Siebtes Kapitel Jetzt ging er raschen Schrittes zurück über den Fluss. In der Mitte der Brücke blieb er stehen, neigte den Kopf über das eiserne Geländer, und blickte hinab. Dort unten gurgelten, schäumten und sprühten die Wellen des reißenden Gebirgs-gewässers. Ganz sicherlich müsste jeder der sich in diese Wogen begäbe darin umkommen, sagte sich Döhring indem er dem wilden Wasserreigen zuschaute, und momentan erwog er, ob es vorstellbar wäre, dass er selbst eines Tages einen so furchtbaren Ausweg aus diesem Leben aufsuchen würde. Um sich von dieser Vorstellung loszureißen, wendete er sich zu der Stadt und beschleunigte seinen Gang. Bald war er wieder auf festem Land. Rasch ging er an dem unziemlichen Prunk der Luxusgeschäfte vorbei. Ihr Personal würde ihn nicht nur auf Englisch sondern nach Wunsch auch auf Deutsch oder gar auf Japanisch bedienen, um ihm bei dem Kauf von Juwelen, von Silber, Porzellan, Kristall, von Ansichtsbüchern, Wolldecken, von Memorabilien des hohen Nordens, von Mineralien und Edel-steinen, von Landkarten, Postkarten, Zeitschriften und Büchern, oder für was immer sonst noch Reisende ihr Geld auszugeben bereit sind, behilflich zu sein. Indem er sich von der Fülle dieser unerwünschten Angebote abwandte, spürte Döhring, dass er seit der Verabreichung seiner letzten Flugzeugsmahlzeit nichts weiter gegessen hatte. In einem dieser die Haupstraße angrenzenden anspruchsvollen Restaurants zu Abend essen, aber wollte er unter keinen Umständen. Schon die kleinen beblümten Karten auf welchen geschäftsmäßige Schreibmaschinenschrift luxuriöse Preise ankündigte, beleidigten ihn. Vor allem beanstandete er den Zwang, sich dem Protokoll des Restaurants zu fügen. Zu warten, zu bestellen, aufs Neue zu warten, bis er zuletzt Speisen vorgesetzt bekäme, zu deren Tilgung er sich dann verpflichtet fühlte. Welch ein widersinniger Aufwand an Zeit und Geld! War er doch mit einem anderen Vorhaben, als sich in Gaststätten zu langweilen, hierher gekommen. Auch wollte er so wenig bedient werden, wie er gesonnen war andere zu bedienen. Vor einem hell erleuchteten Lebensmittelgeschäft schritt er unschlüssig auf und ab, und entschied, dass es mit dem Hunger garnicht so viel an sich hätte, wenn nur der Durst gestillt würde. Er ging also hinein und kaufte sich für zweieinhalb Dollar eine große Flasche brausender Himbeerlimonade, welche er, nachdem er bezahlt und das Geschäft verlassen hatte, öffnete und in unziemlicher Weise, wie ein dem Kurortanstand trotzender Vagabund, an die Lippen setzte. So schritt er, die Flasche aus plastischem Kunststoff am Munde, die Hauptstraße der schmucken, kleinen Stadt entlang, behutsam den Anstoß mit mehr gehörigen Kurgästen zu vermeiden. Hier, wo ihn niemand kannte, durfte er sich ein so ausgefallenes Benehmen erlauben, es sei denn, dass er seiner Nachbarin vom Flug begegnete, die er irrtümlicher und vergeblicher Weise im Gletscherhotel aufgesucht hatte, und die vermutlich damit beschäftigt war, sich für den Streit um Frauenrechte zu waffnen. Aber er begegnete ihr nicht. Er näherte sich seinem Parkplatz, und erkannte von weitem schon den gemieteten Wagen, erleichtert dass dieser noch stand, wie er ihn verlassen hatte. In Angesicht der Merkwürdigkeiten dieses Tages hätte es ihn nicht überrascht, wenn der kleine rote Sonnenvogel verschwunden, oder zum mindesten von einem rücksichtslosen Fahrer angestoßen und beschädigt worden wäre. Beim Mieten des Wagens hatte er, wie er sich jetzt mahnte, alle Versicherung abgewiesen, und irgend Schaden an dem Auto hätte er selbst wiedergutmachen müssen. Aber nichts dergleichen war geschehen. Nicht einmal ein Verweis für gesetzwidriges Parken war ihm von der Stadtpolizei verabreicht worden. Er blickte auf seine Armbanduhr und sah, dass es schon acht Uhr war. Weil dieser Kurort aber so weit westlich in der Bergzeitzone liegt, und so weit nördlich, und weil es Sommer war, stand die Sonne noch hoch am Himmel. Im Vergleich zur Frühe der Tagesstunde fühlte Döhring große Müdigkeit. Entsprechend der Zeit seines vornächtigen Schlafes, war es zwei Stunden später, und bei der körperlichen, vor allem aber der psychischen Anstrengung des Reisens, war die Erschöpfung die er spürte ausreichend begründet. Er sehnte sich nach dem Abend, er wünschte den Schlaf herbei, und da stand die Sonne noch hoch am Himmel und zwang ihn zu wachen und forderte ihn auf zu leben. Er setzte sich in seinen Wagen und fuhr, langsamer noch und bedächtiger als sonst, weil ausgerechnet jetzt die Folgen eines so unwahrscheinlichen Unfalls mit ungebührlicher Lebhaftigkeit seine Phantasie beschäftigten, durch die Straßen der schmucken Stadt. Ein banges Zittern bewegte sein Gemüt, ein fernes Echo des Auftritts im Hotel. Man hatte ihn bezichtigt, ein junges Mädchen vergewaltigt zu haben. Das war eine lächerliche Beschuldigung. Er war den Frauen harmlos, wie ein wohl dressiertes Tier, wie ein Hund den man trainiert hat, die Kinder zu bewachen, statt sie zu überfallen. Und doch leugnete er nicht, zeitlebens in sich den Trieb gespürt zu haben, der ihn zu jenem Verbrechen hätte verleiten können, wenn nicht so viel Überlegung, so viel Nachdenklichkeit, so viel Anstand, so viel Kultur, wie eine unübersteigbare Klostermauer ihn von diesem allermenschlichsten Vergehen zurückgehalten hätte. Nun war er in Traurigkeit verfallen, und er wusste nicht, ob diese Traurigkeit der Tatsache galt, dass man ihn eines so schweren Vergehens beschuldigt hatte, oder dass die Beschuldigung so grundlos war, dass er Dorothea getroffen, oder dass er sie schon wieder verloren hatte, dass Elsbeth gestorben war, oder dass er selbst einer dieser Tage, so viele würden es garnicht mehr sein, ihr ins Reich der Toten folgen würde. Es war unbestimmt, ob es über diese trüben Gedanken war, oder wegen der Tatsache, dass man seit seinem letzten Besuch so viele alte Gebäude abgerissen, und so viele neue aufgezogen hatte, dass er sich, obgleich nur drei oder vier Hauptstraßen die kleine Stadt durchkreuzten, verfuhr. Sein Vorsatz war gewesen, die Dämmerstunde auf den grasbewachsenen Schiebahnen des Norquay zu verbringen. Er versprach sich dort, nach einem kleinen Anstieg, einen bequemen Ruheort im Grase, von wo er das Abendrot in den Wolken, die dunkelnde Stadt und die aufwärtsschreitenden Schatten an den Felsenwänden gegen-überliegender Berge beobachten würde, um sich dann nach Dunkelheit zurück nach Canmore in seine kleine Hütte und ins Bett zu begeben. Doch indes der Himmel sich rot über ihm verfärbte, wurde Döhring gewahr, dass ihm die vermeintliche Annäherung an den Norquay nirgendwo von Richtungsschildern bestätigt wurde, und zuletzt musste er sich gestehen, dass er sich verfahren hatte. Statt der nördlichen Ausfahrtstraße von der Stadt, hatte er versehentlich die südliche eingeschlagen, indem er vergessen hatte, dass diese nicht zum Norquay, sondern zum Minnewanka-see führte. Er war aber schon über das Autobahnkreuz hinaus, als er gewahr wurde, dass er sein Ziel verfehlt hatte. Er entschied, es sei jetzt zu spät umzukehren. Die Stunde war nun zu fortgeschritten, als dass er sein ursprüngliches Vorhaben noch bei hellem hätte ausführen können. Dicht am Straßenrande sah er einen großen mächtigen Elchbullen weiden, und machte Halt um das prächtige Tier zu betrachten. Er bewunderte das vielgezweigte, königlich kronenartige Geweih des Elches, mit welchem er, beim Rupfen des Grases auf der Böschung, einen weiten Bogen durch die Dünste der abendlichen Dämmerung beschrieb. Es war möglich, sagte sich Döhring, dass dieses Tier durch die Tatsache, dass es seine Ernährung lediglich von Pflanzen bezog in eine wesentlich höhere Lebensgattung eingestuft werden musste, als Bären und auch Menschen, welche sich von dem Fleisch anderer Lebewesen ernähren. Es war schon so dunkel, dass er selbst den Minnewankasee nicht mehr erreichen würde. Ein Schild am Straßenrande erglänzte grell in den Strahlen der Scheinwerfer und wies ihn nach rechts auf einen Parkplatz. Er gedachte, obgleich er in so tiefer Dämmerung keine Aussicht über das Tal mehr erwarten konnte, sich vorm Einsetzen völliger Dunkelheit noch ein wenig Bewegung zu entsprechend festerem Schlaf zu besorgen, denn er hielt es für möglich, dass er sonst, auf Grund der ungewohnten Erregungen des Tages überhaupt nicht würde schlafen können. Eine lange, ziemlich steile Holztreppe, an beiden Seiten mit Geländern versehen, führte ihn auf eine breite Wiese. Auskunftstafeln, in der Abenddämmerung fast unleserlich, belehrten ihn, dass er unter die Ruinen des verschollenen Städtchens Bankhead geraten war, einer Ortschaft welche vor etwa fünfundachtzig Jahren zum Zwecke des Kohlenbergbaus planmäßig gegründet und ausgebaut worden war. Willkürlich wie ihr Anfang war auch das Ende dieser Siedlung gewesen. Nachdem die Zechen in dieser Gegend sich nicht mehr zu lohnen schienen, und indessen das Interesse am Naturschutz überhand genommen hatte, wurde das Städtchen, behördlichen Entschlüssen gemäß, aufgelöst. Die Tafel berichtete, dass man eine Anzahl der Häuser nach Banff abtransportierte. Die anderen wurden der Erde gleich gemacht. Die Grubenmünder wurden zugeschüttet, die Eisenbahnschienen aufgelesen, die Schuppen abgerissen, und nunmehr gab es nur noch die Grundmauern zu sehen, einige Fußböden von Beton, und die eisernen Überbleibsel vereinzelter Maschinen und Pumpen, welche der Verschrottung entgangen waren. Ein einziges Gebäude war stehen geblieben, und in diesem hatte man museumartig die gekünstelte Mündung eines Zechenschachtes nachgeahmt. Zwei Grubenarbeiter, Bergleute, waren als lebens-große Puppen dargestellt. Der eine, in gebeugter Stellung, bediente sich eines langen Handbohrers um die Kohlenschicht aufzulockern. Der andere war dabei das schwarze Gestein mit mühevollem Meißeln aus der Erde herauszubrechen. Rücklings stand auf kurz abgeschnittenem Schienenstrang der kleine Eisenbahnwagen, in welchen sie, bei Lebzeiten, die Kohle verladen hätten. Nackte Glühbirnen warfen ein mattes Licht auf die ergreifende Szene, und dem Neugierigen war es erlaubt, durch ein altmodisches Glasfenster in eine Totenwelt hinein zu schauen. Bei diesem Anblick ergriffen Döhring Schauer und Mitleid und Ekel, alle zugleich. Welch ein Gegenrequiem hatte man hier bestellt. Er fühlte für die Toten die schon im Leben ihre Tage in unterirdischem Dunkel hatten verbringen müssen. Dass diese Arbeit die Seele abtötete, und dass der Körper in vergleichbarer Weise darunter zu Grunde ging, war eine Schlussfolgerung welche seinem Verständnis jedenfalls, keiner Bestätigung und keines Beweises bedurfte. Und nun spottete man ihrer Leiden, im Grunde nicht weniger als denen der Bärin im Naturhistorischen Museum die man auf andere Weise getötet hatte. Als Döhring sich von dieser schaurigen Szene abwandte und seinen Augen Gelegenheit gab sich an die Dunkelheit der Nacht zu gewöhnen, da meinte er aus der Ferne einen Gesang zu hören, und noch dazu eine Melodie welche ihm wohl bekannt war. Er konnte die Worte nicht verstehen, und wusste zu erst nicht ob man in englischer oder deutscher Sprache sang. Der Wind hatte sich belebt, und das Rauschen der schwarzen Baumeswipfel übertönte die Worte, aber der vertrauten Melodie vermochte er dennoch zu folgen. In einer Zwischenpause, in welcher der Wind sich momentan gelegt hatte, hörte er dass es eine Männerstimme war welche im Solo sang, und jetzt vernahm er auch die Worte, "der Friedensschluss ist nun mit Gott gemacht." Die liebliche Modulation des ihm so wohlbekannten Liedes erfüllte auch ihn mit dem Bewusstsein friedevoller und dankbarer Entsagung. Zugleich wusste er, dass dies Lied nicht möglich war, weil es hier keinen Menschen gab, der diese Litanei kannte, und dass er einer Täuschung seiner Sinnen zum Opfer geworden war. Umso angestrengter lauschte er der alten, stellenweis fast brechenden Stimme, die ihm dies Abendlied sang. Er beanstandete, dass die Streicherbegleitung fehlte, musste jedoch zugeben, dass trotzdem die Noten keineswegs falsch waren. Die Melodie zu hören machte ihm große Freude, kaum beeinträchtigt durch das Wissen, dass nichts als ein Wahn ihn beglückte. Die Unmöglichkeit des Gesanges der ihm in den Ohren klang, war jenseits allen Zweifelns, doch woher die Täuschung rühren mochte, ob nur von seiner Überspanntheit, von seiner Müdigkeit nach den Aufregungen des Tages, oder von schwerwiegenderen Ursachen, wusste er nicht. Wie sehr ihm jetzt Elsbeth fehlte. Wenn sie jetzt neben ihm stünde würde er sie fragen, ob auch sie die Melodie gewahrte. Er gab sich zu, dass sie ihm wahrscheinlich sein Gehör nicht hätte bestätigen können, dann aber hätte sie bekümmert um seine Gesundheit gesorgt und hätte ihn in seiner Krankheit gepflegt. Die unterstellte Frage an Elsbeth aber vermochte er selbst zu beantworten. Er konnte es sich nicht länger verhehlen, dass er an akustischen Halluzinationen litt, dass er krank war, wahrscheinlich schwer krank, und dass sein Leiden, was immer es sein mochte, eine Reizung der Scheitellappenrinde seines Gehirns hervorgerufen hatte. Die selbstdiagnostische Beobach-tung hielt ihn gebannt. Denn er horchte umso gespannter auf das Lied, und erstaunte dass obgleich er die Stimme mit lebensgetreuer Klarheit vernahm, das Violinenobbligato fehlte. Statt dessen hörte er als Begleitung das Rascheln der Blätter im Abendwind, und er bewunderte die Zauberkraft der Krankheit die sein müdes Gehirn befähigte der Einbildung eine so täuschende Ähnlichkeit mit dem Wirklichen zu verleihen. Und als das Rezitativ zu Ende war, da stimmte Döhring selbst die darauf folgende Arie an, und begann in etwas schwankenden Tönen zu singen, "Mache dich, mein Herze, rein." Er tat dies in knabenhafter Weise um dem unbekannten Sänger die eigene Vertrautheit mit der großen Musik zu beweisen, und damit eine ersehnte Geistesgemeinschaft zu bestätigen, und die Vereinsamung in welcher er sich befand aufzuheben. Nun tönte sein Lied durch die anbrechende Nacht. Die Bedeutung des eigenen Gesanges aber hätte er selbst nicht zu bestimmen gewusst. Doch eh er zu Ende war, wurde er von einem Geräusch hinter sich stark erschreckt und unterbrochen. Trotz seiner Überzeugung, dass diese Musik ihn gegen alle Gefahren feite, verlor er den Faden der Melodie. Er zitterte, denn er war überzeugt, dass es eine Bärin war, im Begriff ihn anzufallen. War nicht dies Gelände der ausgesuchte Platz für sie, und war nicht dies die Jahreszeit in welcher die Tiere am gefährlichsten sein sollten? Er erstarrte und war regungslos, ob aus Hilflosig-keit, aus Angst oder aus Berechnung, weil, wenn er sich nicht bewegte, die Bärin ihre Angriffslust von ihm abwenden würde, hätte er nicht zu sagen vermocht. Er hatte sich gelobt, vor dem Sterben keine Angst zu haben, und wenn er trotzdem zurückschreckte, so war dies weil sein Gemüt seinem Willen nicht gehorsam leisten wollte. Sein Herz schlug in seinen Hals, und seine Hände waren in kaltem Schweiß gebadet. Er schämte sich seiner Angst aber sie zu bannen war nicht in seiner Macht. Zu sterben, sagte er sich, wäre er bereit. Nur zerissen zu werden, die Weise des Todes, befürchtete er. Er machte sich auf alles gefaßt. Er horchte, und sein Gehör war schärfer denn je. Auf der Chaussee hoch am Bergeshang sah er die Scheinwerfer eines Autos, und hörte von jenseits der Fichten das schwache ferne Geräusch des Motors verhallen. Dann war wieder alles still. Da geschah es ein weiteres Mal, das Knistern und Krachen im Gebüsch. Er erstarrte aufs Neue, dann drehte er sich langsam um und sah dass sich etwas Schwarzes auf ihn zu bewegte. Als es seinem Blick gelang das Dunkel zu durch-bohren, sah er eine Gestalt von Menschengröße, eine Bärin also, schon auf ihren Hinterpfoten, im Begriff ihn anzufallen und ihn zu zerreißen. In den Lichtschein welcher aus dem Fenster des Puppen-bergwerks einen schmächtigen Streifen der Nacht erkennbar machte war ein Mann von mittlerer Größe getreten. Döhring mutmaßte, dass der Mann absichtlich, um sichtbar zu werden, sich aus dem allumfassenden Dunkel in die enge Lichtschneise gestellt hatte. Er mochte in Döhrings Alter sein, oder etwas darüber. Sein Kopf war von einem schweren Schopf krausigen Haares umgeben, dessen Farbe in dem künstlichen Dämmerlicht unbestimmbar blieb. Ein langer Vollbart verbarg sein Kinn und seine Brust. Wie er soeben seinem Ohr gezweifelt hatte, so zweifelte Döhring jetzt seinen Augen. Die akustische Täuschung wurde durch eine visuelle Halluzination ergänzt, und Döhring wusste, dass es mit ihm zu Ende ging. Der Fremde hatte ein gutmütiges Aussehen trug aber eine Uniform ausgefallenster Art, so einzigartig, dass die Krankhaftigkeit von Döhrings Sicht allein schon durch des Mannes Tracht bestätigt wurde. Auf dem Beschlag seines Rockes nämlich erkannte Döhring das zackige Abzeichen der Waffen-SS, welches die Gutmütigkeit seiner Erscheinung Lügen strafte. "Ju häff a ferry gutt Feuß," sagte der Mann, "Jur Tschermann iss excellent," als ob Döhring soeben eine ihm von dem Fremden auferlegte Musikprüfung absolviert hätte. In Folgerung aber der Offenbarung von Döhrings germanistischen Sprachkenntnissen, fuhr der Mann nun fort, deutsch zu sprechen. "Ich habe es nie gewagt, die Arie welche Sie mir vorgetragen haben anzu-stimmen, ich habe zu viel in meinem Leben gesehen, und was ich gesehen habe, macht es mir unmöglich, je wieder ein reines Herz zu beanspruchen." "Ich meine Sie zu verstehen," sagte Döhring. Er war jetzt wieder in dem ihm vertrauten Element der vernunftgemäßen geisteswissenschaflichen Auseinandersetzung und selbst wenn diese Unterhaltung mit einem SS Offizier hier in der Sommernacht des kanadischen Felsengebirges seinen Wahnsinn besiegelte, würde er es sich nicht entgehen lassen mit diesem Menschen eine Aussprache über die Barocklyrik des Christian Friederich Henrici zu führen. Es entstand jedoch eine Pause, indessen Döhring die Außerordentlichkeit dieses Ge-spräches bedachte. "Ich meine Sie zu verstehen," begann er von Neuem. “Auch ich habe den Glauben an die Reinheit des Herzens verloren." Wieder entstand eine Stille, und diese bestätigte Döhring, dass er einer Täuschung zum Opfer gefallen war. Doch jetzt richtete der Sturmbannführer den Kopf in die Höhe und fragte, "Wie können Sie dann aber diese Arie singen, wie können Sie beten, reinen Herzens zu werden, wenn Sie den Glauben an die Reinheit des Herzens verloren haben? Wollten Sie vielleicht sich selbst in die Irre führen?" Döhring war auf diesen Vorwurf vorbereitet. Er sagte, "Es ist das Wesen der Literatur, müssen Sie wissen, auf die Einbildungskraft der Menschen zu spekulieren. Ich bin von Beruf Literaturhistoriker, und es ist meine Pflicht viele Gedanken vorzutragen, die nicht meine eigenen sind, und viele Gefühle zu beschreiben welche mich selber nie bewegt haben." Dieses Bekenntnis stimmte Döhring zugleich verlegen und ärgerlich. "Aber Sie, angesichts der Uniform die Sie tragen," forderte er, "wie können Sie sich anmaßen von Herzensreinheit zu reden?" "Ich dächte es wäre umgekehrt," sagte der bärtige Mann, und obgleich Döhring seinen Gesichtsausdruck nicht mehr sehen konnte, verwunderte er sich über die Mildheit der Stimme, welche zu der Uniform nicht passte. "Ich dächte," fügte der Fremde hinzu, "dass nur ein Mensch der sie getragen hat, von Herzensreinheit reden darf." Ein Sturm von Unwillen brauste in Döhring auf. Welch eine Schändung des Leidens und des Andenkens der Millionen von Menschen die dieser Mann und seine Kameraden gefoltert und ermordet hatten. Hier in der Nacht der kanadischen Nord-westens erschien sich Döhring der Vertreter aller Gemarterten, und der Sturmbannführer schien ihm die Ausgeburt aller Verfolger. Wieviele Leben hatten er und seinesgleichen nicht ausgelöscht, wieviele Menschen ins Unglück gestoßen. Tatsäch-lich war es das erste Mal, das Döhring einem Kriegsverbrecher gegenüber stand, und es verwunderte ihn selbst, dass er, der soeben eine so lähmende Furcht vor Bärinnen und Bären empfunden, vor diesem Unmenschen nur Widerwillen, aber keine Angst spürte. Wiesenthal, Simon Wiesenthal, hieß nicht so der Mann der dafür gesorgt hatte, dass dieser Mörder und seinesgleichen der Strafe nicht entgingen? Die kanadischen Behörden würden ihn unverzüglich den zuständigen Gerichten überliefern, und einen Augenblick erwog Döhring, ob er nicht umgehend zur Zentrale der Königlich Kanadischen Berittenen Polizei, der Royal Canadian Mounted Police, fahren sollte um den reuelosen Verbrecher anzuzeigen. Der Mann aber schien seine Gedanken gelesen zu haben. "In ihrem Fach, sollte ich meinen, gilt es doch als eine Binsenwahrheit, dass das Äußere nicht das Innere ist," sagte er. "Aber man kann das Innere doch nur über das Äußere erkennen," protestierte Döhring. "Man kann das Innere überhaupt nicht kennen," sagte der Mensch in der SS Uniform. "Im übrigen trage ich ja diese Uniform nicht zur Schau, ich trage sie nur um mich zu erinnern wer ich bin." "Und wer sind Sie denn eigentlich?" fragte Döhring, erleichtert dass der Mann das Thema der eigenen Identität selbst angeschnitten hatte, und dankbar, dass er ihn noch nicht angezeigt hatte. "Ich bin ein Mensch," sagte der Mann. Döhring wartete, aber der Mann sagte nichts weiter. "Ja, warum tragen Sie dann diese schreckliche Uniform?" forderte Döhring. "Weil ich es in mir fühle, dass auch ich ein solcher hätte sein können," antwortete der Mann. "Sie haben also diese Uniform niemals pflichtgemäß getragen?" "Niemals," sagte der Mann. "Ja warum tragen Sie sie denn jetzt?" wiederholte Döhring seine Frage. "Weil ich es in mir fühle, dass auch ich ein solcher hätte sein können," antwortete der Mann zum zweiten Mal. "Da sind Sie wahrhaftig nicht der Einzige," bekräftigte Döhring. "Nur sind die anderen zu feige es zuzugeben. Sie aber sind ein mutiger Mensch." Er fühlte nun eine unverbrüchliche Sicherheit wegen der Gültigkeit seines Urteils. Dies ist ein guter Mensch, sagte sich Döhring, und er war froh, dass er ihm kein Unrecht getan hatte. Und da er seine Güte erkannt hatte, überkam ihn das Bedürfnis mit diesem Menschen zu sprechen, sich ihm zu erklären, um seinerseits in jenes Augen auch als ein guter Mensch zu erscheinen. "Kann man sich denn hier nirgends hinsetzen?" fragte Döhring. Es war eine rednerische Aufforderung, denn es war kalt geworden, viel zu kalt um hier herum zu sitzen, und immer dunkler. Döhring war unsicher, ob es ihm überhaupt gelingen würde, den Weg zum Wagen zu finden. "Meine Hütte liegt nicht weit von hier," sagte der Mensch in der SS Uniform. Wenn Sie mir trotz meiner Aufmachung trauen, folgen Sie mir, und beim Schein der Lampe können wir einander ins Gesicht blicken, und uns ein wenig unterhalten. Hier ist es zu dunkel. Döhring folgte seinem neuen Kameraden in der schwarzen Uniform. Der führte ihn einen schmalen ebenen Pfad über die Wiesen an den Bach, dessen abwechselnd plätscherndes und brausendes Getöse Döhring in der Finsternis wie eine Orgel-fantasie anmutete, und einige hundert Meter stromaufwärts an eine kleine Hütte deren erleuchtete Fenster Döhring schon aus der Ferne wahrgenommen hatte. Sie traten ein, und in dem trüben Schein einer Öllampe erkannte Döhring einen Herd, ein Bett, und einen Tisch mit ein paar Stühlen. In der Ecke bemerkte Döhring ein altes Klavier, dessen Deckel mit unzäh-ligen Partituren beschwert war. Der Mensch in der SS Uniform hieß Döhring auf einem Stuhl an dem kleinen niedrigen Esstisch Platz zu nehmen. Er selbst stellte einen Wasserkessel auf den glühenden Ofen und setzte sich neben seinen Gast. Jetzt in der Beleuchtung und in der Wärme seiner Hütte wurde er redselig. "Ich heiße Albert," sagte er. "Ich wohne hier schon seit dreißig Jahren. Als ich zuerst in diese Gegend kam, erwarb ich mir diese Hütte und ein paar Hektaren Land. Jetzt möchte die Parks-verwaltung es mir abkaufen, ich aber weigere mich, denn ich will hier leben, und hier will ich sterben. Aber ich habe den Parks Canada mein Grundstück nach meinem Tode vermacht, denn ich habe keinen Erben, und die Parksverwaltung begüns-tigt mir mein Leben und drückt sogar ein Auge zu, wenn du dir vorstellen kannst, dass eine Parksverwaltung ein Auge zu-drücken kann, wenn ich die Tiere füttere, oder mich anderweitig mit ihnen anfreunde. Sonst ist das ja, wie du weißt, streng verboten." "Die Bären auch?" fragte Döhring, denn obgleich oder vielleicht gerade weil es sich herausgestellt hatte dass Albert Ursache der Geräusche gewesen war, welche ihn so erschreckt hatten, wünschte Döhring die Gelegenheit wahrzu-nehmen, von Albert über die Bären belehrt zu werden. Albert war der einzige Mensch den er getroffen hatte der eventuell zwischen ihm und den Bären vermitteln könnte. "Auch die Bären," bestätigte Albert, "wenn sie im Vorfrühling hungrig sind, stelle ich ihnen regelmäßig ein Fressen hinten in meinen Garten. Sie holen's sich und sind dankbar. Es würde keinem von ihnen je einfallen, mich anzugreifen. Mit den anderen Tieren ist's vergleichbar. Wir leben harmonisch zusammen in einer gemeinsamen Welt." "Aber die Uniform, Albert, die Uniform, die passt doch garnicht zu dir," wendete Döhring ein, bestrebt nun endlich die Ungereimtheit dieser Garnitur zu entwirren. "Doch," behauptete Albert, "die ist auch ein Teil meines Lebens und ein Teil von mir. Ich stamme aus Thüringen. Mein Vater war Gutsbesitzer. Unser Landhof lag am Fuß des Großen Ettersbergs bei Buchenwald, weißt du, nordwestlich von Weimar. Vor meinem Schlafzimmer-fenster erstreckte sich der Berg mit dem berüchtigten Konzen-trationslager. Ich bin Zeuge von allem was dort geschah. Weiß Gott, ich war nicht daran beteiligt. Weiß Gott, ich habe es nicht gewollt." "Aber dann hast du ja doch keinen Grund dich schuldig zu fühlen," sagte Döhring, und in diesem Augenblick tat ihm Albert sehr leid, und er hätte am liebsten seinen eigenen Anzug mit ihm getauscht. Er sah aber sofort ein, dass dieser seinem neuen Freund nicht passen würde, denn Albert war größer und dicker als er. "Ich habe aber auch nicht versucht, was dort geschah zu unterbinden oder zu verhindern. Wie gerne hätte ich es getan, aber es war schlechthin unmöglich, wenn ich es versucht hätte, hätten sie mich umgebracht. Es war mir genauso unmöglich wie es dir ist, wie heißt du eigentlich," unterbrach er sich. "Ich heiße Jakob," sagte Döhring, und aus Gründen die ihm unklar waren, unterließ er es, seinen Nachnahmen zu nennen. Albert fuhr ohne Unterbrechung fort, "Genauso unmöglich wie es dir ist, Jakob, einen der Gletscher die diese Berge krönen zu entfernen. In unserem Falle war es uns nicht einmal erlaubt fortzuziehen, denn man befürchtete mit Recht, dass wir nicht schweigen würden; man hat uns gezwungen dort zu bleiben, und alles mit anzusehen, bis an das erlösende Ende. Kurz eh die Amerikaner kamen, da haben sich die Wärter und die SS die Kleidung der ermordeten Häftlinge angelegt. Es ist ein tiefes Geheimnis, das du keinem verraten darfst, aber es gibt Menschen die noch heutzutage in KZ-Häftlingskleidung auf der Weltbühne paradie-ren, und sich ihren Mitmenschen gegenüber genauso betragen, als schlüge in ihrer Brust das Herz eines SS Mannes. Zu uns ins Haus haben sie ihre Uniformen gebracht, und uns haben sie gezwungen diese zu tragen, um von ihnen und ihrer Schuld abzulenken. Ich selbst habe dann drei Jahre im Gefängnis gesessen, weil man mich in dieser Uniform fand, derselben in welcher du mich getroffen hast." "Aber warum, Albert, hast du dich den amerikanischen Richtern denn nicht erklärt," sagte Döhring, Sie wollten dich doch garnicht bestrafen." "Nein, siehst du, da irrst du dich. Die Richter haben nur eine Absicht. Sie suchen einen Sündenbock, dem sie unser aller Schuld aufladen können. Du irrst dich in doppelter Weise. Erstens irrst du dich, weil du meinst, dass ich nicht schuldig bin. Ich bin schuldig, und ich will es sein. Und zweitens irrst du dich indem du meinst, dass es möglich wäre die Schuld mit der Strafe auszugleichen. Siehst du, Jakob, es gibt keine Schuld. Wenn es Schuld gäbe, dann wäre es möglich durch Strafe und Buße, durch Reue und Vergebung reinen Herzens zu werden. Weil es aber keine Schuld gibt, ist es für unsereinen unmöglich reinen Herzens zu werden. Deshalb beanstandete ich deine Arie." "Wie kann du sagen, dass du selber schuldig bist, und im nächsten Augenblick behaupten, dass es keine Schuld gibt. Siehst du nicht, dass du dir wider-sprichst?" forderte Döhring. Alberts Antwort ließ auf sich warten. Dann sagte er, "Der Widerspruch, scheint mir, ist auf deiner Seite, denn du behauptest, wenn ich dich recht verstehe, dass es Schuld zwar gibt, aber dass du unschuldig bist. Was kannst du von Schuld wissen, wenn du sie nie erlebt hast?" Döhring war zu erschöpft ihm zu antworten. "Du wirst mich entschuldigen," fuhr Albert fort, "wenn ich so umständlich und ausführlich darüber rede, aber ich habe ja nun dreißig, vierzig Jahre über dies Thema nachgesonnen. Und heute Morgen ist das erste Mal, dass ich Gelegenheit habe mich auszusprechen." Döhring war fast eingeschlafen. Es war für ihn ein langer, ein sehr langer Tag gewesen, auf dessen Anfang er sich kaum noch besinnen konnte. Bei der Fahrt zum Flughafen war die Sonne durch die Wolken gebrochen. Im Flugzeug hatte er den Fensterplatz für Elsbeth frei gelassen, aber die Fluglinie hatte ihn an Dorothea vergeben. Dadurch hatte er Dorothea getroffen und bald darauf hatte er sie wieder verloren. Weiter wollte Döhring jetzt nicht denken. Er sehnte sich nach nichts als Ruhe und Schlaf. Aber Albert hatte, er sagte es ja selbst, dreißig, oder waren es vierzig Jahre, auf ihn gewartet, und er hatte nun keine Wahl als hierzubleiben, dem ehrlichen alten Mann Gesellschaft zu leisten, und ihm zuzuhören. Auch brauchte Döhring sich an dem Gespräche nur im Geringsten zu beteiligen, denn Albert war aufgelegt sämtliche Unkosten der Unterhaltung zu bestreiten. Der hatte sich, in seiner fadenscheinigen schwarzen Uniform mit den SS Abzeichen auf dem Beschlag des Rockes, mit seinem Schopf roten Haares, dessen Farbe nun im Lampenlicht erkenntlich wurde, und mit seinem dichten roten Vollbart, vom Tisch bewegt, und stand nun, wie ein Pfarrer in schwarzem Talar zu Beginn seiner Predigt, unter der Hänge-lampe in mitten des kleinen Zimmers, als wären die Gedanken die er jetzt auszusprechen hatte zu gewichtig oder vielleicht zu heilig um im Sitzen verkündet zu werden. Döring aber blieb mit gefalteten Händen am Tische sitzen, und stierte vor Müdigkeit in die Tasse Tee welche Albert ihm vorgesetzt hatte. "Es ist ein großer Fehler," begann Albert, "vorauszusetzen, dass die Welt ohne menschliches Versagen vollkommen wäre. Es ist widersinnig die doch so offensichtliche Unvollkommenheit der Welt der fehlerhaften, der schlechten Handlung des Einzel-nen zuzuschieben, und zu behaupten, dass alles in Ordnung wäre, wenn nur der Mensch dem Priester gehorchte, dass es nur Sünde oder Verbrechen ist, wie immer du es nennen magst, welche das Unheil stiftet. Siehst du, Jakob, die Welt ist unvoll-kommen auch ohne den Menschen, und dass sie vollkommen wäre oder durch seine Anstrengungen vollkommen werden könnte, das ist eine der Welt angedichtete Idealisierung, eine von den Menschen erfundene ethisch-ästhetische Phantasie." Albert schwieg und wartete auf Döhrings Antwort. Nach einer Pause fügte er erklärend hinzu, "Ich glaube die Menschen überzeugen sich, dass die Welt vollkommen sein könnte, nur um sich über die Beschränktheit ihres Wesens hinweg zu trösten und zu täuschen. Die vermeintliche Vollkommenheit einer sündenfreien Welt ist durchaus vergleichbar mit der Vorstellung von der Gerechtigkeit, welche es auch nicht gibt. Und am irrsinnigsten ist die Behauptung des Menschen außer der Natur zu stehen und über sie erhaben zu sein." Albert hielt ein zweites Mal inne und wartete auf eine Antwort, aber Döhring stierte unverwandt in seine Tasse Tee, deren nunmehr nur noch dünne, kaum sichbare Dampfschwaden den kleinen Raum mit ihrem würzigen Aroma schwängerten. "Siehst du, Jakob," fing er von Neuem an, "ich bin der Überzeugung, dass jene Menschen welche ihre Mitmenschen quälten und töteten, nicht böse Men-schen waren, sondern eben Menschen die ihrer Natur ent-sprechend handelten, nicht anders als die Bären es tun, wenn sie einen Hirsch erlegen, oder die Raubvögel, wenn sie einen Hasen oder ein Eichhörchen töten." "Der Mörder, festgenommen und bestraft, ist doch nur ein Sündenbock, den die Menschen dazu bestellen, ihre Schuld abzutragen. Nach der Kreuzigung fühlen sie sich zugleich vor dem Mordanschlag des Verbrechers gesichert und von den mörderischen Gelüsten der eigenen Seele gereinigt. Weil sie gedrungen sind, sich selbst rein zu fühlen, meinen sie das Schmutzige, das Schlechte, das Böse, außerhalb ihrer, in einem menschlichen Opfertier zu erkennen. Wen anders als den gemei-nen Verbrecher denkst du denn dass Jesaja mit den Worten gemeint hat, `Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, vol-ler Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn nichts geach-tet.' Siehst du, Jesaja hatte die verborgene Beziehung zwischen dem Verbrecher und dem Heiligen, zwischen dem Gott und dem Teufel, entdeckt. Wie hätte er sonst schreiben können, 'Fürwahr er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen.'" Albert ver-stummte, als wäre die Stimme ihm von der Last der eigenen Worte erdrückt. Plötzlich zuckten Alberts Lippen, wie von einem epileptischen Anfall geschlagen, "Paideia eirenes hemon ep auton," Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten. (Jesaja 53:5) stieß er hervor, und Döhring hörte, wie seine Stimme in Schluchzen erstickte. Döhring meinte jetzt wach zu sein, obgleich ihn der Vortrag der ihm, ungeachtet seiner Schläfrigkeit, ins Bewusstsein gedrungen war, die Hütte, deren karge Ausstattung ihm jetzt wieder in die Augen fiel, und vor allem der schwarz uniformierte Pfarrer, dessen Augen sich bei den griechischen Worten der Septuaginta mit Tränen füllten, so ausgeartet anmuteten, dass er die Unterscheidung, ob er nun wache oder träume, als über-flüssigen Luxus von sich wies. In jedem Falle, sei es des Wachens oder Träumens, behauptete sich in Döhrings Gemüt das Verlangen die Ordnung seiner Begriffswelt wiederherzu-stellen. "Du bist ein guter Mensch, Albert," begann er versöhnlich, "aber in deinen kulturgeschichtlichen Erörterungen bist du fehl gegangen. Das mag vorerst sein, weil du zu viele Jahre diese schwierigen Gedanken mit dir herum getragen hast, ohne sie irgendjemandem auseinander setzen zu können. Paideia," sagte er mit fester Stimme, indem er diesen Begriff wie einen Standarte der Kultur und der Vernunft in die Querwinde der Auseinandersetzung hisste, eine Losung an welcher Albert und er sich orientieren, und welche sie zu einem Einverständnis führen würde, "Paideia ist die spezifisch griechische Deutung all jener erzieherischen Aufwände mit welchen die geistig-seelische Kultur eines Volkes von Geschlecht zu Geschlecht vermittelt wird. Mit Strafe, mit Gewalt, hat Paideia nichts zu tun." Albert schien diesen Einwand nicht gehört zu haben. Auf seinem Gesicht spielte jetzt eine kaleidoskopische Folge der Empfindungen. "Die öffentliche Schuld welche den Mörder belastet," begann er von Neuem, "ist nicht dass er getötet hat, denn das Morden ist die Lieblingsbetätigung des Menschen-geschlechts, und wir tun es mir großem Jubel, du besinnst dich des Ölkrieges im Persischen Golf. Die Schuld deretwegen der Mörder verfolgt wird, ist nicht, dass er getötet hat, sondern dass er die unrechten Menschen zur unrechten Zeit zu unrechten Zahlen getötet hat. Der Mörder unterscheidet sich von dem Helden lediglich in der Wahl seines Opfers. Der Golfkrieg sollte es sich lehren, falls du es vergessen hattest, mit wieviel Elan und Eleganz, mit welch heuchlerischer Pietät, mit welch un-menschlicher Brutalität man hundertfünfzigtausend Menschen zu schlachten sich brüstet, und dies auf Befehl eines Mannes der den Bürgern die ihn wählten ein gütigeres und milderes Land versprach. Bedenke doch, und wage nicht es zu leugnen, dass die Geschichte der Menschheit aus Mord und Zerstörung besteht, und dass sie mit der Ausrottung der Völker erfüllt wird. Vergiss die guten Christen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts nicht, welche die Völker Afrikas in die Sklaverei verschleppten, und auch nicht die frommen Europäer welche die Indianer ausgerottet haben. Welch Unheil wurde nicht alles von 'guten' Menschen verbrochen, die das Leben und das Leiden des Mitmenschen verkannten. Ihr Vergehen war, dass sie den Mit-menschen als ihnen fremd, als ihren Feind, betrachteten, und aus dieser vermeinten Feindschaft die Berechtigung schöpften ihn zu quälen und zu töten. Aber es ist ein Irrtum, Jakob, es ist der größte Irrtum von allen, zu beanspruchen was recht und unrecht ist aus der Vergangenheit, aus der Geschichte zu entnehmen. Es ist die erschreckende Eigenart der Geschichte, dass wir alle ihr gegenüber unendlich tugendhaft erscheinen. Glaubst du, dass es auch nur einen Christen gibt, der einsieht, dass er heute, nach zweitausend Jahren Kyrie Eleison und nach zweihundertfünfzig Jahren Matthäuspassion, begieriger ist denn je, Christus ans Kreuz zu schlagen? Sie alle jubeln nach der Todesstrafe, und keiner erkennt, dass der den sie kreuzigen in Ewigkeit der gleiche war und der gleiche sein wird." "Selbsttäuschung und Lüge, Selbsttäuschung und Lüge," wiederholte Albert, "Das sind die furchtbaren Fehler davor wir uns hüten müssen. Siehst du, Jakob, der Kern unseres Erlebens ist das eigene Ich, und jeder, wie Lessing gesagt hat, liebt sich selbst am meisten. Er vermag nun aber auch seine Frau, seinen Freund, seine Kinder, seine Eltern, seinen `Nächsten` in ver-gleichbarer Weise wie sich selbst zu lieben, das heißt ihr Leben so zu beschützen, ihrem Schmerz so vorzubeugen, ihr Glück so zu fördern, als wäre es sein eigenes. Es entsteht aber zugleich zwischen den einzelnen Menschen ein Wettbewerb der sie veranlasst einander zu bekämpfen. Dieser Wettbewerb ist mit der Nächstenliebe unvereinbar, aber er lässt sich dennoch nicht vermeiden, weil auch er Ausdruck des Menschenwesens ist. Furchtbarer als die Feindschaft zwischen Einzelnen ist die Feindseligkeit zwischen den Völkern, zwischen den Menschen-gruppen, zwischen den Rassen. Die Staaten haben die Menschen zu Soldaten gemacht, denen es erlaubt ist, den Gegner gefangen zu nehmen, ihn zu foltern und zu töten. Der Mensch ist von Natur grausam, Jakob. Wir wollen es nicht wahr haben, aber es ist so. Es gelingt ihm zuweilen, diese Grausamkeit zu verdecken, aber sich ihrer zu entledigen vermag er nicht." Döhring hatte versucht Alberts Vortrag zu folgen, und fand, dass dieser nicht durchweg folgerichtig sei, war aber erschöpft in einem Maße, dass er seinem Urteil nicht traute, und enthielt sich der Kritik. Schließlich vermochte er seiner Müdigkeit nicht mehr zu widerstehen, und schlief ein. Entweder hatte Albert es nicht bemerkt, oder er fuhr trotzdem unbekümmert fort, "Wenn du die Grausamkeit der National-Sozialisten begreifen willst, musst du erst die Grausamkeit der Menschen überhaupt begreifen. Die Grausamkeit des Menschen ist immer Grau-samkeit des Einzelnen. Bedenke wie er die Tiere behandelt. Willst du wirklich wissen wer der Mensch ist, so betrachte sein Verhältnis zu den Tieren. Du kannst nicht umhin, in diesem Zusammenhang, noch einmal das schwierigste Thema des Menschenschicksals, das Essen von Fleisch zu bewerten. Willst du es verstehen, so darfst du deinen Blick nicht nur auf die Fleischlichkeit des Menschen beschränken, sondern es liegt dir ob, die Fleischlichkeit der Tiere im allgemeinen zu betrachten. Denn wer ehrlich ist, gibt zu, dass der Mensch nur eines unter vielen Tieren ist, und bei weitem nicht das Höchste, denn das ist der Adler. Und des Menschen Fleisch lässt sich vom Fleisch der Tiere nicht, garnicht unterscheiden. Die Abtrennung des Menschen vom Tier, wenn sie überhaupt, oder insofern sie gültig ist, besteht in der vermeintlichen Geistigkeit des Menschen, und seiner hoffartigen, arroganten, und ganz sicherlich irrtümlichen Ableugnung jeglicher Geistigkeit bei den Tieren." "Was nun das Fleisch selbst anbetrifft, so ist die die Fleischlichkeit des Menschen von der Fleischlichkeit des Tieres in keiner Weise zu unterscheiden. Es ist denkbar, dass ein Physiologe oder ein Biochemiker objektive Unterscheidungen zwischen den Bestandteilen des Menschen und Tierkörpers festzustellen beanspruchen möchte, aber selbst wenn dies der Fall wäre, so würden dergleichen Differenzen einen entspre-chenden Unterschied im Geistigen kaum belegen. Was das Fleischliche anlangt so ist der Mensch durchaus dem Tier ver-gleichbar, und muss sich als fleischliches Wesen mit dem Tier durchaus verbrüdert oder verschwistert betrachten." Ernst und eindringlich hatte Albert in seinem schwarzen Talar auf den schlummernden Döhring eingeredet. Jahrelang hatte er die Gedanken welche er jetzt ausführte in seinem Gemüt gezogen, nun indem er sie zum ersten Mal verlautbarte, durchströmte ihn die Scham. Welch ungewöhliche und vielleicht ungehörige Behauptungen hatte er aus dem eigenen Munde vernommen. Er hielt inne. Die Vorstellungen welche er im Begriff war auszusprechen, würden ungewöhlicher noch und ausgefallener, und diese Gedanken einem anderen Menschen vorzutragen, wie immer freunschaftlich und sympathisch jener ihm auch begegnet, war ein Wagnis, mit welchem er die Gefahr lief von seinem Hörer, dessen Zustimmung ihm in seiner Einsamkeit so teuer war, als ausschweifend, wenn nicht gar als verworren zurückgewiesen zu werden. Er blickte in das Gesicht seines Gastes um die Wirkung seiner Worte einzuschätzen und gewahrte dass Döhring schlief. Ein Anflug von Enttäuschung und Missmut wurde von Erleichterung abgelöst, denn er war nun sicher, dass Döhring ihm seine Ausführungen nicht übel genommen hatte, und diese Erleichterung ermunterte Albert zu immer gewagterer Rede. "Siehst du denn nicht wie der Mensch das Schicksal des Schmerzes, der Wollust, und der Verderblichkeit des Fleisches mit den Tieren teilt? Des Menschen Erfahrung seiner eigenen Fleischlichkeit besteht im Wohlgefühl, in der Sättigung, im Schmerz, Hunger, Durst und in der Kälte, in der Wollust und ihrer Befriedigung, im Leiden und in der Angst vor dem Leiden, in der Furcht vor, und in der Vorausnahme von Tod und Verwe-sung. Sollte er sich in all diesem von den Tieren unterscheiden? Ach, er will sie nicht wahrhaben, seine Fleischlichkeit. Zeit-lebens verhüllt er sie in Kleidern und Schminke und Schön-tuerei, versteckt sie hinter ästhetischen Vorurteilen, und verdeckt sie nach dem Tode mit Balsam und reichgeschnitztem Sarg. Nie vermag er die Tatsache seiner Fleischlichkeit zuzugeben." "Die Fleischlichkeit des Tieres aber erlebt er ganz anders als die eigene. Die Fleischlichkeit des Tieres erlebt er geschmort oder geröstet oder gebraten, auf dem Teller das Spanferkel in voller Leiblichkeit auf seinem Tisch, verhöhnt mit dem Apfel in der Schnauze, den gekochten Fisch, ein fahler Abglanz seiner einstigen Schönheit auf der Servierplatte ausgestellt, die mit seinen Geschossen aus den Lüften herab gestürze Gans gerupft und gebraten zu seinen Festen, und widerlicher noch als die für seine Mahlzeiten wilden, auf der Flucht erschlagenen, Tiere, sind jene die er sich in seinen Ställen nur zum Schlachten mästet. Schon immer war es bedenkenswürdig, wie der Bauer das mit seinen Kindern schon angefreundete, im Keime geliebte Kalb oder das Zicklein vom Euter der Mutter mit dem Strick in die Scheune zerrt, um ihm dann mit dem spitzen Messer die Halsader aufzuritzen und sein Blut im Topf als Schweinfutter aufzufangen, bis es verblutet zu seinen Füßen endigt, so dass er ihm unbehelligt von Stöhnen und Geschrei den Pelz abschälen kann, ihm das Eingeweide entreißen die Glieder in zierliche Schnitzel aufteilen, die er dann teuer verkauft, oder wo nicht, sich, seiner Frau, seinen Kindern als Festessen auf den Tisch stellt. Ist es nicht das Tierfleisch, welches die Menschen verschlingen, das ihnen Kraft und Mut gibt, einander zu ermorden, mit eben dersellben Ruchlosigkeit mit der sie das Tier getötet haben? Verwundert es dich, dass es sie einst verlockt hatte in ähnlicher Weise einander zu schlachten und zu verzehren? War es doch zuletzt nur eine bisher unbeschriebene Entwicklung ihres Bewusstseins die sie zu dem Beschluss be-wog, dies nicht mehr tun zu dürfen. Dennoch halten sie an der Möglichkeit einander zu verzehren fest. Tatsächlich erinnern sie sich ihres Vorrechtes dieses zu tun, indem sie in den heiligsten ihrer religiösen Feiern das Blut und das Fleisch ihres vermenschlichten Gottes zeremoniell zu verzehren bean-spruchen." Die Tatsache dass Döhring zu schnarchen begonnen hatte schien Albert in seinen Ausführungen nur zu bekräftigen. "Der Mensch kennt das Wohlgefühl der Sättigung nach dem festlich bereiteten Mahle. Er schätzt die Kraft des Körpers und des Geistes die ihn befähigt Städte und Straßen und Paläste zu bauen, Bücher zu schreiben, Enzyklopädien zusammenzustellen, Wissenschaften zu erfinden, Maschinen, Autos, Flugzeuge, elektorische Rechner, Laser zu bauen und sogar in den Weltraum einzudringen. Aber der Mensch sieht auch was sein Körper sonst noch aus dem Fleische macht, denn er verwandelt es zu Kot, diesem widerlichsten Erzeugnis des Menschen, zu der Verleugnung und Verneinung seiner selbst. Und gerade dieses ist für des Menschen Beziehung zum Fleische bezeichnend, dass dem Menschen sein Auswurf, seine Exkremente so unbedingt, unqualifiziert widerlich sind, dass es ihn drängt sie zu begraben, sie ungesehen fortzuspülen, und seine Ausscheidungen rituell zu verhüllen." "Du isst überhaupt kein Fleisch?" fragte Döhring. Er war soeben von einem unruhigen Schlummer erwacht, und er hatte nicht verstanden, dass Alberts letzte Ausführungen dem Auswurf galten, und dass die Erkundigung nach fleischloser Diät in gerade diesem Zusammenhang nicht recht am Platze war. Albert schenkte dieser Frage nicht weiter Achtung. "Bedenke doch," fuhr er fort, "wie die Menschen ihr eigenstes, persönliches Interesse, ihre Sucht nach Glück und nach Leben, auf die gesammte Gesellschaft, auf die Natur selbst ausdehnen, und meinen, dass alle Geschehnisse auf Erden nach ihrem persönlichen Wohl abgeschätzt werden sollten. Hingegen versuche ich es hin und wieder, die Welt aus einer unpersönlichen Perspektive zu betrachten, eingedenk dass sie unzählige Kerne Bewusstseins enthält, deren jeder einen Anspruch auf Dasein erhebt vergleichbar mit meinem eigenen." "Die erzwungene Behauptung des eigenen Ich hat uns zu dem verhängisvollsten Irrtum dem wir verfallen sind verleitet, zu der Annahme nähmlich, dass zwischen dem Bewusstsein, der Seele des Menschen und dem Bewusstsein der Tiere ein qualitativ absoluter Unterschied bestünde, dass Menschsein und Tiersein gänzlich voneinander getrennt wären. So will es schon, aller Augenscheinlichkeit zuwider, die Schöpfungsgeschichte der Bibel. Nicht der Anspruch göttergleich zu sein, sondern die Verleugnung unserer Verwandtschaft mit anderen Wesen ist die Hybris welche uns immer aufs Neue unser Elend gebiert. Mein Bruder der einst diese Uniform bei seiner 'Arbeit' getragen hat war fähig, als ob sie Tiere wären, die Homosexuellen, die Kommunisten, die Sozialisten, die Juden, die Polen, die Russen, zu erschießen, zu vergasen, zu verbrennen, oder anderweitig zu Tode zu quälen, als ob sie Tiere wären, weil er in ihnen seinesgleichen nicht erkennen wollte oder konnte, als ob sie Tiere wären. Der Wissenschaftler der den Versuchsaffen verstümmelt, der Jäger der das Reh erschießt, der Schlächter der dem Rind den Todesstoß auf den Schädel gibt, sie alle vermögen ihrem tötenden Handwerk nachzugehen nur unter der Voraussetzung, dass ihre Opfer Tiere sind, grundsätzlich verschieden von ihnen selbst, von ihren Frauen und Eltern und Kindern. Am klarsten siehst du dieses Verhältnis in der Verfolgungsgeschichte der Indianer und der Neger, welche man, wegen ihrer fremden Erscheinung, wie Tiere behandelt hat, bis man sich zuletzt tatsächlich überzeugt hatte, dass sie nicht Menschen, dass sie Tiere wären. Wahrlich, ich sage dir, du ziehst keine Grenze zwischen dir und dem anderen Lebewesen ohne dein Seelenheil aufs Spiel zu setzen." "Ich habe vor den Tieren keine Angst," fuhr Albert fort, und kümmerte sich nicht darum, dass Döhring schlief. "Ich müsste es als es eine gerechtes Urteil der Natur betrachten wenn ich selbst eines Tages bei einem Bärenüberfall umkäme. Ich habe es mir oft genug ausgemalt, was ein Tier erlebt das von einem Grizzly überrascht und angefallen wird, sein Genick ihm zerbissen, oder schlimmer noch, sein Gedärm ihm lebendig ausgerissen, bis es gnädig verblutend das Bewusstsein verliert, und dass darauf die Bärin es wie jedes andere Tier, mit Tatzen und Zähnen zerreißt, und sein Fleisch zur eigenen Nahrung verschlingt, und dass dann sein stoffliches Wesen insofern es nicht gewirkt hätte der Bärin Hunger zu stillen, ihr Kraft und Lebensmut zu geben und Milch für ihre Jungen, und wozu immer sonst die Bären ihre Lebenskräfte verwenden, das andere nämlich, das Übrige, vermengt mit den Residua anderer Beute aus ihrem After in irgend einem Dickicht ausgeschissen würde, oder vielleicht sogar auf einem häufig besuchten Wanderweg ausgeschieden, von dem aus mehr begünstigte Menschen die Großartigkeit dieser Landschaft bewundern. Der Mensch dem ein solcher Tod beschieden ist würde dann seinen letzten, vielleicht seinen höchsten Dienst an der Menschheit leisten indem er ihr in dieser Ungestalt als Warnung diente, einem ähnlichen Schicksal zu entfliehen. Das wäre ein Tod der auch als Opfer gelten könnte, und dies in mehr als einer Dimension, vor allem als ein Opfer an die Natur für die Verwandschaft aller lebenden Wesen unter der Sonne." Albert war nun mit seiner Rede, auf welche er sich dreißig Jahre lang vorbereitet hatte, zu Ende. Döhring war längst wieder eingeschlummert und schien in tiefstem Schlaf gebannt. Da ging Albert ans Klavier und suchte in einem Haufen von Heften verschiedener Größe nach einer bestimmten Partitur, einer Arie mit dreißig Variationen. Es war die schwierigste Musik in der er sich je geuebt hatte, und er wollte nun auch diese Leistung von Jahrzehnten seinem Freund und Besucher vorführen. Er öffnete das Heft zur ersten Seite und fing an zu spielen. Der laute Klang des Instrumentes, anders als Alberts sonore Stimme, durchdrang Döhrings schlafendes Bewusstsein und weckte ihn. Als Albert gewahrte, dass Döhring erwachte und sich regte, sagte er, "Entschuldige, Jakob, dass ich dich geweckt habe. Diese Musik war geschrieben um den Schlaflosen einzuschläfern. Es ist meine Schuld, dass ich sie zu heftig vorgetragen habe." "Du nimmst wahrhaftig zu viel Schuld auf dich," sagte Döhring. "Im Gegenteil, ich muss mich bei dir entschuldigen, dass ich während du sprachst, eingeschlafen bin. Ich hätte gerne alles was du zu sagen hattest gehört, aber ich bin so müde, und das Fleisch ist zu schwach. Tu mir jetzt den Gefallen mir zum Parkplatz zu leuchten, damit ich nicht allzuspät in meine eigene Hütte in Canmore komme." Albert saß regungslos am Klavier, enttäuscht seine unterbrochene Aufführung nicht fortsetzen zu dürfen. Die dreizehnte Variation ins besondere, deren Melodie wie ein klarer Bach durch eine Himmelsaue fließt, die er jahrelang einstudiert, hätte er Jakob gern vorgespielt. Er war ja nur bis zur zweiten Variation gekommen. Es war nicht die erste Enttäuschung in seinem Leben. Die letzte würde es auch nicht sein, aber die Mehrzahl lag hinter ihm, dessen war er gewiss. Der letzte Ton des Klaviers war längst verklungen. Stillschweigend, ohne dass er ein weiteres Wort über die Lippen brachte, stand Albert auf. Er nahm eine Lampe, und leuchtete seinem Gast den Weg zurück. Es war so dunkel geworden, dass selbst die Ränder des Fußweges nicht mehr erkennbar waren. Mühsam stiegen sie die steile Treppe hinan. Döhring erschloss seinen Wagen und setzte sich ans Steuer. "Ich danke dir für deine Gastfreundlichkeit," sagte er durchs offene Fenster zu seinem Freund. "Ich möchte wiederkommen, und von dir lernen, möchte deinen Ausführungen zuhören, wenn ich weniger ermüdet bin." Albert fuhr mit seiner freien Hand nach seinem dichten Bart. In der anderen hielt er die Laterne. "So komm doch wieder, jeder Zeit. Ich gehe nirgends hin. Mich kannst du hier finden, bis ans Ende." Alberts Stimme war von Enttäuschung trübe. Döhring mutmaßte, dass Albert nicht erwartete ihm jemals wieder zu begegnen. In diesem Moment empfand Döhring die tiefe Einsamkeit die seinen Freund umfing, und er schämte sich seiner Untreue gegen ihn. Aber indessen Döhring, weil er sich scheute den Ausschlag zur Trennung zu geben, mit dem Anlassen des Motors wartete, war Albert schon fortgegangen. Nur wenige Augenblicke noch vermochte er dem Schein der Lampe bis auf den Treppenkopf zu folgen, dann waren Albert und sein Licht verschwunden, und Döhring war von schwarzer Nacht umhüllt. Er verriegelte die Türen des kleinen Sonnenvogels, ließ den Motor anspringen, und schaltete die Scheinwerfer an. Jetzt jedenfalls war er vor den Bären sicher, und Albert war ja seiner eigenen Aussage nach, mit ihnen befreundet. Wer konnte wissen, was ihm, Döhring, noch bevorstand. Die ausgestopfte Bärin, die uniformierte Pförtnerin, die flachshaarige Polizistin mit dem Revolver, und die toten Arbeiterpuppen an dem künst-lichen Zechenschacht, und vor allem Albert mit seinen gut-mütigen Augen und seinem Vollbart in seiner furchter-weckenden SS Uniform, der wie ein Heiliger es unternommen hatte, das erkannte Döhring jetzt, die Schuld der Menschheit auf sich zu nehmen, sie alle waren ihm nun zu Erinnerungen geworden, und lagen hinter ihm auf seines Lebens Weg. Er fuhr jetzt gemächlich durch die leere Nacht. Viel unerwartetes war an diesem Tage geschehen. Die Menschen die ihm begegnet waren hatten ihn von seinem Vorhaben abgelenkt. Und doch hätte er nicht sagen können was denn eigentlich dies Vorhaben war. Er hatte Dorothea getroffen und Albert, und hatte sie beide schon wieder verloren, und in dieser Hinsicht war er einsamer denn zuvor. Seine Müdigkeit war gewichen und nun sang er sich selbst sein Abendlied, dasselbe welches er von Alberts Stimme drunten auf der Wiese vernommen hatte, das so unvergesslich die Kühle und den Frieden des Abends feiert. Die Dunkelheit offenbarte den Fall Adams, den Fall des Menschen, auch seinen Fall. Die Flachshaarene hatte durchaus recht gehabt ihn zu verdächtigen, denn die wirkliche Missetat war das Gelüsten, und dessen war er schuldig, selbst wenn er keine öffentlichen Gesetze verletzt hatte. Dies war das Menschenschicksal. Der Friedenschluss mit Gott wird möglich indem der Mensch der körperlichen und seelischen Beschrän-kungen seines Daseins, der Sünde und des Todes, inne wird. Am Abend kam die Taube wieder und trug ein Ölblatt in dem Munde, als Zeichen der Versöhnung und des Friedens, als Merkmal der Vergebung nach dem furchtbaren Zorne. Und als er sich erinnerte wie sehr Elsbeth gerade diese Musik geliebt hatte da feuchteten sich seine Augen, und er entschloss sich aufmerksamer auf den Weg zu achten, damit ihm nicht ein Unfall zustieße. * * * * *