer nicht lassen. Setz ihn hier ins Büro, zu den anderen, und dann geh zur Verwaltung und hol dir deinen Schlüssel." "Wie heißt du denn eigentlich?" "Ich heiße Magus, Joachim Magus," und indem er ihn sagte, bedrängten Joachim zugleich die Unaussprechbarkeit seines Vor- und die Ungewöhnlichkeit seines Nachnamens, ins besondere weil er es als eine Pflicht der Wahrhaftigkeit und seiner Herkunft gegenüber betrachtete, so gut er es konnte, beide mit deutscher Betonung auszusprechen, obgleich er selbst in jener schwierigen Sprache nur leidlich bewandert war, und schon mit dem Nennen seiner Namen das düstre Geheimnis seines Ursprungs verraten mußte. Mac, der die Namen unzähliger Studenten bei ähnlicher Gelegenheit zu Kenntnis genommen hatte, und ein entsprechend geübtes Ohr für dergleichen Töne gewonnen, erwiderte: "Das ist aber schwierig auszusprechen. Dabei zerbricht Mac sich ja die Zunge. Mac wird es nie lernen können. Ändere deinen Namen doch ab, damit wir uns besser unterhalten können. Warum nicht Johnny; Johnny klingt viel besser, und zerbricht Mac auch nicht die Zunge. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiliges Geistes taufe ich dich Johnny. Von nun an sollst du Johnny heissen. Johnny, geh du erst einmal zur Verwaltung und hol dir deinen Schlüssel." War es die Dunkelheit des Ortes, die eigene Müdigkeit, die Neuheit seiner Lage, oder alle zusammen welche Joachim dermassen beeindruckten, dass er sich überwältigt fühlte, und unfähig die unerbetene, aufgedrängte Taufe zu bewerten. Er fühlte sich seines alten Namens, Joachim, enteignet, und ahnte sich nun, gänzlich ohne seine Zustimmung, durch geheime Bestimmungen der Universität, an den neuen Namen gebunden. Er wusste dann auch nicht, ob er den neuen Namen gutheißen sollte; in einem Augenblick schien ihm in seiner Schmeichelhaftigkeit, der Name Johnny eine hohe Würde, im nächsten, in seiner Banalität, eine lächerliche Verspottung. Darüber hinaus empfand er eine dumpfe Verpflichtung sich zu diesem Namen, auf den er in so unerwarteter Weise getauft worden war, zu bekennen, wenn er in dieser neuen Welt in die er geraten war, die er ersehnt, und die er nun endlich erreicht hatte, überleben sollte, um von einem Gedeihen in ihr gar nicht zu reden. Auch war er unsicher, in wie weit die von Mac durchgeführte Umtaufung dessen eigene Initiative darstellte, oder ob, als erste Stufe seiner Einbürgerung in die neue Gesellschaft, die Namensänderung tatsächlich schon im Auftrag der Universitätsbehörden unternommen worden war. Er hatte ja gelesen, wie im Kloster die erste Weihe der Mönche darin besteht, dass sie sich einen neuen Namen zulegen lassen. Nichtsdestoweniger verstimmte Johnny die neue Benennung, denn sein Name war ja was er bis jetzt gewesen, was er jetzt war; und plötzlich sollte sein Name ein anderer, und somit sollte auch er ein anderer werden. Das wollte er nicht. Er wollte bleiben, der er war. Er erinnerte sich dann aber, dass er zu genau diesem Zwecke, sich ausbilden zu lassen, und in diesem Sinne ein anderer zu werden, hierher gekommen war; und plötzlich ahnte er, welch ein Fehler es gewesen sein musste, wenn er wirklich bleiben wollte der er war, überhaupt die Anstellung gemacht zu haben sich ausbilden zu lassen. Jetzt wusste er nicht mehr, was er wollte. Er war auf einen Widerspruch gestoßen, welchen er, in diesem Augenblick jedenfalls, nicht zu entwirren vermochte. Die Müdigkeit überfiel ihn aufs neue und er hätte sich schrecklich gerne hingelegt und geschlafen, ausgeschlafen. Hinterher wäre ihm wenn er aufwachte die Verknotung seiner Gedanken vielleicht ein bisschen auflösbarer geworden, aber das ihm zugedachte Zimmer war noch verschlossen, obgleich er sich nicht vorstellen konnte, dass Mac nicht den Schlüssel dazu haben sollte, denn wenn Mac tatsächlich um den Burschen zu helfen, und nicht nur um sie umzutaufen, hier angestellt war, dann sollte es doch in seiner Macht sein ihm sein Zimmer, dessen er jetzt besonders so bedürftig war, aufzuschließen. Dann aber sah Johnny selbst ein, weshalb dies unmöglich sei, und dass der Gang zu den Behörden ihm nicht erspart werden könnte. Er würde ihn selbst machen müssen. Und eigentlich je eher desto besser, damit er seinen Schlüssel bekäme, in sein Zimmer könnte, und erst einmal ausschlafen, denn es war unvorstellbar, dass er in diesem Zustand der Erschöpfung unter irgendwelchen Umständen sein Studium würde beginnen können. Er raffte sich also auf, und suchte nach Mac, um ihn nach der genauen Bezeichnung des Weges zu den Behörden zu fragen. Er konnte Mac aber nirgends finden und beschloss, dass es möglich sein sollte auch ohne Macs Auskünfte zur Verwaltung, zu den Behörden, zu gelangen. * * * * * *
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