hae Verfolgung und Entrechtung der Juden in Braunschweig 1933 bis 1939 und deren Bedeutung fuer die Familie Dr. Heinz Meyer Zusammenstellung von _ Katharina Pabst und Jessica Lewandowski mit Kommentar (==>) von Jochen Meyer. ==> Ich gebe zu, dass es moeglich ist, dass ich im Rueckblick das was meine Eltern durchgemacht haben verniedliche und herabsetze, dass ich es als weniger schrecklich und lebensgefaehrlich hinstelle als es wirklich war. Dergleichen Schmaelerung moechte dann vielleicht als eine Vernarbung, als ein Vorgang des Heilens betrachtet werden, oder als eine Verschoenerung die das Leben erst ertraeglich macht. ==> Ich will nicht unterstellen, dass meine Eltern und meine Schwester nicht unter dem Nazi-Terror gelitten haben. Ich erklaere nur, dass ich persoenlich seine Folgen in meinem Leben meine ausgeglichen, verarbeitet, ueberwunden zu haben. ==> Objektiv betrachtet, wenn wir, am 1. Dezember 1938, vor die Wahl gestellt waeren die kommenden acht Jahre in Amerika zu verbringen in der Weise wie es geschehen ist, oder andererseits in Deutschland als "Vollarier" zu bleiben, und das zu erleben, zu dulden und zu leiden was die nicht-juedische deutsche Bevoelkerung hat durchmachen muessen, waeren wir nicht wahnsinnig gewesen in Deutschland zu bleiben? Hat sich unser Judentum nicht als ein Segen erwiesen? 28.03.1933 Aufruf zum Boykott juedischer Aerzte, Anwaelte, Kaufleute, Waren. Aufruf zum Ausschluss juedischer Schueler vom Unterricht. Fuer Familie Meyer bedeutet dies, weniger Einkommen, da Patienten wegblieben. Die Kinder werden von Zukunftsaengsten geplagt da sie ohne schulische Bildung leben muessen und ihre Mitschueler nicht mehr treffen koennen. (Ausgrenzung) ==> So viel ich weiss, gedieh meines Vaters Praxis auch nach 1933. Als wir in die Schleinitzstrasse umzogen, kauften meine Eltern elegante neue Moebel und Perserteppiche. Unsere geraeumige Wohnung von welcher drei Zimmer fuer die aerztliche Praxis bestimmt waren wurde tagein tagaus von wohlgesinnten, dankbaren Patienten besucht. Jedes Jahr machten wir im Monat Juni vier Wochen Urlaub in Wenningstedt auf Sylt wo meine Mutter nach einem Grundstueck fuer den Bau eines kuenftigen Ferienhauses umschaute. Der Flecken in den Duenen zwischen Wenningstedt und Westerland den sie sich ausgesucht hatte, wurde hinterher, so behauptete meine Mutter, von Reichsminister Goering erworben. 1936 war das erste Jahr in welchem wir, wegen der politischen Lage, nicht nach Sylt fuhren. ==> Meine Erklaerung fuer unser verhaeltnismaessiges Wohlergehen ist 1) dass meine Mutter nicht-Juedin war, und somit meinen Vater allenfalls im Anfang der Verfolgung wie ein Schild vor den herbsten Konsequenzen des Terrors schuetzte. 2) dass meinen Eltern ein gewisses Charisma (im Sinne Max Webers) anhaftete, eine Haltung die ein ungewoehnliches Vertrauen zwischen Arzt und Patient bewirkte. Es ist mein Eindruck, dass sich unter den Patienten meines Vaters bis zum Ende seiner Taetigkeit, viele Beamten, etliche Polizisten und auch einige Mitglieder der Gestapo befanden und dass deshalb in den Anfangsjahren der Verfolgung, er und seine Familie von den Behoerden verhaeltnismaessig nachsichtig behandelt wurden. 22.04.1933 Taetigkeit von Aerzten nicht-arischer Abstammung wird beendet durch Verordnung ueber die Zulassung vn Aerzten zur Taetigkit bei den Krankenkassen. Fuer Familie Meyer heisst dies nun endgueltig dass sie weniger Geld zur Verfuegung haben werden. ==> In Deutschland hatten wir keine Geldnot. Erst in Amerika waren wir ploetzlich arme Leute. Ich stehe unter dem Eindruck, dass mein Vater bis fast zuletzt, emsig arbeitete und ein mehr als genuegendes Einkommen hatte. Damals war die Sparsamkeit meiner Eltern Ausdruck nicht der Not, sondern einer buergerlichen Tugend. Als mein Vater schon in Amerika war, und es offensichtlich wurde dass die Nazis unser Geld beschlagnahmen wuerden, verfluechtigte sich meiner Mutter Sparsamkeit. Sie kaufte sich, unmittelbar vor der Auswanderung mit ihren Kindern, sehr elegante Kleidung, einen Pelzmantel, ein mit Brokat besticktes schwarzes Abendkleid, und ein zweites aus glaenzend silberner Seide. Noch nie hatte ich dergleichen gesehen. Dann buchte meine Mutter die Ueberfahrt, da sie in Reichsmark, die wir ohnehin verlieren wuerden, bezahlt werden musste, auf dem Dampfschiff "Hamburg" der HAPAG in zwei Kabinen erster Klasse, die eine fuer sich selber, die zweite fuer meine Schwester und mich. Nie vorher und nie nachher hab' ich in solchem Luxus geschwelgt. Am 31. Maerz 1939, als sie den ersten Schritt auf amerikanischen Boden tat, wurde meine Mutter, mit einem Schlag, eine arme Frau. Sie musste sich alsbald eine Stelle als Dienstmaedchen suchen! Aber wir waren frei! Die teuren Kostueme wirkten spaeter, in den Hinterwaeldern Virginias, bizarr und komisch, - aber wohl nur auf mich; denn die verarmten Einheimischen bewunderten die Spuren eines Luxus den sie nie geahnt hatten. Erst heute frage ich mich, zum ersten Mal, weshalb meine Mutter das Geld das sie zuletzt in einem Schwall von Verschwendung vergeudete, nicht lieber ihren getreuen und keineswegs wohlhabenden Angehoerigen haette schenken sollen. Moeglicherweise durfte sie auch das nicht. Ausserdem waren es fuer meine Mutter Monate von Angst und Verzweiflung, Gemuetszustaende die vielleicht ein Schwinden der Urteilskraft nach sich zogen. ==> Ich besinne mich, dass mein Vater sich zuweilen ueber die Anordnungen der Krankenkassen beklagte, bin aber unter dem Eindruck dass dies nichts mit der nazistischen Rassenpolitik zu tun hatte. Den Geschichten meiner Mutter, - und sie liebte es Geschichten zu erzaehlen, - entnahm ich, dass meinem Vater die Approbation als Arzt schon 1934 entzogen werden sollte, - worauf sich meine Mutter in den D-Zug nach Berlin begab zu einer Verhandlung mit Reichsarbeits- minister Seldte, dessen Bekanntschaft sie bei einem Tanz gemacht haben sollte. Dies nach Bericht meines Sohnes. Woher er es hat, weiss ich nicht. Jedenfalls wurde meinem Vater, auf Grund seiner militaerischen Dienste im 1. Weltkrieg - er war Kraftwagenfahrer in der deutschen Armee in der Tuerkei und in Syrien - die Praxisapprobation damals noch nicht entzogen. In diesem Zusammenhang ist meines Vaters Briefwechsel mit Albert Pein von Interesse. 25.04.1933 Nicht-arische Schueler duerfen einen gewissen Anteil von Schuelern an Schulen nicht ueberschreiten. Meyers Kinder duerfen moeglicherweise nicht mehr zur Schule gehn weil sie nicht "arisch" sind. Ausgrenzung und Diskriminierung der Schueler. ==> Meine eigene Einschulung in der 8. Klasse (so rechnete man damals) der Pestalozzischule geschah, wenn ich mich recht besinne, um Ostern 1936. Ich vermute meine Schwester Margrit, die 22 Monate aelter war als ich wurde 1935 oder auch schon 1934 eingeschult. Ich weiss es nicht mehr. Mein Lehrer Walter Hirsekorn und meiner Schwester Lehrer A. Grunenberg und ihre Lehrerin Marianne Trinne waren ruehrend gut zu uns, ein Verhalten das ich separat beurkunden moechte. Ich meine mich auf nur zwei Gelegenheiten zu besinnen wo die Aufsicht der Lehrer in der Pause fehlte und meine Schulkameraden sich anstellten mich als volksfeindlichen Juden zu verpruegeln. Ich stehe unter dem Eindruck die Lehrer haetten solche Misshandlung nicht zugelassen. In den besagten Krisen stellte ich mich mit dem Ruecken gegen die naechste Mauer so dass sie mich nicht von hinten angreifen konnten, und blickte meinen Gegnern in die Augen. Sie verloren den Mut und wichen. Ich urteile jetzt, dass ich in diesen Situationen keiner besonderen Verfolgung ausgesetzt war, und dass ich den Streitigkeiten auf dem Schulhof, in Amerika wie in Deutschland, glimpflich entkommen bin. Ich will nicht leugnen, dass meine Schwester und ich uns der allgemeinen Verfolgung bewusst waren. Dies Bewusstsein vertiefte und verstaerkte unsere Beziehungen zu einander und zu unseren Eltern. Wir empfanden uns ausgewaehlt und geehrt und haetten uns nie beklagt. Wie Nietzsche gesagt hat: Was mich nicht umbringt macht mich staerker. 14.11.1934 Juden hatten kein Stimmrecht in politischen Angelegenheiten. Familie Meyer darf nicht an Abstimmungen teilnehmen, selbst wenn es in der Diktatur praktisch keine gab. ==> Ich entpuppe mich hier als verantwortungsloser Buerger, bin aber auch heutzutage aus rechts-technischen Gruenden "Buerger" des Staates Virginia, habe in Massachusetts zur Zeit kein Wahlrecht, finde aber trotzdem reichlich Gelegenheit konstruktiven Einfluss auf die oeffentliche Ordnung auszuueben. 06.09.1935 Verbot juedischer Zeitungen im Stassenhandel Um eine Zeitung zu bekommen, muss Familie Meyer immer in Laeden gehen Dies ist gefaehrlich, weil sie als Juden erkannt werden koennen. ==> Dass es ueberhaupt juedische Zeitungen gab erfuhr ich erst nachdem ich jahrelang in den USA gelebt hatte. Obgleich meiner Eltern Bekanntenkreis wesentlich aus juedischen Aerzten und Gelehrten bestand, und meiner Schwester Busenfreundin in Deutschland, die kleine Rita Ziprkowski von der Wendenstrasse, Juedin war, hatten wir zu der juedischen Gemeinde in Braunschweig keine Beziehung. Infolge seiner Ehe mit meiner Mutter, einer Nicht-Juedin, war mein Vater aus der juedischen Studentenverbindung der er zur Zeit seines Studiums angehoert hatte, ausgewiesen. ==> Mein Vater kaufte sich von Zeit zu Zeit ein Exemplar der Frankfurter Allgemeinen, meine Eltern abonnierten die Braunschweiger Zeitung, - ich glaube sie hiess damals die Braunschweiger Allgemeine, - weiss es aber nicht mehr. Meiner Schwester und mir wurde, um uns vor den politischen Besorgnissen zu schuetzen, das Lesen der Zeitung untersagt. Meine Eltern aber, die im Grunde frugale Leute waren, sparten an Klosettpapier indem sie die Zeitung verzettelten und zusammengeheftet von einem Haken neben der Toilette baumeln liessen. So informierten meine Schwester und ich uns unter den passendsten Umstaenden ueber das entsetzliche Weltgeschehen. ==> Unserm Mietshause gegenueber, an der Haltestelle der Strassenbahn No. 1, wo sie in Richtung Hagenmarkt und Rathaus Pause macht war eine Tafel wo, unter Glas, Julius Streichers Stuermer die neusten Judenverfolgungen verkuendigte. Es war der Ort wo meine Schwester und ich auf dem Weg zur Schule die Muehlenpfordstrasse ueberquerten. (Hatte sie schon damals diesen Namen? Als Kind stand ich unter dem Eindruck es war eine Fortsetzung der Wendenstrasse die sich bis zum Rebenring erstreckte.) Hier lasen wir den Stuermer. Aber er machte uns keine Angst. Wir wussten: es war nichts als das Gehetze boeser Menschen. 15.09.1935 Reichsbuergergesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre (Nuernberger Gesetze grenzen die Juden immer weiter aus der Gesellschaft aus) Herr Meyer, seine Frau und seine Kinder haben keine Rechte als Staatsbuerger mehr. ==> Frau Winter, eine Patientin meines Vaters, war empoert, dass es ihr untersagt sein sollte weiterhin in unserer Wohnung zu erscheinen um meiner Mutter mit der Hausarbeit zu helfen. Aber wir fuegten uns den Gesetzen. Eheschliessungen zwischen Juden und Nicht-Juden sind verboten. Trotzdem geschlossene Ehen sind nichtig. Es muss sehr verletzend und belastend gewesen sein, wenn sich im Verwandten- oder Bekanntenkreis der Familie Ehepartner vielleicht trennen mussten. ==> Ich bin unter dem Eindruck dass bisher geschlossene Ehen zwischen Juden und Nichtjuden, wie im Falle meiner Eltern zu jener Zeit jedenfalls noch nicht angetastet wurden. Ich weiss, dass man damals meiner Mutter riet, sich scheiden zu lassen, einen Rat auf den sie mit herablassendem Laecheln reagierte, denn sie war stolzer auf ihr angeheiratetes Judentum als irgendeine Juedin es haette sein koennen. Noch vor zwei oder drei Jahren antwortete mein Enkel Nathaniel seinen Verleumdern als sie ihn im fortschrittlichsten Massachusetts als einen "Jesuskiller" schalten, "You're just jealous. It's because we do everything better than you." 29.06.1936 Juden duerfen keine Hilfeleistung in Devisensachen leisten. Auswanderung sollte erschwert werden. Verbot fuer Familie Meyer, Geld ins Ausland zu ueberweisen zur Vorbereitung der Auswanderung ==> Ich meine mich zu besinnen, dass diese Bestimmungen meine Eltern beschaeftigten und belasteten. 02.07.1937 Es sollen besondere Schulen und Sammelklassen fuer juedische Schueler eingerichtet werden. Die Kinder muessen vielleicht die Schule wechseln wenn sie bisher noch an ihrer alten Schule waren, und zu einer speziellen Schule/Klasse nur fuer juedische Schueler gehen. Menschenunwuerdige Ausgrenzung der Kinder. ==> Meiner Mutter gemaess, weil meine Schwester und ich "nur""Halbjuden" waren, stand es ihr frei uns in eine der neu eingerichteten juedischen Schulen statt der Volksschule zu schicken. Da aber Herr Hirsekorn und Herr Grunenberg und Fraeulein Trinne uns in der Pestalozzischule mit so grosser Liebe betreuten, meinten wir dort besser aufgehoben zu sein als irgendwo anders. 06.02.1938 Keine Steuerermaessigung fuer Kinder von Juden. Die Familie muss hoehere Steuern zahlen Ungleichbehandlung. ==> Zu dieser Zeit waren wir schon derartig auf Auswanderung eingestellt, dass diese Verordnung kaum einen Unterschied zu machen schien. 19.05.1938 Verordnung zur Personenbestandsaufnahme in Personenbestandbuechern Meyers werden in Personenstands Buecher eingetragen so dass jeder erkennen kann, dass sie "nicht-arisch" sind. ==> Meine Schwester und ich waren stolz auf unser "Halbjudentum"; meine Schwester bis zum Tag ihres Todes vor sieben Wochen, und ich noch heute. Von Zeit zu Zeit habe ich mich geschaemt nicht Volljude zu sein, aber zuletzt dann doch nur im Sinne Baruch Spinozas, dem das juedische Dogma auch nicht ganz geheuer war, am liebsten ein voellig freier Mensch wie mein Vorbild, Lessing. 23.07.1938 Kennkartenzwang als Hinweis auf die Eigenschaft als Jude. Familie Meyer wird gezwungen Kennkarten zu tragen, damit jeder erkennen kann, dass sie juedisch sind. ==> Hiervon weiss ich nichts weiter als dass meines Vaters Reisepass mit einem rosanen "J", gestempelt wurde, welches der zustaendige Beamte mit der Bemerkung kommentierte: "Nun reisen Se mit Jott." 25.07.1938 Juedische Mieter muessen gemietete Arztrueume/Praxen kuendigen. Approbationen juedischer Aerzte erloeschen am 30.09.38. Meyer besass einen Arztraum/eine Praxis, die er kuendigen muss. Dr. Meyer darf nicht mehr praktizieren (Berufsverbot). Keinerlei Einkommen mehr. ==> Das Berufsverbot war fuer unsere Familie die entscheidende Verordnung die uns zur Auswanderung zwang. Sie hat uns das Leben gerettet. Ich habe die starke Vermutung, dass meine Eltern die Entscheidung auszuwandern im Fruehjahr 1938 getroffen hatten, weiss es aber nicht. 17.08.1938 Verordnung zur Aenderung von Familien- und Vornamen Ab 1. Januar 1939 muessen Dr. Meyer und Jochen zusaetzlich den Vornamen Israel annehmen, Marga und Margrit den Vornamen Sara. Sie werden nicht gefragt, ob sie das wollen oder nicht. ==> Meinem Vater war diese Namensaenderung erspart, denn er war seit dem 15 Dezember 1938 in New York. Meiner Schwester und mir, moeglicherweise, weil wir nur "Halbjuden" waren, obgleich der Namen "Israel" mir klanglich zusagt und ich auch heute noch bereit bin ihn mir zuzulegen. Meine "arische" Mutter, als Margarete Wilhelmine Roessner getauft, hatte ein feines Ohr und guten Geschmack, und war von ihrem schwulstigen Vornamen beleidigt. Sie kuerzte Margarete zu Marga, und liess Wilhelmine fahren. Sara, finde ich ist ein schoenerer Name noch als Marga. 05.10.1938 Reisepaesse von Juden, die sich im Reichsgebiet aufhalten werden ungueltig. Ein J wird in den Pass gestempelt. Familie Meyer hat ohne Paesse keine Identitaet mehr Sie hat ueberhaupt keine Reisefreiheit mehr. 09/10.11.1938 Pogromnacht, hunderte von juedischen Menschen in Deutschland getoetet. 30.000 Juden festgenommen/ Dunkelziffer ist hoeher. Juedische Geschaefte und Wohnungen gepluendert. Synagogen in Brand gesteckt. Dr. Meyer wird verhaftet und ins Gefaengnis nach Wolfenbuettel gebracht. Moeglicherweise wurde die Wohnung der Familie auch gepluendert und zerstoert. ==> In der Kristallnacht des 9. November 1938 ist unsere Wohnung verschont geblieben, wahrscheinlich wegen der "arischen" Abstammung meiner Mutter. Die Nazis haben aber die Zerstoerung unserer Moebeln nachgeholt. Als die grosse Kiste (der Liftvan, the container) in welcher all unsere Moebeln, Teppiche, Buecher u.s.w. verpackt waren vom Dampfer Kolumbus in ein kleines Boot ausgeladen wurden, haben die Nazis die ganze Kiste in den New Yorker Hafen getaucht so dass im Laufe des heissen Sommers das gaerende Salzwasser Holz und Stoffe und Buecher zerstoerte. Als der Liftvan am 13. Oktober 1939 in Bereitung zum Versand nach Virginia geoeffnet wurde, war der groesste Teil unserer Sachen verdorben und musste auf der Stelle verbrannt werden. Wir Kinder aber, und unsere Eltern haben die Auswanderung ueberlebt. ==> Meine Erinnerungen an den Herbst und Winter 1938 gehen sehr ins Einzelne. Ich sollte annehmen, meine Eltern haetten uns, meine Schwester und mich, einige Wochen oder Monate vor dem 25 Juli 1938, als die Entziehung der Approbation fuer juedische Aerzte endlich bekannt gemacht wurde, auf unsere bevorstehende Ausreise vorbereitet. Ich habe bis jetzt keine Urkunde gefunden der zu entnehmen ist, in welchem Monat sie den Entschluss getroffen haben. Meine Schwester und ich bekamen, in Aussicht auf unsere Auswanderung, Englisch-Unterricht bei einem Fraeulein Morawitz. Auch mein Vater hatte Englisch-Stunden. Die allgemeinen Vorbereitungen fuer due Ausreise, die Unbestimmtheit der Umstaende im neuen Lande, auf die wir uns gefasst machen mussten, lasteten wie Gewitterwolken auf den schwuelen Tagen. Unsere Radtouren mit den Frielinghaus Kindern waren von der Gewissheit bedrueckt: Nur noch geraume Zeit. Bald nicht mehr. ==> Inzwischen bereiteten auch meine Eltern sich auf unsere Auswanderung vor indem sie eine letzte Reise durch das Deutschland das sie so liebten veranstalteten. Waehrend meine Schwester und ich bei unseren Grosseltern in Berlin-Nikolassee aufgehoben waren, fuhren meine Eltern mit dem Auto nach Bamberg, nach Wuerzburg, ins Taubertal, zu den Riemenschneider Schoepfungen in Creglingen und in der Jakobskirche in Rothenburg, nach Dinkelsbuehl und Nuernberg, und zurueck zu den von ihnen so bewunderten Kaiserdomen in Speyer, Worms und Mainz, von dort ins Rheinthal nach Assmannshausen, und dann zurueck, nach Braunschweig. ==> Auf der Autobahn bei Giessen hatten sie einen Unfall. Ein tauber oder fast tauber Mann hatte sich auf die Autobahn verirrt, vermochte nicht das heranrasende Fahrzeug zu hoeren, trat in die Fahrbahn vor, oder stiess gegen, den schnell fahrenden Wagen und wurde von meinem Vater mit seinem Auto toedlich verletzt. Von strafbarer Schuld war keine Rede, die Anwesenheit von Fussgaengern auf der Autobahn war damals so wenig erlaubt wie heute. Meines Vaters Haftpflichtversicherung genuegte jegliche Geldansprueche zu begleichen. Aber meines Vaters Reisepass wurde dennoch gesperrt. Im November 1938, war der Pass noch nicht frei gegeben. Mein Vater war im Konzentrationslager und konnte sich nicht helfen. Meine Mutter reiste zur Staatsanwaltschaft nach Giessen, bat, bettelte, beschwor den Staatsanwalt mit Androhungen himmlischer Strafe, - und zuletzt, fast wie ein Wunder, wurde der Pass rechtzeitig zu der Abfahrt am 7. Dezember freigegeben. ==> Am 9. November 1938, am Tag des Pogroms, waren meine Eltern, meine Schwester und ich im amerikanischen Konsulat in Hamburg zu aerztlicher und psychologischer Bewertung und anderen Verhandlungen im Zusammenhang mit der Ausstellung von Visa vorgeladen. Wir uebernachteten bei meinem Onkel Walter, dem Bruder meiner Mutter in Hamburg Hoheneichen, und kamen nachmittags, Donnerstag am 10. November zum Hauptbahnhof in Braunschweig zurueck. Die Schlagzeilen der Zeitung verkuendeten das entsetzliche Geschehen. Mutmassend dass meine Vater umgehend wuerde festgenommen werden und unwissend ob auch unsere Wohnung in unserer Abwesenheit zertruemmert worden war, telephonierte meine Mutter an ihren anderen Bruder Hans in Berlin-Nikolassee, er moege meine Schwester Margrit und mich am Potsdamer Bahnhof in Berlin in Empfang nehmen. Der D-Zug nach dort stand auf dem naechsten Gleise zur Abfahrt bereit. Meine Mutter kaufte die Karten, gab meiner Schwester und mir karge und krampfhafte Erklaerung und Anweisung, schickte uns ins Abteil Zweiter Klasse. Der Zug setzte sich in Bewegung. Wir winkten und weinten vielleicht auch ein bisschen und waren auf dem Wege nach Berlin. ==> Die Entscheidung welche mein Vater damals auf dem Bahnsteig des Hauptbahnhof traf, hat die neuenundvierzig Lebensjahre die ihm noch blieben, unabaenderlich gepraegt. Man hat in den Nachkriegsjahren den Juden in den Konzentrationslagern vorgeworfen dass sie keine Widerstandsversuche angestellt haetten, dass sie sich ohne Widerstand in die Gaskammern haetten schieben lassen, und im Geiste dieser Vorwuerfe habe ich mich manchmal gefragt, ob meines Vaters Entscheidung an jenem Tage die richtige war. Er hat sie oft erwaehnt, hat oft bekannt, dass er damals ueberlegt und besonnen in die Schleinitzstrasse zurueck gefahren ist, obwohl er alle Gruende hatte anzunehmen, dass man ihn abholen und ins Konzentrationslager verschleppen wuerde. In diesem Moment hat sein Erleben eine religioese Wendung genommen deren Bedeutung fuer ihn im Laufe der Jahre nur zugenommen hat. Was ihm bevorstand wurde ihm leichter mit der Vorstellung dass er sich somit in sein Schicksal, dass er sich in Gottes Willen fuege, ein innerer Kampf und eine Entscheidung die er in der Vorstellung Gethsemane zusammenfasste. Vater, ist's moeglich, so gehe dieser Kelch von mir; ich trinke ihn denn, so geschehe Dein Wille. Der Weg ins Konzentrationslager war fuer meinen Vater die bewusste Nachfolge, die Imitatio Christi. ==> Es besteht fuer mich keine Frage, dass die religioese Deutung seines Erlebens es meinem Vater erleichtert hat, vielleicht sogar, dass er es nur unter einem religioesen Gesichtspunkt hat ertragen koennen. Die abschaetzige Deutung waere, dass er ein schwacher, ein furchtsamer Mensch war der sich den Behoerden fuegte, dass er den Behoerden gehorchte, und dass er den Behoerden, selbst in ihrem Bestreben ihn zu vernichten, Beistand leistete. ==> Um der Situation meines Vaters, und um meinem Vater gerecht zu werden, ist es notwendig sich die besonderen Umstaende auszumalen, vor die er sich gestellt fand. Es ist nicht, als ob ihm ein Versteck bereit zur Verfuegung stand, eine Herberge in die er haette fluechten koennen. Die eigne Wohnung war ihm eine Falle. Dort konnte er sich nicht verbergen. Das einzige Versteck war in Berlin: seine Schwiegermutter Berta Schwarz und ihr Mann Karl haetten ihn aufgenommen, vielleicht die Halbbrueder seiner Frau, Hans Schwarz in Nikolassee und Walter Schwarz in Hamburg. Aber welche Kosten, welche Gefahren fuer die Angehoerigen die er vielleicht mit seinem Versuch die eigene Abfuehrung ins KZ aufzuschieben, denn sie entgueltig zu verhindern bestand keine Aussicht, ins Unglueck stuerzen wuerde! Statt zu verlangen das jene sich fuer ihn ins Unglueck wagten, hat mein Vater hat sich fuer die Angehoerigen seiner Frau geopfert. Um seine Familie zu schuetzen, hat er sich an diesem Tage den Nazis ausgeliefert. Das war der Grund weshalb er am 10. November in die Schleinitzstrasse fuhr, und nicht nach Berlin. Ich habe keinen Ursache anzunehmen, dass mein Vater sich jemals bewusst geworden ist, dass seine Entscheidung am 10. November in die Schleinitzstrasse zurueckzukehren ein Opfer des eigenen Leibes, und ein Triumph des eigenen Gewissens war. ==> Ich weiss nicht wie lange meine Schwester und ich in Berlin bei meinen Grosseltern verweilten, ich denke kaum eine Woche. Dessen was dann geschah bin ich nicht sicher. Habe aber die starke Vermutung dass es nicht meine Mutter war die nach Berlin kam uns abzuholen, sondern dass meine Grossmutter uns nach Braunschweig brachte, und dass sie in Braunschweig blieb uns zu betreuen. Meine Mutter war stark beschaeftigt mit den Vorbereitungen fuer meines Vaters Auswanderung, sobald er aus dem KZ entlassen wuerde, und mit der Freigebung des Passes, ein Zweck zu welchem sie ein oder mehrere Mal zur Staatsanwaltschaft nach Giessen reiste, aber mit der Bahn. ==> Eines Tages war mein Vater wieder zurueck. Die Einzelheiten unserer Erwartung seiner Reckkehr habe ich laengst vergessen. Besinnen tue ich mich auf die Szene wie wir uns zuerst wiedererkannten. Er sass an dem Esstisch aus hoch poliertem dunklem Walnussholz im sogenannten Herrenzimmer, aber nicht an seinem gewoehnlichem Platz mit dem Ruecken gegen den Schreibtisch der vor dem Fenster stand, sondern mit dem Ruecken gegen die Tuer zum Flur, die geschlossen war, auf dem Platz wo Mutti gewoehnlich sass. Ich war erschrocken ihn zu erkennen: Sein Kopf war kahl geschoren, als ob er verletzt war. Margrit und ich hatten ihn noch nie so gesehen, aber wir kuessten ihn umso inniger. Was mit ihm geschehen war, wurde weder von ihm noch von Mutti erwaehnt. Es bedurftes aber keiner Erklaerungen, dass etwas nicht stimmte. Es war mir unverkennbar: die Welt war in groesster Unordnung. ==> Der Esstisch im Herrnzimmer war zur Seite gerueckt worden, Vorm Buecherschrank war ein grosser Rohrplattenkoffer fuer Ueberseereisen aufgebahrt wie ein Sarg zur Bestattung unserer Traeume und Hoffnungen. Von Tag zu Tag stieg der Pegel seines Inhalts. Auf Einzelheiten besinne ich mich nicht, aber meiner Mutter Erzaehlung ist mir unvergesslich. Zwei Beamten waren bestellt den grossen Koffer zu versiegeln, einer vom Zollamt, der andere von der SS. Der Zollbeamte erschien eine Stunde verfrueht. "Wo haben sie die Wuerste?" forderte er, "Ihr Mann muss doch in Amerika was zu essen haben." Das Dienstmaedchen wurde geschickt die Wuerste zu besorgen und die Wuerste wurden verpackt. Und nun die Seife, sagte der Zollbeamte. Ich schneide sie nicht durch. Weiss wie man so was macht. Hab's waehrend des Krieges auch getan. Also her damit. Und auch die Seife wurde zwischen die Waesche geschoben. Der Beamte verschloss den Koffer und versiegelte ihn, endgueltig, unwiderruflich. Kurz darauf erschien der SS Mann. "Heil Hitler, Genosse meiner Schmach. Du kommst zu spaet. Alles schon fertig. Fix und fertig. Alles erledigt." Mit diesen Worten winkte er seinem Kameraden, dass sie die Wohnung verliessen. ==> Tatsaechlich enthielt die verpackte Rasierseife zwei Goldstuecke. Zwar nicht von uebermaessigem Wert, aber wertvoll genug, dass bei Entdeckung, man meinen Vater umgehend ins Konzentrationslager zurueckgebracht haette, sicherlich dieses Mal dort umzukommen. Bisher habe ich diese tollkuehne Tat nur als willkuerliche Schmaehung der Behoerden gedeutet. Heute meine ich sie als einen Beweis meines Vaters sich selbst gegenueber, dass er kein Feigling war, und dass es nicht Feigheit gewesen war, sich den Behoerden zur Inhaftierung in Buchenwald auszuliefern. Zugleich aber erkenne ich es auch als eine Selbstmordgeste der Verzweiflung. ==> In Deutschland haben meine Eltern fuer den Notfall Zyanidkapseln in Bereitschaft gehalten, ohne dass ich je den Ort der Aufbewahrung gewusst habe. Als mein Vater 1986 mit Schuettellaehmung (Parkinsonssche Krankheit) bettlaegrig geworden war, fand ich ein Flaeschchen mit Zyanidkapseln in seiner Nachttischlade. Eines nachmittags als er schlief, warf ich die Kapseln ins Klosett und zog. Dann fuellte ich das Selbstmordflaeschchen mit Vitaminen. Weder mein Vater noch meine Mutter haben das je erfahren. ==> Am 6. Dezember 1938 fuhren meine Schwester, meine Mutter und ich mit meinem Vater nach Hamburg. Wir uebernachteten bei meinem Onkel Walter, meiner Mutter Bruder. Am naechsten Tag kamen meine Grosseltern aus Berlin, und wir sechs fuhren in einem Sonderzug nach Bremerhaven. Normalerweise waere meines Vaters Schiff von Hamburg ausgelaufen. Man munkelte wegen der Kriegsvorbreitungen dort war der Ausgangsort nach Bremerhaven verlegt. Ich erinnere es als einen grauen Tag. Dichte Wolken beschatteten die flache Oldenburger Landschaft. In Bremerhaven wurde mein Vater einer letzten Zollinspektion unterzogen. Man wies ihn in eine besondere Abteilung, und indem ich es berichte spuere ich heute noch einen Hauch der damaligen Angst, er wuerde uns im letzten Augenblick noch entrissen. Mit einer Hoeflichkeitsgeste aus anderen Zeiten, erlaubte man meiner Mutter, meiner Schwester und mir, ihn auf sein Schiff zu begleiten, - aber es waren nur Augenblicke in denen wir vier auf einem unteren Deck einander ein letztes Mal umarmten und kuessten. Margrit, meine Mutter und ich gingen an Land, und warteten die geraume Zeit bis das Schiff, - es war die Hansa der Hamburg Amerika Linie, vom Kai entbunden, sich unerbittlich majestaetisch in die Wesermuendung hinaus bewegte. ==> In den folgenden Wochen blieb, um meiner Mutter die Zeit und Kraft zu den verwickelten Vorbereitungen fuer die Aufloesung des Haushalts zu ermoeglichen, unsere Grossmutter in Braunschweig uns Kinder zu betreuen, Ich machte auf eigene Faust, Abschiedsrundgaenge durch Braunschweig. Ich besuchte die Kirchen und die Friedhoefe die den Kirchen nebengelagert waren und las und merkte mir die Inschriften auf den Grabsteinen, wie zum Beispiel: "Es ist gewiss in Gottes Rat, dass man vom Liebsten das man hat, muss scheiden." Ich zitierte diese troestende oder trostlose Einsicht in einem Brief, den ich kuerzlich wiederfand. "Ist es nicht auch fuer uns geschrieben, die wir unser geliebtes Deutschland verlassen muessen?" oder so etwa schrieb ich an meinen Vater. ==> Weihnachten 1938 verbrachten wir in Berlin-Nikolassee mit meinen Grosseltern. Es war das erste Mal das wir Weihnachten nicht in Braunschweig gefeiert hatten. Ein Telephongespraech mit meinem Vater in New York war ein grosses Ereignis. Meine Mutter schenkte mir einen Fuellfederhalter in einer Mont Blanc Schachtel. Das Geschenk selbst aber entbehrte den Wellenstern, und ich fuehlte mich benachteiligt, war aber alt genug zu wissen, dass es in diesem Jahr weit wichtigeres gab als einen echten Mont Blanc Federhalter. Ausserdem bekamen meine Schwester und ich je ein paar Rollschuhe fuer welche wir spaeter, auf den ungepflasterten matschigen Feldwegen in den Hinterwaeldern von Virginia, kaum Verwendung hatten. ==> Meines Vaters Taetigkeit als Missionarsarzt fuer the Board of of American Missions of the United Lutheran Church in America war nicht ohne Vorbereitung. Schon in Deutschland, als uns die Auswanderung drohte, beschaeftigte mein Vater sich mit der Vorstellung Missionsarzt zu werden, - wie ernsthaft diese Vorstellungen waren, weiss ich nicht. Die Philippinen wurden als moegliches Missionsgebiet erwaehnt. Unter wessen Schirmherrschaft weiss ich auch nicht. ==> Meines Vaters Vorbild was der Musiker, Missionsarzt, Philosoph und Theologe Albert Schweitzer. Vor allem war es Schweitzers Menschlichkeit als Arzt die meinen Vater begeisterte. Dass Schweitzer den Mut aufbrachte seine Heimat im morschen dem Krieg anheimfallenden Europa gegen freiwilliges Exil in den afrikanischen Tropen auszuwechseln, ermutigte meinen Vater zu dem Gedanken, dass auch ihm moeglicherweise das Leben eines Missionsarztes ein sinn- und wuerdevolles Dasein bieten moechte. Zugleich war er sich seiner geistigen Grenzen peinlich bewusst, er war kein Albert Schweitzer, konnte weder Orgel spielen, noch Buecher wie "Kultur und Ethik", "Leben Jesu Forschung", oder ein Buch wie Schweitzers ueber Bach verfassen. Mein Vater neigte lebenslang zu Minderwertigkeitsgefuehlen. Zwar liebte er die klassische Musik, - und die Musik Johann Sebastian Bachs hatte fuer meinen Vater eine ausgezeichnet besondere Bedeutung, - aber er hatte weder die Anlagen noch die Ausbildung zum Musiker. Weder Theologie noch Philosophie hatte mein Vater je studiert; aber er nahm sie sehr ernst; in seinen Briefen an Pastor Frielinghaus und manchmal an mich beschreibt er seine Gedanken: das waren keine Ausfuehrungen der Art wie sie von Universitaetsgremien preisgekroent werden. Meines Vaters Philosophie war nicht fuer die Oeffentlichkeit gemuenzt, es war sein eigenstes Denken das er zur Sprache brachte. Aber den Kern der Erkenntnistheorie hatte er begriffen, wie er zuerst von Sokrates, den mein Vater nicht selten zitierte, ausgesprochen wurde, ein Verstaendnis, wohl bemerkt, wofuer noch keiner zu einer Ordentlichen Professur berufen worden ist, eine Weisheit die Goethe seinem Faust in den Mund legt: "Und sehe, dass wir nichts wissen koennen!" Wie oft hat mein Vater diese verzweifelte Einsicht nicht zitiert. Seine Lieblingsstelle: der Osterspaziergang, mit dessen Worten mein Vater seinen Beruf zu beschreiben pflegte: "O gluecklich wer noch hoffen kann, aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen, Was man nicht weiss, das eben brauchte man, und was man weiss, kann man nicht brauchen..." Und doch hat mein Vater stets die Notwendigkeit empfunden, sein Erleben sprachlich zu erlaeutern und zu erweitern. Dieses Verstaendnis auf Seiten meines Vaters, dass es unbedingt notwendig ist ueber sich und sein Leben nachzudenken, und sich begrifflich Rechenschaft abzulegen, ist der Ausgangspunkt meiner eigenen Entwicklung geworden, ein Geschenk fuer das ich lebenslang in seiner Schuld bleiben werde. ==> Meines Vaters grosse menschliche Leistung war seine medizinische Praxis in welcher er seine Liebe zu den Menschen schrankenlos zum Ausdruck bringen konnte. Er behandelte alle seine Patienten als waeren sie seine Brueder und Schwestern, als waeren sie seine Eltern oder seine eigenen Kinder. Es war wunderbar zu beobachten und zu erleben wie in den Hinterwaeldern Virginias, im Laufe von Monaten und Jahren, Misstrauen und Argwohn der einheimischen Bevoelkerung sich in Anerkennung und Wohlwollen verwandelten, in Verstaendnis wohl nie. In ihrem Alter waren meine Eltern von einer Bevoelkerung ehemaliger Patienten umringt die sie bewunderten und verehrten. Und eine dieser Menschen, eine Frau welche mein Vater in die Welt gebracht hatte, zog dann zu ihnen in ihr Haus, um, wie eine Tochter, sie in ihren Sterbensjahren zu pflegen. Ich kann mir nicht vorstellen wie es meinen Eltern in Braunschweig haette besser ergehen koennen. ==> Die Matthaeuspassion von Johann Sebastian Bach war der Brennpunkt von meines Vaters seelischem Dasein. Ich denke, dass mein Vater zu erst von meiner Mutter mit der Matthaeuspassion bekannt gemacht worden war. Dies grosse Werk das ihnen alle Dogmatik und Glaubenslehre verdraengte, diente als aesthetisches und ethisches Glaubensbekenntnis meiner Eltern. Es wurde zu einem der staerksten Bande ihrer sechzig Jahre lang waehrenden Ehe. Ich stelle mir vor, weiss es aber nicht, dass meine Mutter durch ihre Freundschaft mit der Professorenfamilie Georg Jahn mit der Matthaeuspassion bekannt gemacht worden war. Seit ihrer Eheschliessung, 1928 bis 1935, machten meine Eltern, in Begleitung von Georg und Ella Jahn, die alljaehrliche Karfreitagswallfahrt nach Leipzig in die Thomaskirche zur Matthaeuspassionsauffuehrung. Karfreitag 1936 fuhren sie nach Berlin. Die Auffuehrung fand in der Garnisonkirche statt. Jahns waren zugegen. Auch ich wurde mitgenommen, und noch heute besinne ich mich wo ungefaehr wir sassen. Besinne mich auch auf die Musik. "Ich will dir mein Herze schenken, senke dich mein Heil hinein. Ich will mich ich dich versenken. Ist dir gleich die Welt zu klein, Ei, so sollst du mir allein, mehr als Welt und Himmel sein." In dieser Mystik lebten meine Eltern. In dieser Mystik wurde ich erzogen. Nach der Pause schickte man mich mit meinem Onkel Hans zurueck nach Nikolassee. Ich war sechs Jahre alt. ==> Eine andere lebhafte Erinnerung meiner Kindheit: Ich begleitete meinen Vater des oefteren im Auto wenn er seine Patienten besuchte. Heute abend meine ich noch nachtraeglich mit Googles Hilfe feststellen zu koennen, dass wir gerade ueber die Okerbruecke der Humboldtstrasse fuhren, als meines Vaters kraeftiger und sicherer Bariton mit dem wunderbaren Arioso erklang, das er so liebte: "Ich werde von nun an nicht mehr von diesem Gewaechs des Weinstocks trinken, bis an den Tag, da ich's neu trinken werde mit euch in meines Vaters Reich." Fuenfzig Jahre spaeter sass ich in einer Schnellimbissgaststaette in Abingdon, Virginia, mit Bleistift und Papier, und schrieb diese Worte, die ich im Geist ihn immer wieder singen hoere, erst englisch auf die Vorderseite, dann deutsch auf die Rueckseite des Programms der Gedaechtnisfeier das ich fuer ihn entwarf. 12.11.1938 Juden deutscher Staatsangehoerigkeit muessen 1 Mrd. Reichsmark an das deutsche Reich zahlen, als Wiedergutmachung fuer die Schaeden der Pogromnacht, die von SA und anderen angerichtet wurden. Sondersteuer fuer juedische Menschen zur Begleichung der Sachschaeden dieser Nacht Familie Meyer hatte durch den Boykott juedischer Aerzte sowieso schon kein Einkommen mehr und muss dann noch selber fuer die Beseitigung der Schaeden in der Wohnung zahlen. ==> 94 Prozent unseres fluessigen Kapitals war beschlagnahmt worden. Meine Eltern begannen ihr Leben in New York mit als 423.59 Dollar. Wir haben gearbeitet und wir haben gespart und wir haben ueberlebt. 12.11.1938 Die Kosten der Wiederherstellung traegt der Inhaber der betroffenen juedischen Gewerbebetriebe und Wohnungen Versicherungsansprueche von Juden deutscher Staatsangehoerigkeit werden zugunsten des Reichs beschlagnahmt. Den Juden ist der Zutritt zu Theatern, Lichtspielhaeusern Konzerten, Vortraegen, artistischen Unternehmen Tanzvorfuehrungen und Ausstellungen kultureller Art mit sofortiger Wirkung nicht mehr gestattet. Familie Meyer hat keine Ansprueche mehr an eine Versicherung. Sie darf nicht mehr an oeffentlichen Veranstaltungen teilnehmen was bestimmt fuer die Kinder am schlimmsten ist da sie voellig ausgegrenzt und praktish auf die Wohnung angewiesen sind. ==> Ein paar Wochen spaeter, nachdem mein Vater am 7. Dezember 1938, Deutschland verlassen hatte, ging meine Mutter mit uns ins Braunschweiger Staatstheater zu einer Auffuehrung von Schillers Wilhelm Tell. Die braunen Uniformen der Gesslerschen Schergen war ununterscheidbar, so sagte meine Mutter, von den Uniformen der S.A. Das war die einzige deutsche Theateraufffuehrung der ich je beigewohnt habe. Ich habe sie nie vergessen. 14.11.1938 Sofortige Entlassung juedischer Schueler von deutschen Schulen Meyers Kinder werden ausgeschlossen und menschenunwuerdig diskriminiert. 28.11.1938 Behoerden koennen Juden deutscher Staatsangehoerigkeit und staatenlosen Juden raeumliche und zeitliche Beschraenkungen des Inhalts auferlegen, dass sie bestimmte Bezirke nicht betreten oder zu bestimmten Zeiten sich nicht in der Oeffentlichkeit zeigen duerfen. Die Familie darf bestimmte Bezirke nicht mehr betreten, z..B. Parks, Schwimmbaeder, Kurorte im Harz nach Einbruch der Dunkelheit muessen sie zu Hause sein Sie haben keine Selbstbestimmung mehr, was ihren Aufenthaltsort betrifft. 03.12.1938 Entzug des Fuehrerscheins und Juden duerfen kein Kraftfahrzeug halten Wer eins besitzt, muss es abgeben! Dr. Meyer muss seinen Fuehrerschein und das Auto abgeben mit dem die Familie frueher die Ausfluege in die Heide den Elm oder den Harz unternommen hat. 03.12.1938 Juden ist es verboten, Gegenstaende aus Gold Platin oder Silber zu erwerben, zu verpfaenden oder zu kaufen. Die Familie muss moeglicherweise hungern. 08.12.1938 Juden sind vom Besuch der Universitaeten ausgeschlossen. Meyers Kinder erhalten gar nicht die Moeglichkeit spaeter evtl. zu studieren Sie durften es einfach nicht! ==> An diesem Tage war mein Vater, Gott sei Dank, mit dem Dampfer "Hansa" der Hamburg Amerika Linie, schon auf hoher See. 30.04.1939 Ein Jude kann sich nicht auf den gesetzlichen Mieterschutz berufen. Vermieter koennen ihm jederzeit uendigen. Familie Meyer haette jederzeit aus der Wohnung geworfen werden koennen. Dann stuenden sie ohne Geld und ohne jegliche Rechte auf der Srasse. Es war fuer die Familie Meyer nicht mehr moeglich ein menschenwuerdiges Leben in Braunschweg oder anderswo in Deutschland zu fuehren. ==> Gott sei Dank, dass wir seit dem 31. Maerz 1939, in den USA waren. Katharina Pabst/Jessica Lewandowski Quelle: Brunsvicensia Judaica, Braunschweig 1966, Seiten 132 ff. Zusaetze (==>) copyright 2010, e.j. meyer