Am 3. April 2020 Liebe Gertraud, Lieber Bernd, Wieder einmal Dank für Euern Brief, und heute Abend bin ich gestimmt, Eure Fragen zu beantworten. Am wichtigsten: Ihr fragtet nach Klemens. Meine Beziehung zu ihm ist unerschüttert und unerschütterlich. Er ist beruflich stark in Anspruch genommen,und unvermeidlich in gefährlicher Weise der Seuche ausgesetzt. Jetzt, während der Quarantäne erfolgen gegenseitige Mitteilungen durch e-mail. Bei Gelegenheit bitte ich ihn mir Lebensmittel zu besorgen welche er mir dann in die Küche bringt und auf den Tresen stellt, ohne dass wir einander begegnen. Vor dem Ausbruch der Seuche, kam Klemens zwei bis fünf Mal jede Woche mich für etwa eine Stunde zu besuchen. Oft mit Geige, und verbrachte dann die Zeit mit Üben. Er beteiligt sich an einem kleinen Orchester; er spielt viel, viel besser, als es mir je gelungen ist. Wir kennen einander so gut, dass wir uns nichts Altes, und nur wenig Neues zu sagen haben. Im Laufe der Jahre ist mir zunehmend klar geworden. dass es vielleicht ein (großer) Fehler war und ist, dass ich ihm die Trennung von mir grundsätzlich vereitelt habe, wo es doch die allgemeine zentrifugale Eigenschaft jeder Familie ist, auseinanderzustreben und sich aufzutrennen. Klemens und ich, hingegen, wurzeln in einer gemeinsamen Vergangenheit, die sich von den nebeneinander liegenden Häusern in Belmont, über Nantucket, Damascus und Konnarock, merkwürdiger und wundersamer Weise, sogar zurück in das vorkriegs Braunschweig erstreckt. Dass meine Schwiegertochter sich von diesem Zusammensein ausgeschlossen fühlt, und mit unverkennbarer Eifersucht darauf reagiert, ist unvermeidlich. Jetzt ist es zu spät meine einstigen Fehler zu berichtigen, selbst wenn ich es wollte, und wenn es überhaupt Fehler waren. Die einzige körperliche Beschränkung von der ich mich wesentlich behindert fühle, ist das Gehen, besonders das Treppen Auf- und Absteigen, und dies nicht als Folge der sich seit Jahren entwickelnden Hüftenvernarbung, sondern wegen einer Schwäche der Muskeln der Oberschenkel und Beine. Diese Schwäche hat sich im Laufe der Jahre entwickelt, ich vermute infolge von Wirbelsäulenveränderungen welche die in die Beine laufenden Nerven erdrücken. Meines Erachtens weder medikamentös noch chirurgisch behandelbar. Unbestimmt ist, was ich zuerst zu erwarten habe: den Tod oder die völlige Lähmung. Ich werde Euch diesbezüglich auf dem Laufenden halten, selbst wenn ich mit den Beinen nicht mehr zu laufen vermag. Wie und ob, ich eine bettlägerige Existenz, wie sie Margaret und meine Eltern monatelang befallen hat, verwinden würde, kann ich mir heute Abend nicht vorstellen, meine aber beobachtet zu haben, dass man sich an alles, auch an das Äußerste, gewöhnt. Über meine geistige Verfassung, wage ich mir kein Urteil. Offensichtlich bietet dieser, unabhängig mit eigenen Fingern in die Tastatur eingegebene Brief, Euch eine Gelegenheit, wenn nicht gar eine Herausforderung zu Euerm eigenen Urteil. Die Fragen um geistige Gesundheit und Krankheit sind für mich, wie ihr wisst, von großem Interesse. Besinne mich lebhaft auf eine Diskussion während meines Medizinstudiums, gelegentlich welcher der amtierende Psychiater seinen Studenten erklärte die Bestimmung von Geisteskrankheit sei ein gesellschaftliches Urteil. Als geisteskrank würde derjenige bezichtigt, dessen geistiges Betragen seinen Mitmenschen nicht (mehr) annehmbar wäre. Inzwischen haben meine eigene Verstehensversuche mich in Bereiche geleitet, wo ich keinen zu finden erwarte, der bereit wäre meine Gedanken nachzuvollziehen. Hab mich verirrt in ein Geisterlabyrinth, von wo ich keinen Ausweg finde, in das vermeintliche Verständnis der Zeit als ein unaufhaltsames Fließen, ohne Anfang, ohne Unterbrechung und ohne Ende, in das vermeintliche Verständnis des gegenwärtigen und vergangenen Erlebbaren und Erlebten nicht als "Wirklichkeit", sondern als unerkannte Dichtung, als Mythos. Derweilen beschäftigt mich der Versuch diese Einsichten in Unsinn mittels von "Sonetten an Chronos" darzustellen. Sollte ich damit zu einem befriedigenden Beschluss kommen, beabsichtige ich sie an meinem Netzort unter der Rubrik, "Gedichte aus der Umnachtung", aufzubewahren. Inzwischen, als Nachwort, dies aus der bestehenden Sammlung: Und Ich bin doch nicht Ich Die wichtigste Erkenntnis: Ich bin Ich. Denn wär ich nicht mehr Ich so brächt man mich im weißen Zwangsjackett nach Königslutter und die Sonetten wären Ofenfutter. Und doch, bedenk ich's recht, stell ich die Frag' ob die Vernunftbehauptung “I exist” vielleicht von dem Verrückten das ich sag, möglicherweis' das meist Verrückte ist. Denn vormals trauert ich um die Geliebte, und heute seh ich Seinen Willen klar, Verstehe jetzt was gestern mich betrübte die gottgesandte Schicksalswende war. Dass heute gestern sollte sein ist Lüge. Verzeiht mir wenn ich mich und euch betrüge. XXXXXXXXXXXXXXXXXX Herzliche Grüße und Wünsche, dass Ihr gesund, zufrieden, und vielleicht sogar glücklich sein möchtet. Euer Jochen