Subject: AW: am 12. Januar 2020 From: Cristina Basili Date: 03/13/2020 08:10 AM To: Ernst Meyer Lieber Jochen, Die Gesellschaft in Panik, Universitäten und Schulen geschlossen, Konzerte und Veranstaltungen abgesagt, Krankenhäuser haben Besuchsverbot, Alte und Kranke in kompletter Schutzisolierung, Urlaubsreisen abgesagt, deprimierte Jugendliche, die nicht wissen, was sie jetzt tun sollen, ängstliche Pensionisten, die sich nicht trauen mit den Enkelkindern spazieren zu gehen, Politiker und Wirtschafter, die ausrechnen wieviel ihnen die Krise kosten wird.  Und der Künstler? Was macht der Künstler? Der Künstler freut sich. Denn der Künstler kann jetzt in Ruhe zuhause bleiben und künstlerisch sein. Der Künstler muss jetzt weder reisen noch unterrichten noch irgendwelche Lehrveranstaltungen besuchen. Ja, der Künstler darf zu seiner Freude nicht einmal auf Urlaub fahren. Eine Zeit, in der der Künstler seinen inneren Frieden und sein künstlerisches Schaffen vereinen kann. Eine Zeit, in der der Künstler neben den Dur und Molltonleitern, die ihm in seiner Kindheit eingebrockt wurden, phrygische, mixolydische und lokrische Kirchenmodi auf dem Cello übt, Figmente von Carter erlernt, die Beziehung zwischen der Phrasierung der linken Hand des Klavierparts Beethovens C Dur Sonate für Cello und Klavier und dieser der Cellostimme analysiert, sich für eine Videoaufnahme im Mai vorbereitet, Hesse und Brecht Gedichte liest, neue Kochkreationen ausprobiert und sich Gedanken über Fidelio macht.   Also ich finde den Namen Fidelio ganz interessant. Die Treue kommt als Mann verkleidet, um die Gerechtigkeit zu retten. Man hätte der Oper und der Geliebten auch den Namen “Istinto” oder “Amato” oder “Lucio” geben können. Die Oper ist für mich eine Ode an die Treue zum Wahren, zum Gerechten, an die wahre Liebe.  Ich habe mich nie mit der französischen Revolution beschäftigt, sie hat mich nie interessiert. Mich interessieren generell keine Kriege. Ein Grund, wieso ich im Fach Geschichte in der Schule nie eine bessere Note als ein “Befriedigend” zustande brachte ist, weil ich mir nie merken wollte, wer wann weshalb wieviele umgebracht hat. Ich verstehe, dass Fidelio als Befreiungsoper die Revolution thematisiert, sie wurde schließlich zur Zeit danach geschrieben. Dann stellen Personen wie Rocco als dummer Gefängniswärter die Leute dar, die in der Staatsrangordnung unter den Regierenden bzw. Diktatoren oder Kaisern aber über dem Volk stehen. Zu unserer Zeit wären das glaube ich zum Beispiel Polizisten, zur Zeit des zweiten Weltkriegs die SZ Leute und KZ- Aufseher. Ich weiß nicht, mich interessiert das nicht. Mich interessieren in der Oper meist nur die Musik, die Sprache, die Inszenierung und das Bühnenbild.  Mich würde eher Albert Schweizers Philosophie interessieren, die du aber nur sehr kurz anschreibst. Du schreibst am Ende deines Briefes des 12. Jänners 2020 du hättest nicht viel mehr darüber zu schreiben, aber das kann nicht ganz stimmen. Ich bitte dich nochmals etwas ausführlicher die Philosophie Schweizers zu erklären und wie du dir vorstellst diese als Gerüst für eine Oper zu verwenden. Das kann ruhig ein längerer Brief sein.  Herzlichst, Cristina  Von: Ernst Meyer Gesendet: Sonntag, 12. Jänner 2020 08:06 An: Cristina Basili Betreff: am 12. Januar 2020   Liebe Cristina, wenn ich unmittelbar nach dem Absenden meines letzten Briefes an Dich, mein Schreiben fortsetze, so geschieht dies zum Teil aus Wirtschaftlichkeitsgründen, wegen des fortschreitenden Schwindens meines Gedächtnisses, das es mir zunehmend schwieriger macht, und oftmals unmöglich, was mein Denken heute beschäftigt, morgen ins Gemüt zurückzubestellen. Du tatest recht, als Du mir so unbefangen von meinem möglichen schon Gestorbenseins schriebst. Zwischen Leben und Tod spannt sich eine genau betrachtet sehr weite Brücke, herrlich und wunderbar wie ein Regenbogen. Die Gelegenheit diese Brücke bewusst und besonnen zu überqueren, erlebe ich mit Dankbarkeit als eine große Gnade. Die Erlaubnis sie zu betreten verleiht dem Sterbenden zugleich Erlaubnis sich jenseits vom allem "was die Mode streng geteilt", jenseits von gesellschaftlichem Anstand (political correctness), jenseits von Gut und Böse, auszusprechen, das heißt zu beichten.  Die Beichte ist das klassische, unabdingbar notwendige Sterbensgespräch.  Eine solche Beichte hab ich meinem Versager-Helden in der Krötenrettung, http://ern stjmeyer.ddns.net/kroetenrettung Moritz Möchtegern in den Mund gelegt: MÖCHTEGERN:                             Habe nun, ach, dies einzig mir beschiedene Leben sinnlos vergeudet, zu keinem Nutzen vertan. Werd jetzt vielleicht bestraft für das Bestreben alles zu denken, alles zu sehen und hören,  alles zu wissen und alles zu verstehen.  Ich war entschlossen alles selbst zu machen.  Mit Leidenschaft wollt ich die Welt erkaufen.  Umsonst, alles umsonst. Die einz'ge Frau  die mich jemals geliebt, ist längst verstorben, Kinder sind fort, als wie vom Wind verweht. Was übrig bleibt sind nichts als leere Worte die ich zu keinem als mir selber spreche. So muss ich mir die eignen Lieder singen, und eigene Geschichten mir erzählen. Wie anders sollt ich mir die lange Weile, die Einsamkeit vertreiben? Auch beim Geringsten wollen Kraft und Fähigkeit versagen. Wie stell ich's an, dass mir geholfen wird? Weiß keinen Ausweg als zuletzt zu flehen: Engel vom Himmel kommt mir beizustehen. Dies ist eine beabsichtige Parodie der Verlassenheit von Goethes Faust in seinem Studierzimmer. Als Antwort auf Faustens Flehen erschien Mephisto. Das Flehen von Möchtegern wird mit der Wunschtraumerscheinung der lieblichen und liebevollen Muse Erato erwidert. Größenwahnsinnig wie Möchtegern nun einmal ist, plant er fünf weitere Libretti zu komponieren. Bis eben wollte mir nicht einfallen, was zunächst, in den folgenden Dramen geschehen wird. Jetzt plötzlich weiß ich's. In diesem ersten Aufzug, dient Möchtegerns Gebet die olympischen Heerscharen nicht zur eigenen Rettung, sondern zur Rettung der Kröten herbeizurufen. Dass Erato sich bei dieser Gelegenheit Möchtegerns annimmt und ihm somit seine Rettung zu versprechen scheint, ist ein Karrierenirrtum ihrerseits, ein Irrtum der sich auch von einer irdischen Geliebten berichtigen ließe, der aber von einer berufsmäßigen Göttin deren Laufbahn auf dem Spiele steht, unbedingt korrigiert werden muss.  Wenn es mir gegönnt sein sollte das künftige Erleben meines Versagerheldens weiter zu erzählen, werde ich diesen Irrtum wenn nötig ex machina rechtstellen.  Darüber hinaus möchte ich Dir erklären, woher und wie sich mein Interesse am Opernlibretto entwickelt hat. Als junger Mensch hatten mich Fidelio, die Zauberflöte, und Don Giovanni begeistert. Fidelio wegen des Befreiungstraums, die Zauberflöte mit der harmonischen Verschmelzung von Ideal und Eros, Don Giovanni mit der Verherrlichung des Dämonischen.  Später hab ich viele Stunden mit dem Hören, Lesen und Bedenken auch von Cosi fan tutte und Figaro verbracht. DaPontes geistige Überlegenheit machte und macht mir Spaß.  Schließlich jedoch bleicht DaPontes Zynismus die Genugtuung welche seine Libretti mir bereiten; meine Begeisterung von Mozarts und Beethovens Musik kann nie erschlaffen. Jedoch, je mehr ich die den Opern zugrunde liegenden Dramen bedachte, desto fragwürdiger schienen sie mir, besonders Fidelio. Ist nicht die feige Gefängniswärterei von Rocco, Jaquino, ja, und auch Marzelline, entsetzlich, abscheulich? Besagt die Tatsache, dass es möglich sein sollte dass Rocco aus Pflicht und Feigheit Florestan verhungern lassen, zu quälen und passiv zu töten bereit war, und dies ohne jegliche Zensur von Seiten des edlen am Ende alle und alles rettenden Ministers, ist das nicht vielleicht ein noch schlimmerer seelisch-gesellschaftlicher Missstand als Pizarros tierische Brutalität? Hinterher wandte ich mich zu drei von Richard Strauß vertonten Libretti von Hofmannsthal, Rosenkavalier, Arabella und Ariadne. Als Schriftsteller ist mir Hofmannsthal seit je sehr sympathisch; dennoch lässt, so scheint mir die geistig-seelische Botschaft dieser drei Opern - um die Musik unerwähnnt zu lassen, - manches zu wünschen übrig. Liebe auf den ersten Blick vermag nicht mich zu überzeugen.  Als ich dann von meiner Freundin Gertraud Strangfeld die im Vorwort zitierte Beschreibung der Krötenrettungsaktionen empfing, erinnerte ich Albert Schweizers Philosophie von der Ehrfurcht vor dem Leben, und meinte eine Fügung von verschiedensten ethischen, ästhetischen, gesellschaftlichen und seelischen Gebilden zu erkennen welche vielleicht als Gehäuse und Gerüst für eine Oper dienlich wäre.  Mehr über diesen Versuch hab ich im Augenblick nicht zu sagen.  Vielleicht später. Fortsetzung folgt.  Wie stets.  Jochen