am 3. Februar 2010

Liebe Renate Haertle,

Mein Sohn Klemens hat mir Ihren Brief betreffs der Beschaeftigung
Ihrer Schulklasse mit dem Schicksal der in der Nazizeit aus Braunschweig
vertriebenen Juden uebersandt. Wenn ich Ihnen und Ihrer Schulklasse
meinen Dank ausspreche, so tue ich dies nicht ohne das Bewusstsein einer
schweren persoenlichen Schuldigkeit dafuer, dass meine Familie
und besonders ich selber, der Vernichtung gluecklich entkamen,
indessen Millionen anderer Menschen in Gaskammern, in Bombenangriffen,
in Konzentrationslagern, auf unzaehligen Schlachtfeldern - umkommen
mussten. Ich sage es mit tiefster Demut, dass meine Familie und ich
des Gedaechtnisses mit dem sie uns ehren, nicht wuerdig sind.

Mein Sohn hat es unterlassen Ihnen die erbetene Erlaubnis zum
Gebrauch der von ihm veroeffentlichen Familienphotographien
ausdruecklich zu erstatten. Selbstverstaendlich stehen Ihnen
diese Bilder zu jedem Zweck den Sie moechten, zur Verfuegung.
Darueber hinaus soll gesagt sein, dass ich die bildlichen und
schriftlichen Urkunden von meinen Eltern und von meiner juengst
verstorbenen Schwester saemtlich bewahrt habe, und dass Ihnen
auch dieser Stoff zur Verfuegung steht.

Die Frist zum 23. Februar ist beschraenkt, und der Geschichte meiner
Familie gebuehrt nur beschraenkte Muehe. Teilen Sie mir doch bitte mit
welche Einzelheiten aus der Fuelle dessen, was ich zu berichten haette,
fuer Sie und Ihre Schueler von Interesse sein moechten. Auch sollten
Ihre Schuelerinnen und Schueler keine Scheu empfinden, sich direkt,
und in deutscher Sprache an mich zu wenden. Mein persoenliches
Angedenken an Braunschweig ist zum Teil in einer sehr unfertigen Skizze
beurkundet, falls diese Perspektive meiner Beziehung zu meiner
Vaterstadt fuer sie von Interesse ist. Vor einigen Jahren habe ich 
meine eigene Einwanderung in Amerika beschrieben. Vorgestern verfasste
ich einen Nachruf auf meine Schwester.

Mit vielem Dank fuer Ihr Interesse und fuer Ihr Verstaendnis,
verbleibe ich, Ihr
Ernst Jochen Meyer

174 School Street
Belmont MA 02478 USA
617-484-8109


am 6. Februar 2010
Lieber Ernst Meyer,
vielen herzlichen Dank für Ihren Brief, über den zu empfangen
ich mich unendlich freute und der mir doch gleichzeitig Tränen
der tiefen Erschütterung in die Augen trieb. Freude deshalb,
weil Sie sich so bedingungslos anboten, unsere Arbeit zu unterstützen,
tiefe Bewegung und Erschütterung deshalb, weil Sie in Dankbarkeit
und Demut davon sprachen, mit Ihrer Familie einem Schicksal entgangen
zu sein, wie es Millionen von Menschen in jener Zeit durch ein
menschenverachtendes, verbrecherisches Regime erleiden mussten.

Um diese Erinnerung für immer wachzuhalten, arbeiten meine Schüler
und ich an dem bekannten Projekt "Stolpersteine", über das Sie sich
unter dem folgenden Link informieren können, falls Sie nicht schon
darüber wissen:http:/stolpersteine-fuer-braunschweig.de/projekt.html
Die Verlegung dieser Gedenkplatte vor dem von Ihrer Familie letzten
frei gewählten Wohnsitz in Braunschweig, also Schleinitzstraße 1,
wird voraussichtlich im Sommer 2010 sein und Sie sind dazu herzlich
eingeladen.

Als Anhang übersende ich Ihnen die bisherigen Forschungsergebnisse
zur Biografie Familie Dr. Heinz Meyer und eine Datenliste über die
zunehmende Entrechtung und Verfolgung der jüdischen Bürger in
Braunschweig zwischen 1933 und 1939. Ich bin mir der Tatsache bewußt,
dass diese Arbeiten bei Ihnen und Ihrer Familie sehr traurige,
bedrückende Erinnerungen auslösen; umso dankbarer bin ich, auch im
Namen meiner Schüler, für Ihr großherziges Angebot, uns in unserer
Arbeit zu unterstützen, und ich komme sehr gern darauf zurück.

Folgende Fragen konnten wir noch nicht klären:
1. Wann haben Ihre Eltern geheiratet?
Wo haben sie einander kennen gelernt?
2. Wie haben Sie und Ihre Schwester als Schüler
die Ausgrenzung und Diskriminierung in der Schule
und im Freundeskreis empfunden?
3. Hat Ihr Herr Vater jemals über die Ereignisse
in der Pogromnacht von 1938, seine Verhaftung und
Deportation berichtet? Haben Sie Erinnerungen an
diese letzten Monate in Braunschweig vor Ihrer
Flucht aus Deutschland?

Lieber Ernst Meyer, ich bin sehr glücklich,
Sie gefunden zu haben. Bitte korrigieren Sie unsere Arbeit,
falls dieses Ihnen nötig erscheint. Ich bin sehr dankbar
für Ihre Unterstützung, die auch meine Schüler enorm
motivieren kann in ihrer Arbeit gegen das Vergessen.
Ich grüße Sie und Ihre Familie von Herzen.
Ihre Renate Haertle