am 7. Februar 2010 Liebe Renate Haertle Den Anhang Ihres Briefes, "Verfolgung und Entrechtung der Juden in Braunschweig 1933... 1939 und deren Bedeutung fuer die Familie Dr. Heinz Meyer", habe ich mit Ergriffenheit und Ehrfurcht gelesen, Ehrfurcht nicht vor den zimperlichen und in Angesicht des Weltgeschehens kaum beklagenswerten Abenteuern meiner Familie, sondern mit Ehrfurcht vor dem liebevollen und gewissenhaften Einfuehlungsvermoegen das Katharina Pabst und Jessica Lewandowski bezeugen indem sie sich vorstellen, welche Verwandlungen in unserem taeglichen Leben die nazistische Verfolgung bewirkt haben moechte. In vielen Umstaenden ist es Katharina Pabst und Jessica Lewandowski gelungen zu ahnen, wie es eigentlich gewesen. Manchmal hingegen muessen wir uns auf die Rilkeworte besinnen: "Das was geschieht hat einen solchen Vorsprung vor unserm Meinen, dass wir's nie einholen, und nie erfahren, wie es wirklich aussah." Mir kommt es vor allem darauf an, die Geschichte so unverbluemt wie moeglich zu erzaehlen. Dass die Wahrheit, was immer sie sei, mir dennoch entgeht, ist Schicksal. Als Geschichtslehrerin werden sie mich verstehen. Mein Vater war Jude. Meine Mutter war Nicht-Juedin. Meine Schwester und ich sind der Nazi-Gesetzgebung entsprechend, "Halb-Juden". Unsere Eltern hatten uns beigebracht, dass wir auf Grund unseres Judentums, "etwas Besonderes" sein moechten, und wir haben unser Leben in diesem Wahn verbracht. Wir waren sehr stolz auf das Judentum unseres Vaters, und weigerten uns Geschaefte zu betreten die mit dem haesslichen "Juden sind hier unerwuenscht" plakatiert waren, obgleich meine muetterliche Grossmutter, eine gutmuetige rechtschaffene Frau, sich durch dergleichen Unsinn nicht stoeren liess. Im Laufe der Jahre hab ich mich zuweilen schuldig gefuehlt, nicht Volljude und somit der vollen Wut des vernichtenden Schicksals entgangen zu sein. Meine Mutter, in Berlin Moabit geboren, wurde von ihren Grosseltern muetterlicherseits, August und Katharine Roessner in der Kastanienallee 23, aufgezogen. August Roessner, ein links-politisch gesinnter Handwerker in einer Naehmaschinenfabrik taetig, zog die Gardinen als der Kaiser durch die Kastanienallee fuhr. Meine Urgrossmutter Katharine Roessner, war in der Konservenfabrik Schmalbach angestellt, und laut meiner Mutter Bericht, verteidigte mit ihren eidesstattlichen Aussagen ihren juedischen Arbeitgeber als dieser der Belaestigung seiner weiblichen Angestellten bezichtigt wurde. Meine Mutter selbst, Margarete Wilhelmine getauft, hatte aus Geschmacksgruenden den bauschigen Namen gegen das einfache Marga Roessner getauscht. Sie war eine aeusserst begabte Schuelerin, doch genoss sie nur acht jahre Grundschule, denn fuer die Fortbildung mangelte den Grosseltern das Geld. Trotzdem hatte sie waehrend des Ersten Weltkriegs als 18 oder 19 jaehriges Maedchen eine verantwortungsvolle Stelle, vielleicht als Leiterin, bei dem elektrotechnischen Geschaeft Bergmann in Braunschweig. Es moegen ihre literarische Begabung und ihr musikalisches Interesse gewesen sein, die um etwa 1919 oder 1920 eine freundschaftliche Beziehung zu der Familie Georg Jahn beitrugen. Damals verliebte sich meine Mutter in den juengeren Bruder der juedischen Ehefrau, einen Literaturhistoriker Namens Hans Georg Schick. Bald darauf starb Hans Georg an Tuberkulose, doch nicht eh er meine Mutter in die Romanwelt von Knut Hamsun und Herman Bang so wie in die Dichtung Rilkes eingefuehrt hatte, wohlbemerkt dass zu jener Zeit Rilke seine bedeutendsten Werke noch nicht geschrieben hatte. In welchem Jahre Marga Roessner von Bergmann zuf eine Stelle als Prokuristin in einer braunschweiger Filiale der Deutschen Bank umsattelte, weiss ich nicht. 1926 erkrankte sie, und ihr Vorgesetzter in der Deutschen Bank, ein Herr Gierke, erzaehlt dichtend was dann geschah: Weil sie's an den Nieren hat, schickt sie zu Herrn Dr. Lube, Weiss nicht dass der Urlaub hat, Wer tritt in die Krankenstube? Ein ganz Neuer, Dr. Meyer, Beiderseits man sich gefaellt, Beide Herzen fangen Feuer, Er entstammt bei Bielefeld Arztes Kunst ist hoch zu loben Wendet er sie richtig an. Dr. Meyer, sie oben, Weist sich als probater Mann. Er entdeckt fuer unser Roeschen ------- Ein ganz neues Diagnoeschen Hier versagt mein Gedaechtnis. Moeglicherweise finde ich eines Tages das Gedicht in seiner Vollstaendigkeit unter den Akten meiner Eltern. Die Liebesbriefe meines Vaters lagern in einer Kartei hier im Nebenzimmer; die Liebesbriefe meiner Mutter hat sie zu meinem Bedauern vor ihrem Tode eigenhaendig zerstoert. Die Trauung wurde am 22. Oktober 1927 im Standesamt in Oerlinghausen/Lippe vollzogen. Die Braut wurde an rechter Hand von ihrem noch unverheirateten Schwager Fritz begleitet, ihre linke Hand von der rechten ihres Schwiegervaters Joe Meyer umfasst, der seinen Segen der Ehe mit der Feststellung bekundete: "Ich haette selbst fast auch ein Christenmaedchen geheiratet." Somit meine ich, liebe Renate Haertl, Ihre erste Frage, wo meine Eltern sich kennengelernt, und wann sie geheiratet, beantwortet zu haben. Ihre zweite Frage betreffs der Ausgrenzung und Diskriminierung in der Schule und im Freundeskreis moechte ich vornehmlich dokumentarisch beantworten, erstens mit einem Brief an Gertraud Strangfeld, nee Hirsekorn, die Tochter meines Volksschullehrers Walter Hirsekorn. Gertraud Strangfeld trat im Januar 1993 telephonisch mit mir in Verbindung, nachdem sie bei einem Weihnachtsbesuch einen Zeitungsausschnitt entdeckt hatte, mit welchem eine stolze Mutter meinem Grundschullehrer ueber meine Immatrikulation am Harvard College berichtet. Daraufhin schrieb ich folgenden Brief: _ Ernst J. Meyer _ 174 School Street _ Belmont, Massachusetts 02478 _ 617-484-8109 _ ernstmeyer@earthlink.net _ am 13. Januar 1993 _ Frau Gertraud Strangfeld _ Schmiedestrasse 31 _ 5883 Kierspe _ Germany _ Liebe Gertraud Strangfeld, _ Ihr Telephonanruf ist wie ein Wunder ueber mich _ hereingebrochen, und ich moechte Ihnen dafuer recht herzlich _ danken, insoweit uns die Danksagung fuer das Wunder erlaubt _ ist. Ausgerechnet am Abend zuvor hatte ich ein Buechlein _ aus dem braunschweiger Stadtarchiv, "Erinnerungen aus meinem _ Leben in Braunschweig," von Nellie Friederichs, der Frau die _ uns in der schweren Zeit das amerikanische Visum ermoeglicht _ hat, durchgelesen. Diese Lektuere hatte Traeumereien von _ der Kindheit ausgeloest, und hatte mich gewissermassen auf _ ihren Anruf eingestellt. _ In Anbetracht der Millionen von Menschen aller _ politischen Gesinnung welche der Verfolgung und dem Kriege _ zum Opfer wurden, habe ich mich stets geschaemt ueber mein _ eigenes tatsaechlich so glueckliches Schicksal auch nur die _ geringste Klage zu aeussern, und doch darf ich es nicht _ verdecken, dass mein ganzes Leben von Sehnsucht und Heimweh _ nach einer Heimat beschattet war, von welcher ich _ schliesslich ueberzeugt bin, dass sie nirgendswo als in _ meiner Phantasie bestand. Obgleich seit den fuenfziger _ Jahren einer Besuchsreise nach Deutschland keine aeusseren _ Hindernisse entgegenstanden, hatte ich bis 1984 von einer _ Rueckkehr abgesehen, vielleicht aus der stillen Furcht, dass _ eine zweite Trennung ueber meine Kraefte gehen moechte. _ Ihren Vater habe ich lebhaft in Erinnerung. Ich habe _ es mir laengst abgewoehnt ueber die Menschen zu urteilen, _ weder im Guten noch im Schlechten, aber Ihr Vater war mir _ sehr teuer, und ich bin der Ueberzeugung, dass seine _ Menschlichkeit mir die zweieinhalb Jahre meiner Schulzeit in _ Braunschweig ertraeglich gemacht hat. Meine Mutter _ behauptete, Ihr Vater haette es nur meinetwegen eingerichtet _ drei Jahre hintereinander fuer die Klasse in der ich mich _ befand als Klassenlehrer zu wirken. Aber meine Mutter hatte _ ein dichterisches Gemuet und liess sich manchmal von ihrer _ Phantasie verleiten. _ Wenn mich mein Gedaechtnis nicht taeuscht, hat Ihr _ Vater alle Faecher die uns vorgeschrieben waren selbst _ gelehrt, bis auf eines, den Religionsunterricht. Diesen zu _ versorgen erschien in unserem Klassenzimmer in der _ Pestalozzischule ein anderer, dem Anschein nach gutmuetiger _ und wohlwollender Herr, um einige Jahre aelter als Ihr _ Vater, dessen Name mir entgangen ist. Am Ende der ersten _ Klassenstunde welche er mit einfuehrenden Erlaeuterungen _ verbracht hatte, erkundigte sich der neue Lehrer, ob auch in _ allen hier vertretenen Familien das Buch "Mein Kampf" _ vorhanden sei, denn in der Religionsstunde der folgenden _ Woche wuerden wir es eingehender besprechen. Als ich mit _ dieser mich sehr beunruhigenden Nachricht nach Hause kam, _ machte sich meine Mutter zu Herrn Hirsekorn auf, denn ihr _ Anliegen war zu heikel, als dass sie es haette telephonisch _ eroertern koennen. Herr Hirsekorn, laut dem Bericht meiner _ Mutter, versicherte sie dass er die Sache in die Hand nehmen _ wuerde. Sie brauche sich nicht zu sorgen, und meine Mutter _ verliess sich auf ihn. Besonders in Anbetracht meines _ Vaters aerztlicher Kenntnisse, waere es ihr eine Kleinigkeit _ gewesen mich aus vorgetaeuschten Gesundheitsgruenden vor _ gerade dieser Religionsstunde zu Hause zu behalten. Der _ gefuerchtete Tag war gekommen. Noch heute schwebt mir das _ Bild in der Schule lebhaft im Gemuet, ob Gedaechtnis oder _ Phantasie, wage ich nicht zu entscheiden. Der _ Religionslehrer erschien im gewohnten Klassenzimmer 1-C, _ wandte sich zur Klasse und fragte, ohne Uebergang oder _ Erklaerung, "Wer von euch kennt die Geschichte vom guten _ Samariter?" Ich weiss, dass ich es war der sie erzaehlen _ durfte. _ Ihr Vater hat meiner Mutter nie berichtet, mit welchen _ Einwaenden er die so unerwartete Bekehrung des _ Religionslehrers bewerkstelligt hat, doch vermute ich, dass _ es ihm ohne seine langjaehrige Parteimitgliedschaft _ wahrscheinlich nicht gelungen waere. Haette Ihr Vater nicht _ das kleine gueldene Abzeichen an dem Aufschlag seine Rockes _ getragen, waere ihr Vater, zum Beispiel, Sozialdemokrat _ gewesen, haette der offensichtlich so gefuegige _ Religionslehrer, um die eigene Zuverlaessigkeit zu beweisen, _ ihn angezeigt, ihr Vater waere seines Amtes enthoben, und _ ich haette einen neuen Klassenlehrer bekommen, _ vorausgesetzt, dass meine Familie und ich den _ Religionsunterricht ueberlebt haetten. Es ist durchaus _ denkbar, wenn nicht sogar wahrscheinlich, dass ich als _ sieben oder achtjaehriges Kind, aus Eifer oder aus Angst, _ dem Lehrer und der Klasse die Wahrheit gesagt haette, wie _ etwa, "Meine Mutter hat gesagt Hitler ist ein Verbrecher," _ und das haette im damaligen Deutschland genuegt uns zu _ verderben. _ Ich will kein Richter sein, und ich bin nicht befugt _ ueber Ihren Vater ein Urteil zu faellen. Ich darf es aber _ nicht verschweigen, und es soll Ihnen und Ihrer Mutter und _ soll ihm zum Gedaechtnis gesagt sein: Mir und meiner Familie _ ist er als Bote eines gnaedigen Schicksals erschienen, und _ in meinen Augen hat die Gerechtigkeit und Guete, die er mir _ angedeihen liess, das Hakenkreuz mit dem dem er sich _ schmueckte zugleich in den Stern Davids und in das Kreuz von _ Golgatha verwandelt. Auch in Betreff auf ihres Vaters Leben _ und Sterben, soweit ich davon eine Vorstellung haben kann, _ muss ich das 53. Kapitel des Jesaja zu Rate ziehen: _ "Fuerwahr er trug unsere Krankheit, und lud auf sich unsere _ Schmerzen. Wir aber hielten ihn fuer den, der geplagt und _ von Gott geschlagen und gemartert waere. Aber er ist um _ unserer Missetat willen verwundet, und um unserer Suende _ willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir _ Frieden haetten, und durch seine Wunden sind wir geheilt." _ Somit habe ich das Notwendige niedergeschrieben. Ob _ wir uns hernach noch treffen sollten, moechte ich Ihrem und _ Ihres Mannes Urteil anheimstellen, ohne zu verhehlen dass es _ mir eine grosse Freude waere Sie persoenlich kennen zu _ lernen. Jetzt im Alter werden Deutschlandreisen mir _ leichter. Meine Frau und ich waren im vergangenen Mai in _ Braunschweig und im Harz, und beabsichtigen drei Wochen im _ kommenden Mai in Deutschland zu verbringen, vorausgesetzt, _ dass unsere Enkelkinder uns entbehren koennen. Ihre _ freundliche Einladung Sie und Ihren Mann bei dieser _ Gelegenheit zu besuchen wuerden wir mit Dank annehmen, falls _ Sie in Anbetracht meiner so unbeholfenen und tatsaechlich _ auch unerbetenen theologisch-philosophischen Ausfuehrungen _ einen solchen Besuch noch wuenschenswert faenden. In jedem _ Falle meine ich es waere klueger wenn wir uns im voraus auf _ die Dauer des Besuches nicht festlegten. _ Anliegend ist ein Kapitel eines Romans das fuer Sie von _ Interesse sein moechte, da es sich mit der Frage der _ politischen Schuld, dem Thema das uns auf der Seele lastet, _ befasst. Erlauben Sie mir die Bemerkung, dass die _ aesthetische Extravaganz der expressionistischen _ Ausdrucksform welcher ich mich bediente, mir in einer _ unangeforderten Briefeinlage ungehoerig scheint. Jedoch _ haftet dem Geschriebenen seine eigene Beharrlichkeit an, _ welche der Zensur widersteht. Die Ausfuehrungen ueber den _ Vegetarismus moegen als ein Gedankenexperiment gedeutet _ werden, und keineswegs als Ausdruck persoenlicher _ Ueberzeugung oder Lebensart. In jedem Falle bitte ich fuer _ meine literarische Aufdringlichkeit um Entschuldigung. _ Vielleicht finden Sie, als Deutschlehrerin, es an der _ Ordnung die paedagogischen Bemuehungen welche Ihr Vater mir _ bis 1938 hat zugute kommen lassen, nach diesen _ vierundfuenfzig Jahren wieder aufzugreifen, und mein in der _ Fremde und Einsamkeit gezogenes Deutsch zu korrigieren. _ Mit besten Gruessen auch an Ihren Mann und ihre Mutter, _ verbleibe ich, _ Ihr _ Jochen Meyer Die liebevollen Briefe an meine Schwester von ihrem Lehrer A. Grunenberg - hiess vielleicht Adolf und schaemte sich seines Vornamens?- so wie auch die verstaendnisvollen Briefe der Lehrerin Marianne Trinne werde ich demnaechst skandieren und Ihnen als Anhang an eine e-mail zusenden. Ueber meinen und meiner Schwester Freundeskreis habe ich folgendes zu berichten: Meiner Schwester Lieblingsgespielin war ein kleines liebliches reizendes Judenmaedchen, Rita Ziprkowski aus der Wendenstrasse deren Abbildung auch in der von meinem Sohne im Internet veroeffentlichen Bildsammlung von meiner Schwester erscheint. Diese Freundschaft wurde durch die Judenverfolgungen nur verstaerkt. Rita und ihre Geschwister wurden nach England gerettet. Ihre Eltern wurden von den Nazis ermordet. Ausserdem ware wir beide, meine Schwester und ich, lebhaft befreundet mit Eberhard, Dieter und Helmut Frielinghaus, den drei Soehnen des Pfarrers der Evangelisch Reformierten Bartolomaeuskirche in der Schuetzenstrasse von dem meine Eltern meine Schwester und mich 1936 in unserer eleganten Wohnung in der Schleinitzstrasse taufen liessen. Helmut, zwei oder drei Jahre juenger als ich, war noch zu klein, aber Eberhard, Dieter, Margrit und ich radelten durch das vor-kriegs Braunschweig, auch nach Riddagshausen, ueber die Teichdaemme, und wenn ich recht erinnere, in die Buchhorst. Ich besinne mich auf die Frielinghaussche Wohnung im Pfarrhaus auf dem Wendentorwall wo Margrit und ich oft zu Gast waren. Des Sonntags trafen wir uns im Kindergottesdienst in der Kirche auf der Schuetzenstrasse. Dieser Beziehung konnte die Nazi-Propaganda nichts anhaben. Nach dem Kriege hat meine freundselige Schwester die Frielinghaus Familie in Braunschweig aufgesucht, und hat auch zwei spaeter geborene Geschwister, Gisela und Heidi, kennen gelernt. Helmut ist mein treuer Freund geblieben und wird sich direkt an Sie wenden. Ihre dritte Frage: Ja, mein Vater hat ueber seine Erlebnisse in Buchenwald berichtet, und Ja, ich hege lebhafte und umstaendliche Erinnerungen an meine letzten 134 Tage in Deutschland, also vom 9. November 1938 bis zum 23. Maerz 1939, daraus, wenn ich unvorsichtig bin nicht nur ein ganzes Kapitel, sondern ein ganzes Buch werden koennte. Mein Vater hat die zwei bis drei Wochen seiner Inhaftierung in Buchenwald nie verschmerzt. Oft hat er nach einer Nacht unruhigen Schlafes geklagt, "Ich war wieder in Buchenwald." Ich habe ihn nie nach seinen Erlebnissen gefragt. Von sich aus hat er mir erzaehlt, dass bei ihrer Einlieferung, den Haeftlingen Abfuehrmittel verabreicht wurden um sie mit allgemeinen Diarrhoen zu demuetigen, dass vor seinen Augen Haeftlinge totgeschlagen und erschossen wurden, dass er sein eigenes Gleichgewicht dadurch zu bewahren suchte, dass er den anderen Haeftlingen Trost und Beistand leistete. Meine Mutter hat zuweilen erwaehnt, dass ihm dies gelungen waere. Woher sie es wusste, weiss ich nicht. Mein Vater hat mir einmal erzaehlt wie man ihn bei seiner Entlassung auf der Strasse nach Weimar abgesetzt hat und dass er dann zu Fuss inmitten der Nacht in Richtung Weimar gegangen ist. Als meine Frau und ich uns 1990 nach Buchenwald wagten, bin ich ihm bewusst den Weg nachgegangen den er hat gehen muessen. Ich stehe unter dem Eindruck, er ist dann mit einer Taxe nach Braunschweig zurueckgekehrt. Als mein Vater im Maerz 1987 gestorben war, und seine Asche wie er befohlen in einem Friedhof am Fusse des White Top Mountain begraben, habe ich ihm folgendes Gedicht geschrieben, das einzig von mir bis jetzt verfasste: _ == Der Grabstein == _ _Am Morgen breitet der Berg seinen Schatten ueber das Tal _ Und den verbotenen Ort, wo wir uns von dir trennten. _ Die einzig uns uebrig blieb, _ Die Asche, da liegt sie begraben. _ _Dein Leben, du hattest bestimmt, soll der einzige Grabstein dir sein, _ Groesseres wolltest du nicht, nichts minderes konnte dir ziemen. _ Weil uralte Froemmigkeit dich mahnte, _ Dass nur einem das Denkmal gebuehrt, _ _Hast du uns, deinen Kindern, verboten dir einen Grabstein zu setzen. _ Wir verstanden dich nicht, und haben es dennoch getan. _ So steht nun dein Name, im Morgengrauen, _ Vom Tau benetzt, unter den anderen. _ _Wenn dann die Sonne sich siegreich den schwarzen Tannen entwindet _ Und mit Lichte getraenkt ringsum die Wiese erblueht, _ Wenn Fink und Meise im Eichbaum zwitschern _ Und kraechzend die Kraehe die Blaeue anfliegt, _ _Dann ergruent der Berg, der geheimnisreiche, im Mittagslichte, _ und aus Erinnerung erblueht die verstorbene Welt. _ Auch am hellen Tag ist hier _ zu schlafen erlaubt und zu traeumen. _ _Durch hohe Buchen fuehrt ein Weg zum Tetzelstein, _ von Sternenblumen begrenzt, von Nachtigallen besungen. _ Du hast mich mit ihrer Schoenheit _ fuer mein ganzes Leben beschenkt. _ _Auch das Meer hast du mir, das schlaflos erhabne gezeit, dort _ wo die stuermische Brandung wogt, tief unter dem Roten Kliff. _ Wie der Tod das Leben frisst es das Land, _ von List bis zum Hoernumer Licht. _ _Wir haben die giebligen Gassen der Stadt durchschritten, _ zu Sankt Petris grauem Gewoelbe wo silbern die Orgel ertoent, _ und die fliehende Fuge das Ohr _ durch vergaenglichstes Dasein fuehrt. _ _Auf purpurner Heide stehen wir, die Birken flattern im Wind. _ Ins Moor zieht ein Weg, endlos, ich denke ans Ende der Welt. _ Du bist ihn alleine gegangen, _ und kamst doch zu uns zurueck. _ _Wenn der Himmel sich bleiern bezieht, und der Donner mich weckt, _ und des peitschenden Sturmes Wut mich in die Herberge treibt, _ dann verspreche ich dir, _ ich komme zu dir zurueck. _ _Wenn in wintrigem Dunkel die Aeste im Nachtwinde knarren _ und versoehnender Schnee menschliche Werke verdeckt, _ seine schneeige Kuppe aber hell _ im eisigen Sternenlicht leuchtet _ _Dann wird auch der Stein mit dem wir zu feiern dich waehnten _ begraben, mit weissem Schleier wird unsere Torheit verhuellt. _ Die Natur, die getreue, hat dich aufs neue _ von Namensketten befreit. _ _Die Winternacht, die uebermenschliche, wird dir zum Denkmal. _ Sie fuehrt mich zu dir. Ich kenne den Weg auch ohne Stein. _ Denn was du mir bedeutet hast _ Soll einzig dein Grabmal sein. _ Fuer heute moechte ich schliessen. Bitte lassen Sie mich es wissen, wenn mein Schreiben genug ist, eh es zu viel wird. Seien Sie von mir inniglich gedankt und herzlich gegruesst. Ihr Jochen Meyer copyright 2010, e.j. meyer