Mein Vater war nicht nur in der Praxis mit seiner Arbeit
stark beschäftigt.  Einen beträchtlichen Teil seines Tages
verwandte er auf Hausbesuche.  Bis er später ein Auto kaufte,
machte er diese Visiten mit dem Fahrrad oder mit der Straßen-
bahn. Wenn irgend möglich, erschien er zu den Mahlzeiten. Des 
Abends, wenn all die Besuche bei den bettlägerigen Patienten 
gemacht worden waren, kehrte er in die Wohnung zurück. Nicht 
selten war es so spät, dass wir Kinder schon schliefen. Erst 
später kaufte er sich ein Auto. 
 
Meine Mutter war fast so sehr in Anspruch genommen wie mein 
Vater, denn sie musste bei den Untersuchungen der weiblichen 
Patienten, wenn nur aus Sittsamkeitsgründen, zugegen sein. 
Sie musste mit den Patienten Termine verabreden, musste buch-
führen und Rechnungen schreiben, sowie auch das Telephon, 1071, 
beantworten, ins Besondere während mein Vater von einer Unter-
haltung mit einem Patienten in Anspruch genommen war. 1071, 
unsere Telephonnummer, scheint ja dann auch zu besagen wie 
anders die Welt von damals war, insofern es vor 1939 nicht mehr 
als zehntausend Telephonanschlussinhaber in Braunschweig gab.
 
Meine Urgroßmutter, die Frau von welcher meine Mutter aufge-
zogen worden war, starb eh ich geboren wurde, als meine Eltern 
noch in der Siegfriedstraße wohnten. Sie hat unsere Wohnung in 
der Hildebrandtstraße nie gekannt. Dort war es meine Großmutter 
väterlicherseits die meine Schwester und mich betreute. Gegen 
die eindrucksvolle Persönlichkeit meiner Mutter konnte die Groß-
mutter Elfriede Rosenthal Meyer sich nicht behaupten. Es war 
meine Mutter die in meiner frühen Kindheit den entscheidenden 
Einfluss auf mich ausübte. Es war meine Mutter und sie war die 
Einzige von der ich spürte, dass sie mich verstand. Verstanden 
zu sein, von meiner Mutter verstanden zu sein, schien mir in 
meiner Kindheit die entscheidende, unentbehrliche Beschaffenheit 
meiner Existenz. Später, in meiner Studentenzeit verwandelte 
sich das Bedürfnis verstanden zu werden in das Bedürfnis zu ver-
stehen.
 
Im Jahre 1931 kaufte mein Vater zum ersten Mal ein Auto. Es war 
ein imposantes dunkelrotes einfenstriges Kabriolet mit seitlichen 
sich weit vorwärts erstreckenden Verdeckstreifen die uns Kinder 
im Rücksitz verstaut, die Aussicht aus dem Auto fast völlig ver-
wehrten. Für einige Monate, so berichtete meine Mutter, war unser 
neuer Wagen der stattlichste in ganz Braunschweig. Die erste we-
sentliche, und auch für mich, wie ich jetzt zu erkennen meine 
nachhaltige Folge dieser Neuanschaffung, war dass meine Eltern 
eine Deutschlandreise veranstalteten. Sie fuhren nach Würzburg, 
ins Taubertal, nach Rothenburg mit seiner sagenhaften Jakobskir-
che, berühmt vor allem für den von Riemenschneider geschnitzten 
Hochaltar, nach Dinkelsbühl zur Georgskirche deren Spätgotik von 
meinen Eltern besonders bewundert wurde. Sie fuhren ins Rheintal 
nach Speyer, Worms und Mainz, dann über den Main nach Eltville 
und Assmannshausen wo sie im Hotel Krone übernachteten. Indessen 
hatten sie meine Schwester Margrit und mich in der Obhut meiner 
Großmutter in Braunschweig zurückgelassen, und während meine El-
tern sich unter anderen an den Schöpfungen Tilman Riemenschneiders 
erbauten kauerte ich auf dem Stuhl, im Sessel, oder gar im Bett in 
der Hildebrandtstraße in Braunschweig und weinte, weinte untröst-
lich, ich schrie und schrie nach meiner Mutter. Ich weiß nicht 
welche Versuche meine Großmutter, die fromme Jüdin, unternommen
haben mochte dies unbeschnittene Kind das ihr anvertraut worden 
war, zu beruhigen. Ihre eigenen Kinder, laut der überlieferten 
Berichte, waren nicht mit übermäßiger Zärtlichkeit verwöhnt wor-
den. Mein Großvater hätte es nie erlaubt. Meine Schwester war um-
gänglicher als ich. Als meine Eltern schließlich zurück kamen er-
klärte meine Großmutter: "Marga, der Junge hat ununterbrochen ge-
schrieen. Ich habe es nicht mehr ertragen können." Ich meinte, 
als meine Mutter wieder zu Hause war, sollte alles wieder gut 
sein. Und doch denke ich, meiner Eltern Deutschland-Reise hatte 
für mich sehr nachhaltige Folgen. Es bedarf keiner Erklärung, dass 
ich als erwachsener Mensch mich dieser vier Wochen am Ausklang 
meines ersten Lebensjahres längst nicht mehr erinnere. Nichts-
destoweniger hat die Trennungsangst nicht nur meine Kindheit,
sie hat meine Jugend beschattet,sondern sie ist mir zur Absturz-
sicherung des ganzen Lebens geworden, ein Geländer das indem es 
mich gegen Verlust und Verzweiflung schütze, zugleich ein hegen-
der Zaun war, der mir Entdeckungsreisen in die Welt unmöglich 
machte.
 
Im Rückblick jetzt erkläre ich mir, dass die Trennungsangst wel-
che mein ganzes Leben beschattet hat von diesem Erlebnis des ein-
jährigen Kindes herrührt. Jedenfalls waren meine Tage von der 
Bindung an meine Eltern geprägt, und des Abends, vorm Einschla-
fen beklagte ich meinen Zustand mit dem erbärmlichen Flehen "Ich 
bin hier so alleine!" dies wiederholend so lange, bis einer mei-
ner Eltern erschien und mir bewies, dass dies nicht der Fall war.
Margrit, meine Schwester hingegen, empfand dergleichen Ängste 
nicht.
 
Wir Kinder wurden während des Tages von meiner Großmutter väter-
licherseits betreut, und im Laufe der Monate in wachsendem Maß,
von Dienstmädchen. Meine Großmutter wurde krank, zog ins Rote Kreuz,
ein Institut von dem ich annehme, dass es ein Altersheim war. Dort 
starb sie nach verhältnismäßig geringer Zeit an einer durch Medika-
mente verursachten Blutstörung.Von nun an waren meine Schwester und 
ich der Obhut von Dienstmädchen anvertraut.
 
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Indem ich diese Zeilen aufschreibe und überlese, werde ich mir leb-
haft des Vorganges klar, mittels dessen ich die Vergangenheit be-
greife. Da kommt die Vergangenheit mir vor, als wäre sie ein Gebäude
mit einem Außen und eine Innen. Das Außen ist die Vergangenheit wie 
wir sie gewöhnlich betrachten, ohne auch nur den Versuch zu machen,
zu verstehen wie sie innen aussieht. So betrachtet scheint mir die 
Vergangenheit eine Fassade die uns, wie mir scheint, bedeutende Ge-
heimnisse verhüllt.
 
Denn alles was ich von der Vergangenheit begreife geht unvermeidlich 
in der Gegenwart, geht im gegenwärtigen Bewusstsein auf. Unavoidably 
comes to a head in the immediate conscious present. In diesem Bewusst-
sein fließen mannigfaltige Strömungen zusammen. Denn es sind nicht nur 
Bild, Handlung, Ausspruch, auf die ich mich besinne. Hinzu kommen als 
Rahmen die erinnerte Umgebung, die erinnerten Belege und Zeugnisse
über die Geschehnisse der Vergangenheit die mir zu bedeuten beanspru-
chen, wie es eigentlich gewesen.
 
Tatsächlich ist die Erinnerung ein Zusammenfügen verschiedenster 
Bestandteile....