07-13-2022-0 Vier Freunde VII Bisher unveröffentlicht Ernst Jochen Meyer Impressum Copyright: c 2021 Ernst Jochen Meyer ernstmeyer@earthlink.net Inhaltsverzeichnis 00) Vorwort - 61 << 01) Erstes Kapitel - 140 << 792 02) Zweites Kapitel - 932 << 1217 03) Drittes Kapitel - 2149 << 1248 04) Viertes Kapitel - 4197 << 195 05) Fünftes Kapitel - 3512 << 3349 4743 06) Sechstes Kapitel - 6961 << 1059 07) Charlotte geht zurück in die Aletheia - 8100 << 85 08) Charlotte wird von dem ihr unbekannten Armand empfangen - 8185 << 214 09) Im Treuhändersaal von Armand allein gelassen, verfällt Charlotte wiederholt in tiefen Schlaf - 8319 << 203 10) Charlotte wacht auf, und erkennt Moritz Möchtegern als den Einzigen im Saal - 8522 << 232 11) Armand unterbricht Charlottens Zwiegespräch mit Möchtegern - 8754 << 44 12) Geladene und Ungeladene drängen sich in den Treuhändersaal - 8798 << 149 13) Das Gespräch des Moritz Möchtegern mit Jeremias Zehplus - 8947 << 192 14) Karl Folterer kommt zur Sache - 9139 << 37 15) Verfolgung und Religion - 9176 << 59 16) Über das Opfern und das Geopferte - 9235 << 126 17) Richter Adams spricht - 9361 << 100 18) Jeremias Zehplus spricht - 9461 << 129 19) Charlotte gibt eine Erklärung - 9590 << 22 20) Katenus spricht - 9612 << 313 21) Karl Folterer spricht - 9925 << 114 22) Charlotte beichtet - 10039 << 867 23) Mathematische Physik und Regierung - 10906 << 56 24) Cujus regio, ejus veritas - 10962 << 73 25) Rechnervernunftgesteuerte Regierung - 11035 << 85 26) Wissenschaft und Regierung - 11050 << 97 27) Religion als Vorführung der Problematik des Daseins - 11147 << 47 28) Psychophysik - 11194 << 98 29) Eine neue Stimme - 11292 << 108 30) Jedermann ist die Antwort - 11400 << 448 31) Die Idealisierung als Schlüssel zum Wesen des Denkens - 11848 << 256 32) Katenus beschließt - Wahrheit oder Lüge in der Gesellschaft - 12104 << 32 33) Rechnerreparatur - 12136 << 251 34) Zusammenfassung - 12387 << 53 35) Der Einzelne und die Gesellschaft - 12440 << 35 36) Bedrohungen für die Gesellschaft - 12475 << 63 37) Jeremias Zehplus Überblick künstliche Intelligenz - 12538 << 1168 38) Idealisierung und Entidealisierung -13706 << 32 39) Verschleiertes Ausmaß und Unmöglichkeit der Aufgabe - 13738 << 29 40) Vorläufiges Ende - 13767 << 557 41) Heinrich hat Angst - 14324 << 515 42) Die Machtübernahme 14839 << 360 >> Vorwort - 61 << Dies ist ein Vorwort das ich am Ende schreibe. Ich setzte ich diese Paar Worte an den Anfang um dem Ganzen einen Anhauch von Sinn zu verleihen, als möchte eine scheinbar ungeordnete Gedankenflucht bedeutungsvoll werden, dadurch dass ein geschäftstüchtiger Verleger sie mit geringstem wirtschaftlichem Aufwand in Rechnerkarteien speichert, um sie dann irgendwann später in Form eines Buches auf Abruf als einzelne Exemplare automatisch abdrucken zu lassen, und dann zu vergeben, leider aber nicht "um sonst". Das Buch, der 7. Band meiner Romanserie "Vier Freunde", beträgt etwa 300 Seiten, und ich gebe meinem Gedächtnis die Schuld, dass es mir nicht gelingen will, dafür eine durchgängige, gegliederte, zusammenhängende Geschichte zu erfinden. Indem ich das bisher Geschriebene immer und immer wieder lese, fällt mir auf, dass die Seiten welche ich vorgestern und gestern las einen so schwachen Eindruck hinterlassen haben, dass es mir nicht gelingen will sie in das was ich heute lese zu verflechten. Fast befinde ich mich verleitet in gedämpfter Verzweiflung alles jüngst Geschriebene zu löschen. Dann aber besinne ich mich eines anderen und es scheint mir was ich geschrieben habe, eben weil ihm der äußere Zusammenhang fehlt, möglicher Weise von besonderem Wert, insofern nun ein innerer Zusammenhang Gelegenheit haben möchte zum Ausdruck zu kommen. Ich erinnere meines Vaters Worte: "Eine Bildung muss der Mensch haben." und erlaube mir die Einbildung, dass vielleicht die äußere Formlosigkeit meines Romans durch einen inneren Zusammenhalt mehr als aufgewogen wird, von einer Bindekraft welche dadurch entstand, dass ich mich nicht scheute meine Gedanken aufzuschreiben wie sie sich mir jeweils aufdrängten, und dass demzufolge dies Buch als Abfolge von Spiegelbildern meines Gemüts gelesen werden möchte. Als Muster zitiere ich Hölderlins Hymne Patmos, ein Gedicht das ich seit Jahren leidenschaftlich bewundere: Patmos Dem Landgrafen von Homburg Nah ist Und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch. Im Finstern wohnen Die Adler und furchtlos gehn Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg Auf leichtgebaueten Brücken. Drum, da gehäuft sind rings Die Gipfel der Zeit, und die Liebsten Nah wohnen, ermattend auf Getrenntesten Bergen, So gib unschuldig Wasser, O Fittige gib uns, treuesten Sinns Hinüberzugehn und wiederzukehren. Dies Gedicht lese ich als die vollendetste Dialektik. Die Gipfel der Zeit sind das nach außen gewandte Inwendige, und das verinnerlichte Äußere sind die ermattend auf getrenntesten Bergen nah wohnenden Liebsten; "unschuldig Wasser" deute ich als Hinweis auf Offenbarung 22: 17. Καὶ τὸ πνεῦμα καὶ ἡ νύμφη λέγουσιν Ἔρχου: καὶ ὁ ἀκούων εἰπάτω Ἔρχου: καὶ “ὁ διψῶν ἐρχέσθω,” ὁ θέλων λαβέτω “ὕδωρ ζωῆς δωρεάν.” 17. Vnd der Geist vnd die Braut sprechen / Kom. Vnd wer es höret der spreche / Kom. Vnd wen dürstet / der kome / Vnd wer da wil / der neme das wasser des Lebens vmb sonst. KK 1. Kapitel KK >> Erstes Kapitel - 140 << Jonathan Mengs ging jetzt allein zur Bibliothek. Joachim und Charlotte waren an diesem Morgen noch nicht aufgestanden. Wie anders war nicht das Leben geworden. Jonathan überlegte seine Beziehung zu Joachim und entschied, so schmerzhaft es auch sein möchte, wie gut und richtig, wie notwendig, dass Joachim anfing seine eigenen Wege zu gehen. Er vermochte es sich nunmehr nicht zu verhehlen, dass sein einstiges Verhältnis zu Joachim sich verwandelt hatte, und manchmal, wie in einem schweren traurigen Traum, fragte er sich, ob dies Verhältnis überhaupt noch bestünde. Wenn er von diesem Traum erwachte, ahnte er, dass es eine tief schürfende Veränderung war, die vor sich ging, und die sich vielleicht zu einer völligen Trennung entwickeln würde, wenn sie es nicht schon getan hatte. Er verstand jetzt, dass, wie alles andere im Leben, seine Beziehung zu Joachim ihre Grenzen haben musste. Der Versuch diese Grenzen gedanklich aufzuheben würde nichts taugen. Er sah es als seine Aufgabe, auch diese Lebensschranken anzuerkennen und sich ihnen zu fügen. Er würde lernen auch innerhalb der neuen Grenzen zu leben. Er müsste sich verwandeln, das verstand er jetzt besser als je, denn ohne Verwandlung würde ihm das Dasein unmöglich. Er versuchte sich in der Vorstellung zu üben, wie es sein würde, wenn diese Verwandlung versagte, wenn die Öde die ihn jetzt umfing unverändert bliebe, und wenn er, Jonathan Mengs, so wie es jetzt um ihn und in ihm aussah, trotz ihr fortfahren zu leben, an ihr leiden, und in ihr sterben müsste. Er rüttelte sich auf und sagte sich, dass in diesem Sinne weiter zu denken, zu nichts führen würde als zunehmend unerbittlichem Kreisen um die Verzweiflung. Er besann sich seiner Arbeit, dieser sinnvoll gerichteten Tätigkeit auf ein Ziel, diese treue, so verlässliche Beschäftigung welche ihm von jeher gedient hatte, die Stunden und Tage seines Lebens zu befestigen. Es sagte sich dass diese Erfüllung seines Lebenszwecks ihn noch zuverlässiger bewahren würde als die Beziehung zu einem anderen Menschen, sogar Joachim. Da erinnerte er seiner Mutter Stimme mit den Worten von Paul Heyse die sie so oft zitierte: "Wer sich an andre hält, dem wankt die Welt, wer auf sich selber ruht, steht gut." Das Sichselber worauf er sich stützen konnte war sein Wissen, sein Verständnis, seine Erinnerungen. Es war der Geist wie er ihn im Verlauf vieler Jahre gewissenhaft gepflegt hatte. Indem er so dachte, hörte er auf sich leid zu tun. Er sah ein, dass es gebührte, nicht sich selber, sondern Joachim zu bemitleiden, dass es nicht sein eigenes, sondern Joachims Wohlergehen war, das ihm am Herzen liegen musste, und das ihm tatsächlich am Herzen lag, dass seine Liebe zu Joachim nicht erloschen war, und dass diese Liebe nie erlöschen würde, weil es nicht darauf ankam geliebt zu werden, sondern zu lieben. Denn nur die eigene Liebe zum anderen Menschen war zuverlässig. Die Liebe die aus der eigenen Seele strömte war unanfechtbar, und von Erwiderung unabhängig. Nicht auf das Geliebtwerden, sondern selbst zu lieben, darauf, und nur darauf kam es an. In dieser Liebesleistung ahnte er den Ausweg aus dem Labyrinth der Traurigkeit. Die Einsicht beruhigte ihn. Fast machte sie ihn glücklich. Befriedigt in dem Bewusstsein seiner unerschütterlichen Beziehung zu Joachim, besann er sich nun der Überlegungen die er jüngst angestellt hatte. Seine Betrachtungen sollten ihn zu einer neuen geistigen Landschaft der Gegenwart leiten; sie sollten zu seiner unmittelbaren Zukunft werden. Er überlegte was er kürzlich gelesen hatte. Es waren die Schriften des Gottfried Wilhelm Leibniz, oder war es umgekehrt, hieß er Wilhelm Gottfried Leibniz. Nein, das war falsch. Der Name der ihm zuerst eingefallen, war der richtige. Dabei schienen ihm diese Erwägungen jetzt lächerlich und demütigend, denn, was kam es auf den Namen an. "A rose by any other name would smell as sweet." Oder vielleicht doch nicht. Hatte er, so dachte Mengs, und verlor den Faden seiner Gedanken. Er war nun an die Ecke der Landesallee gelangt, und musste die Linnaeusstraße überqueren, wo Vorsicht gebührte um zu verhüten, von einem der aus drei Richtungen auf ihn zielenden Wagen überfahren zu werden. Bald war er heil an der südlichen Ecke der Kreuzung angelangt, bereit seine Gedanken aufs Neue einzufädeln. Gestern Abend hatte er die von Leibniz selbst so benannte Schrift Theodizee ein weiteres Mal zu lesen begonnen, weil der Name Leibniz ein so berühmter war, und das Thema der Theodizee ein so schwerwiegendes, dass es ihn wünschenswert dünkte, sich an die Einsichten des nahmhaften Denkers über das bedeutende Thema ins Gedächtnis zurückzurufen. Und wieviel besagte nicht schon der Titel! ‹Versuch einer Theodicaea oder Gottrechts-Lehre von der Güthigkeit Gottes, Freyheit des Menschen und Ursprung des Bösen› Teilten diese Worte vielleicht schon das Wichtigste, vielleicht schon alles mit? Es war eine Auseinandersetzung mit Pierre Bayle und dessen ‹Dictionnaire historique et critique›, wo die Vereinbarkeit von Vernunft und Glaube vor allem unter Hinweis auf die Existenz des Übels geleugnet wurde mit der Empfehlung, auf jede Rationaltheologie zu verzichten und sich dem bloßen Glauben anheimzugeben. Jetzt fiel es Jonathan ein, dass Leibniz in seinen "philosophischen" Unterhaltungen mit der Kurfürstin Sophie von Hannover und mit deren Tochter Sophie Charlotte, der Königin von Preußen, über die Gottesgerechtigkeit, es wahrscheinlich vorwiegend auf die gesellschaftliche Annehmbarkeit seiner Gedanken abgesehen haben musste, dass der Zweck der Auseinandersetzungen und Übereinkünfte mit den Behauptungen Pierre Bayles nicht nur, und vielleicht auch nicht am wesentlichsten, die Entdeckung und Bestimmung einer besonderen "Wahrheit" war, sondern ein Auftreten bei Hof mit Aufklärungen, mögen diese bestätigend oder widerlegend gewesen sein, welche die Königin und die königliche Gesellschaft beeindruckten. Demzufolge war anzunehmen, dass Leibnizens etwaiges persönliches Erleben betreffs der "Gütigkeit" Gottes, der Freiheit des Menschen, und des Ursprungs des Bösen von seinen gesellschaftlich gesteuerten Vernunftbeschlüssen über diese schicksalshaften Themen völlig getrennt blieb, so völlig getrennt, dass sich die Frage ergab, ob ein solches persönliches Erleben überhaupt bestünde. Diese Einsicht war ein Grund, Leibnizens Erklärungen nicht zu überschätzen. Da erinnerte Mengs die ausgefallenen, extravaganten Vorstellungen die Leibniz in seiner Monadologie zum Ausdruck brachte, erlebnisfremd, nein, tatsächlich erlebnisfeindlich in einem außerordentlichen Maße. So wenig Licht diese Vorstellungen auf die individuell erlebte und gemeinsam erfahrene Lebenswelt werfen mochten, dienten sie Leibnizens Denkungsart als die eines Mathematikers klar zu stellen. Denn auch Worte dienen dem Mathematiker als Symbole, als anderweitig bedeutungslose Zeichen an die er in willkürlicher Weise bestimmte Gedanken koppelt, von denen er hinfort sein Denken steuern lässt. Mengs fragte sich, ob diese Einsicht vielleicht eine Erklärung für die Art des mathematischen Denkens überhaupt bieten möchte. Es war ein grauer Tag. Der Himmel war mit dunklen tief-hängenden Wolken bedeckt, war ähnlich trübe wie Jonathans Stimmung. Das Denken hatte doch nicht geholfen. Er war, dieweil er die Landesallee hinan schritt, besonnen und doch traurig, sein Gemüt von der Gewissheit durchdrungen, dass Joachim im Begriff war ihm verloren zu gehen, wenn er ihm nicht schon verloren gegangen war. Es war ein Bewusstsein das auf ihm lastete wie ein ewig wiederkehrendes Ritornello eines Trauermarsches, das von nun an sein restliches Leben begleiten würde, ohne dass er eine Möglichkeit hatte ihm zu entgehen. Da, plötzlich, unerwartet, zertrennte sich die größte und dunkelste der schwarzen Wolken. Des Himmels Blau wurde sichtbar, ein Sonnenstrahl erhellte die Betonquadern vor seinen Füßen, und als er nach rechts blickte, sah er, dass das Sonnenlicht seinen Weg auch in die mit Blumen bepflanzte Grube des berüchtigten augenärztlichen Vorgartens gefunden hatte. Jetzt plötzlich erschienen auch in seinem Gemüt die Bruchstücke der Leibnizschen Theodizee in einer anderen Sicht. Es war eine Wendung, in seiner Art wohl auch eine kopernikanische Wendung in Jonathans Denken. Denn in diesem Augenblick erschienen ihm die philosophischen Gespräche die Leibniz zu seiner Theodizee geleitet hatten, und diese nicht weniger als alle andern Verhandlungen über Philosophie, ob in höfischer oder ob, eher gewöhnlicher, in akademischer Umgebung, als gesellschaftliche Verständigungsversuche, und sogar das stille inwendige einsame Denken dünkte ihn jetzt vornehmlich als Anlage, als Vorbereitung zu gesellschaftlicher Mitteilung. Weil diese Mitteilung ihm so überaus problematisch erschienen war, hatte er auf die Begegnung mit einem Schüler wie Joachim gewartet, hatte ihn gewählt, hatte den jungen Menschen an sich gekettet, oder hatte versucht, vielleicht ungehöriger Weise, dieses zu tun. Jetzt war das so vorsätzlich und vorsichtig geknüpfte Band gelöst. Charlotte, nein nicht Charlotte, Eros hatte es zerbrochen. Gespräche mit Joachim waren unmöglich geworden, und es war nun das unvermeidliche Schicksal, dass seine, Jonathan Mengsens, gedankliche Bemühungen hinfort zu einem ewig kreisenden Selbstgespräch ausarten würden, und zu nichts anderem. Somit erschien auch Jonathans Lehrtätigkeit ihm in einem neuen Licht. War sie etwas anderes als Voraussicht oder vorläufige Erfüllung dieses tiefen Wunsches verstanden, und durch Einverständnis mit anderen Menschen verbunden zu werden? Er sah dann aber auch, dass die Sehnsucht nach Verständnis vielleicht in seiner Art nicht weniger trügerisch und verführerisch war, als das Bedürfnis geliebt zu werden. Im einen Falle wie im anderen durfte die Haltung nicht passiv, sie musste aktiv, sie musste transitiv sein: Wie es darauf ankam zu lieben statt geliebt zu werden, so kam es darauf an zu verstehen statt verstanden zu werden. Ihm würde diese Theodizee des anfänglichen 18. Jahrhunderts die Gelegenheit geben, die großen Themen die in ihr aufgeworfen waren zu überlegen, und somit gewissermaßen zu begreifen. Dass er weit weniger Gelegenheit haben würde Joachim an seinen Gedanken teilnehmen zu lassen als bisher, war eine Gegebenheit die es galt in die Schranken des transitiven Verstehens einzugliedern. Dieses Verstehen seinerseits würde ihn in eine wenn auch anonyme Geistesgesellschaft einbürgern und würde demgemäß dienen seine Einsamkeit zu lindern. Oder redete er sich all dieses ein, nur um sich zu trösten? Jetzt stand Jonathan an der Brüstung und blickte hinab in den gesenkten Vorgarten der einstigen augenärztlichen Praxis. Nicht nur das Kellergeschoss, das ganze Haus war jetzt leer, und schien doch kaum verwahrlost, denn die Sträucher waren beschnitten und aus den Blumenpflanzungen hatte man das Unkraut gejätet. Eine Bank an einer Seite des gepflasterten gesenkten Rechtecks, lud ihn ein sich zu setzen, und indem er die wenigen Stufen hinabschritt, klammerte sich seine Hand an das kalte schwarzlackierte Geländer. Merkwürdig empfand er, sich nicht mehr verlässlich besinnen zu können, wann er hier zuletzt mit Joachim im Gespräch gesessen hatte, und fragte sich jetzt ob dies überhaupt je geschehen, oder ob es in diesem Augenblick von seinem müden, enttäuschten, und von Verzweiflung bedrohtem Gemüt als ein Wunschtraum erfunden war. Indem er sich setzte, empfand er die Gefahr sich auf einen schlüpfrigen Seelenabhang zu begeben, von der Möglichkeit gefährdet, unwiederbringlich in eine Grube der Verzweiflung hinabzugleiten, vielleicht zu tief um jemals wieder einen Aufstieg aus ihr möglich zu machen. Er spähte, wie nach einem Rettungsring, nach seinem Vorsatz sich aus dem Trubel und der Unbestimmtheit seines Lebens in seine gedankliche geistige Arbeit zu retten, und sah dabei die Ironie, das Denken als Arbeit einzustufen, wo doch Denken nichts tun und Müßigkeit war, das Faulheitslager auf dem man sich von den wirklichen Mühen ausruhte. Hingegen war Arbeit die Tätigkeit, ein Leiden wobei man schwitzte, wovon man ermüdete und letztlich nur durch den Schlaf, oder vielleicht sogar nur durch den Tod, genesen und geheilt würde. Was er sich zuletzt angesehen hatte, denn lesen, sagte er sich, war ein zu anspruchsvolles Wort für seine Gedankentändeleien, war Leibnizens Theodizee. Was sollte er sich auch nur unter diesem Ausdruck vorstellen? Jetzt meinte Jonathan einzusehen, dass um die Problematik der Leibnizschen Theodizee überhaupt nur zu diskutieren, man gewillt und fähig sein müsste, die Hauptbegriffe von Gott, vom freien Willen und vom unbedingt Bösen kritisch in Frage zu stellen. Wird in gesellschaftlich religiösen Kreisen diese Skepsis untersagt, dann ist die Untersuchung des Gedankens unmöglich. So ergibt sich das Denken selbst als entscheidende Antwort auf diese bedeutenden Fragen. Und wenn sie dennoch für Leibniz so problematisch bestehen blieben, dass es ausgeklügelter Sophismen bedurfte um sie auch nur scheinbar und oberflächlich zu lösen, so bezeugte dies, dass Leibniz sich das freie, ungezügelte Denken nicht zu erlauben wagte, weil der vorgegebene Glaube an Gott, an Gottes Allwissen, an Gottes Allmacht und an Gottes Güte, mit anderen Worten, die Gottesvorstellung wie sie auf der protestantischen Kanzel vertreten wird, eine für die Hannoverschen und Berliner Hofgesellschaften unabdingbare Voraussetzung war. Ähnlich war ja dann auch das Verhältnis Descartes zum katholischen Dogma gewesen, das ihm die Vorstellung einer vom Gottesbegriff bereinigten Welt untersagte. Die hervorragende Leistung des Baruch de Spinoza war gewesen, diesem von außen die Seele bedrängenden Glaubenszwang zu widerstehen. Nein, sagte sich Mengs, die Schuld für den Zwang zum Gottesglauben bei Descartes auf die katholische, und bei Leibniz auf die lutherische Kirche zu schieben waren doch letzten Endes nichts als faule Ausreden, denn er selbst, Jonathan Mengs, spürte das dringende Bedürfnis zu einer subjektiven, seelischen Vergesellschaftung welche sich herkömmlich nur aus der Vorstellung eines die Menschen verbindenden und beschützenden Gottes ergab. Diesen, die geistig-seelische Gesellschaft ermöglichenden Gott, vermochte auch er, Jonathan Mengs nicht zu entbehren, und obgleich er keinem als dem allmächtigen, unsichtbaren Herrscher Rechenschaft schuldig war, schämte sich Mengs wegen seiner wenn auch nur unausgesprochenen und vorübergehenden Gottesleugnung. Es schien Jonathan offenbar, dass die Vorstellungen des Gottes oder der Götter und deren Eigenschaften, als gesellschaftliche Übereinkommen zu deuten waren, welche zugleich die Bedürfnisse der einzelnen Mitglieder und die Forderungen der Gesellschaft befriedigen, und durch die Gesellschaft konstatiert werden, ohne Bestätigung durch die Erfahrungen des Einzelnen oder der Gruppe. Das war eine Tatsache welche von den religiösen Verschiedenheiten der Völker bekräftigt wird. Ins Besondere erschien der hebräische Gott wie ein Spiegelbild der Seelen die ihm dienen oder die ihm geopfert werden. Wiederum entsprechen die Ungereimtheiten der Gottesvorstellung welche die Theodizee zu erklären und zu rechtfertigen beansprucht, den Unzulänglichkeiten und Unzufriedenheiten der an diesen Vorstellungen beteiligten Seelen. Mit dieser Feststellung erscheinen die durch eine Theodizee zu behebenden Widersprüche im Gottesbild als Projektionen, als Entwürfe der Grenzen und Unzulänglichkeiten der einzelnen Gläubigen, Beschränkungen welche die Menschen unfähig sind sich einzugestehen. Und doch sind die Erkenntnis und das Eingeständnis des menschlichen Erlebens, welche durch die Ansprüche der Theodizee in den Kosmos projiziert werden, das wesentliche Ergebnis, die teuere Ernte, des Ringens um die vermuteten und behaupteten Eigenschaften des Gottes. So weit war Jonathan Mengs mit seinem Verständnis zufrieden. Dennoch vermochte er sich nicht zu verhehlen, dass er traurig war die Gelegenheit zu entbehren, seine Gedanken Joachim mitzuteilen. In seiner Traurigkeit blieb ihm nichts übrig als mit seinen Verständnisversuchen fortzufahren, und sich weiterhin von den Leibnizschen Postulaten ablenken zu lassen. Die Fragen um die Freiheit des Willens, sagte sich Mengs, richten sich an das Bewusstsein des Einzelnen. Nur der Einzelne vermag sie zu beantworten. Bei dem Betrachten der Gegenwart, die ich von Augenblick zu Augenblick erlebe, komme ich zu dem Beschluss, dass ich mir dessen was ich soeben getan habe ausschließlich bewusst bin dieweil ich es erinnere, Nur eine kurze Zeitspanne vergeht, eh ich mein Tun vergessen habe. Dabei bin ich mir dessen, was ich auch in unmittelbarster Zukunft tun werde, bewusst, nicht eh, sondern erst nachdem ich es getan habe, denn obgleich ich von dem was ich soeben zu tun bereit bin, eine Erwartung hege, ich dessen was ich tue sicher zu sein vermag, und es im Gemüt bestätigt finde, nicht ehe ich es tue oder während ich es tue, sondern erst hinterher, nachdem ich es getan habe. Denn solange ich es noch in der Zukunft erwarte, besteht immer noch die Möglichkeit einer Änderung, einer Ablenkung in eine unterschiedliche unerwartete Handlungsweise. Bemerkt muss dabei sein, dass im Allgemeinen meine Handlungen mit einer Schnelligkeit vor sich gehen - oder ablaufen - die es mir unmöglich macht, indessen sie geschehen, sie mit meinen Gedanken, mit bewusstem Denken, zu bestätigen. Durch den Versuch die Bewegung mit dem Bewusstsein zu begleiten, wird sie verlangsamt, gestört, unterbrochen, gelähmt und letztlich unmöglich gemacht. Die bündige Handlung ist unbewusst, und muss unbewusst bleiben. Der einleuchtendste Beweis dafür, sagte sich Mengs, ist mir das Klavierspiel, oder das Üben auf einem anderen musikalischen Instrument. Indem ich versuchte jede Bewegung jedes Einzelnen der zehn Finger mit meinem Bewusstsein zu begleiten, würde das Musikspielen in melodisches Stottern zerbrechen, und würde somit unmöglich werden. Genauer bedacht, ist alles Spielen von Musik eine aus dem Unterbewusstsein quellende bewusste Handlung, vom Ohr rücklings bestätigt. Das Erlernen eines Musikinstruments ist die Einübung in eine Handlung die um zu gelten, aus dem Unbewussten oder Unterbewussten fließen muss. In diesem Sinne ist das Lernen des Musizierens eine Abrichtung des Geistes. Vergleichbar aus dem Unterbewusstsein, sagte sich Mengs, quillt auch das Rechnen, das Ausüben mathematischer Fähigkeiten, um die geistigen Tätigkeiten des Schreibens und des Sprechens unerwähnt zu lassen. Die Frage nach der Freiheit des Willens ist eine Frage um die Zeit. Die Unbestimmbarkeit der Grenzen der Gegenwart verursacht die Unbestimmbarkeit einer entsprechenden Freiheit des Willens. Das Bedenken des zukünftigen Tuns ist Aufgabe und Betätigung des gesunden Gemüts, und ist dem wirksamen, verantwortlichen Handeln unerlässlich. Ein jeder von uns bedenkt sein zukünftiges Tun. Das Bedenken des Künftigen bestimmt voraussehbares Handeln, und somit die Persönlichkeit. Dennoch vermag dies Bedenken der zukünftigen Situation und der Handlung die sich in ihr und aus ihr ergeben wird, das Kommende niemals endgültig und unwiderruflich zu bestimmen; eben weil die Handlung in der Zukunft liegt und liegen muss, und weil die Zukunft, spezifisch, weil das Erleben der Zukunft, in unentrinnbarer Weise unvoraussehbar ist. Die Frage um das Bestehen eines freien Willens lässt sich als Ungewissheit betreffs der Geschwindigkeit der Zeitverlaufs umdeuten. Der gewöhnliche Verlauf der Zeit ist zu schnell, um das was als Handlung benannt werden möchte, dem Bewusstsein in einer erlebbaren Gegenwart vorzustellen. Die Behauptung eines erkenn- und bestimmbaren freien Willens stützt sich auf eine vorgestellte Verlangsamung des Zeitverlaufs die nie beobachtet wird und die auch wohl unerlebbar ist. Die Verkörperung, die Personifizierung Gottes hat zur bedeutenden Folge, dass sie die Frage nahe stellt, ob auch Gott über "freien Willen" verfüge, ob er an Gesetze gebunden ist, oder ob sein Walten beliebig, eigenmächtig sein möchte. Man mag vorschlagen, dass die Handlung des Gottes gesetzmäßig ist, nicht weil sie dem Gesetze folgt, sondern weil sie das Gesetz erschafft. Leibniz behauptet, Gottes Handeln bestehe darin, dass er, der alles vorausgesehen, entsprechend seiner Weisheit, alles Weltgeschehen im voraus gesetzlich festgelegt hat, und somit der Notwendigkeit des weiteren Handelns enthoben ist. Diese Nebeneinanderstellung von göttlichem und menschlichem Handeln setzt die Unvereinbarkeit des bewussten, willkürlichen Handelns nach "freiem" Willen mit tatsächlichem Erleben in ein Licht das sie unverkennbar macht. Denn das Handeln Gottes, wenn man von so etwas schreiben darf, ist die reine Gesetzmäßigkeit. Dementsprechend wird auch der Mensch tugendhaft dadurch, und nur dadurch, dass er gesetzmäßig handelt. So etwa lautet unser Erbe aus dem 18. Jahrhundert. Im Neunzehnten lernten wir dann, dass die Gesetze vom Menschen erfunden, ein Ergebnis sprachlicher Beständigkeit und Verlässlichkeit, dass sie ein in die Objektivität projiziertes Spiegelbild des menschlichen Geistes sind. All diese Erkenntnis hat Spinoza mit seinem Schlüsselwort: Deus sive Natura, vorausgenommen. Nebenbei, - oder nicht so nebenbei, - bemerkt, dienen Leibnizens Lehren, vielleicht im Sinne von Zwingli und Calvin, die Beziehung zwischen Mensch und Gott in ein Verhältnis zu verwandeln welches Prädestination genannt, als Erscheinung einer prästabilierten Harmonie verstanden werden muss. Auch betreffs der Tugend und des Guten hat Spinoza die bündige Antwort gefunden. Abwesend eines Gesprächspartners fuhr Jonathan Mengs mit sich selber zu sprechen fort. Leibniz fragt, warum der allwissende und allmächtige Gott das Böse duldet. Ich möchte, sagte sich Jonathan Mengs, diese Frage vorerst außerhalb jeglichen Zweifels an der Güte eines allwissenden und allmächtigen Gottes erwägen, und lediglich bedenken worin das Böse welches es ihm zu beseitigen gebührt denn eigentlich bestehen sollte. Die naive Antwort dreht sich um das Leben und um das Glück des Fragenden. Nicht nur der Krankheit, der Traurigkeit und dem Schmerz, die doch so offensichtlich zum Menschensein gehören, sondern auch dem Tod soll zugunsten eines ewigen paradiesischen Lebens als verhütbarem Bösen, vorgebeugt werden. Das ist eine Vorstellung die auf ein ewig sich ausdehnendes Paradies mit einer ewig zunehmenden Anzahl ewig lebender unsterblicher Menschen hinweist, ein hypothetischer Vorgang in bemerkenswerter Analogie mit den vermeintlichen räumlichen und zeitlichen Grenzen einer sich mit Lichtgeschwindigkeit ins Nichts ausdehnenden Welt von welcher die zeitgenössische Astrophysik berichtet. Eh ich mir über den Ursprung des Bösen weitere Rechenschaft abzulegen vermag, sagte sich Mengs, muss ich feststellen, was denn das Böse tatsächlich ist. Im 18. Jahrhundert wurde das zerstörerische Erdbeben von Lissabon als Widerlegung der Güte Gottes zitiert. Gottes Güte hätte das Erdbeben als vermeintliches Böses nicht erlauben dürfen. Die vom Erdbeben erzeugte Zerstörung wurde durch den ausgelösten Tsunami wie durch eine Sintflut verschlimmert. Sollten vielleicht das Erdbeben und die Flut welche 1755 Lissabon zerstörten als göttliche Strafen gedeutet werden, so wie einst die ursprüngliche Flut als göttliche Strafe für der Menschen Sünden erklärt wurde? Ein naheliegender Grund wäre die aufklärerische Abtrünnigkeit der damaligen Bevölkerung vom Glauben und dessem dogmatischem Zubehör. Bemerkenswert, sagte sich Jonathan Mengs, es gibt nirgends eine Andeutung, dass die Lissabon Katastrophe den Menschen als Sündenvergeltung angekreidet werden sollte. Stattdessen verlegte man sich auf die Voraussetzung einer möglichen göttlichen Ungerechtigkeit. Nicht der Mensch hat sich seiner Unvollkommenheiten zu verteidigen. Es ist der Gott dem es angerechnet wird, dass er trotz seiner Allwissenheit, trotz seiner Allmacht, und trotz seiner vermeintlich unbeschränkten Güte, eine dem Menschendasein so zerstörerische Katastrophe hat geschehen lassen. Bei diesen Erwägungen drängten die Umstände seines eigenen Lebens, die zu den Gedanken über die große Lissabonner Katastrohe Ausschlag gegeben hatten, sich aufs Neue in Jonathans Gemüt. Eine Wolke von Verlegenheit und Scham umwitterte ihn bei dem Vergleich der Leiden der vielen tausenden von Opfern des damaligen scheinbaren Versagens der unfehlbaren Gottheit, und der Geringfügigkeit seiner eigenen Unzufriedenheit und Enttäuschung, infolge des eingebildeten oder vorgestellten Verlustes, der Auflösung oder vielleicht nur Lockerung seines Verhältnisses zu Joachim. Denn seiner fortwährenden Liebe für den jungen Menschen stand doch nichts im Wege. Nein, die einzig wirkliche Gefahr drohte nicht von Seiten Joachims, und weiß Gott nicht von Seiten der armseligen jungen Frau die sich an ihn gebunden, oder die ihn an sich gebunden hatte. Die einzig wirkliche Gefahr drohte von ihm, Jonathan Mengs, selbst, von seiner eigenen Seele, von seinem eigenen Unverständnis seiner Beziehung zu Joachim, wenn nicht von deren Ungehörigkeit. Und dieser Gefahr zu entgehen, lag in seiner, in Jonathans, Gewalt. Sein Studium, seine Hingabe an die Literatur, seine Widmung dem Geist und dem Denken, das sah er jetzt ein, war Vorbereitung eben dieser Problematik seines Lebens zu begegnen. Nein, zu lösen vermochte er sie nicht, aber sie zu bewältigen, jedenfalls in dem beschränkten Maß nicht von ihr zerkirscht zu werden, das waren Fähigkeiten die seine bewusste Einarbeitung ins Denken und Fühlen der Menschen ihm geschenkt hatten. Er überlegte und bedachte seine berufliche, nein, eigentlich war es seine menschliche Laufbahn. Angefangen mit der Absicht wissenschaftlich, geistes-wissenschaftlich mit seinen Kollegen zusammen zu arbeiten, hatte dann aber alsbald gemeint zu entdecken, dass seine Kollegen nur geringes Interesse an den Gegenständen ihrer Bemühungen hatten, ehr an dem Einfluss und an der Macht deren sich zu vergewissern sie bestrebt waren, und dass sie an den Ergebnissen seiner Bemühungen überhaupt kein Interesse hatten. Ob ihre Geringschätzungen seiner Arbeit auf Eifersucht und Neid beruhten, oder auf Mängel, die er selber nicht zu sehen vermochte, konnte er nicht bestimmen, dieweil auch er, Jonathan Mengs, ehrlich gesagt, für das was jene zu entdeckt gehabt meinten, keine Begeisterung, keine Bewunderung oder auch nur Anerkennung aufzubringen vermochte. Joachim, so hatte er gemeint, Joachim würde für ihn, für seine Bemühungen, für seine Anschauungsweisen vielleicht als der Einzige seiner Schüler Verständnis haben. Das war dann ja auch der Fall gewesen, und war es immer noch ... oder täuschte er sich auch darin? War es vielleicht lediglich, dass Joachim sich in eine Abhängigkeit von ihm und von seinen Begünstigungen verfangen hatte, eine Abhängigkeit von der den jungen Menschen seine neue Beziehung zu Charlotte allenfalls teilweise zu befreien diente. Diese Überlegungen die von dem Lissabon Desaster 1755 abzulenken schienen, richteten die Gedanken dennoch auf die Bestimmung von Gut und Böse, nicht aber auf eine außerweltliche Macht bezogen, sondern auf genau das, was mir, dem Einzelnen, zu tun erlaubt, geboten, oder untersagt und verboten sein möchte. Was gut oder böse, richtig oder falsch ist, das bezieht sich, so meinte Jonathan Mengs jetzt sehr eindeutig zu verstehen, nicht auf das was Gott oder Teufel unter erdenkbaren Umständen tun oder lassen möchten, sondern auf das was mir unter gegebenen Gelegenheiten und Möglichkeiten zu tun gebührt. Was aber das Weltgeschehen betrifft, ob von menschlichen oder außermenschlichen Kräften geführt, so will ich es, so muss ich es, sagte sich Mengs, als Ergebnis des göttlichen Willens hinnehmen, unter dem Vorbehalt der Spinozistischen Einsicht: Deus sive Natura. Die Frage welche mich beschäftigt ist nicht, die Güte Gottes, sondern die Pflicht des Menschen gut zu handeln, und seine Fähigkeit gut zu sein. Wieder befand sich Jonathan Mengs auf dem Bürgersteig der Landesallee. Es war der gewohnte Weg zur Universität und in sein Studierzimmer in der Bibliothek. Wie lange er auf der Bank in der Grube des augenärztlichen Vorgartens gesessen hatte, wusste er nicht mehr. Auch auf den Aufstieg über die mit Steinen gepflasterten Treppenstufen vermochte er sich nicht mehr zu besinnen. Am erstaunlichsten mutete es ihn an, dass Joachim ihm jetzt, wenn vielleicht auch nur vorübergehend, nicht mehr fehlte. Die Absicht in den Gedanken über seine Arbeit Schutz und Ruhe zu finden hatte sich bewährt. Und diese Gedanken zielten auf das Thema das Goethe ihm verboten hatte: es waren die Gedanken über das Denken. Er erlebte es jetzt als eine aus dem Unterbewusstsein von selbst, ohne seine Bemühungen quellende Bewegung, lebensnotwendig wie das Atmen, die ihm nun als lindernde und tröstende Beschäftigung von der unentrinnbaren Vereinsamung ablenkte. Das reine Denken, so meinte Jonathan jetzt einzusehen, würde in ein Spielen mit Worten ausarten, denn um Sinn zu finden, müsste es sich nach außen wenden weil es Ausgang und Ziel im Erleben bedurfte. Das Denken verlangte als Ausgangspunkt, als Ziel oder als Stütz- und Angelpunkt, ein Geschehen das unmittelbar den Geist bewegte. Und ein solches Geschehen war seine Beziehung zu dem jungen Menschen. So war es unvermeidlich, dass seine Gedanken zu dem Verlust von Joachim zurückkehrten. Sein Denken darüber war ihm vertraut in einem Maße, dass er nichts Neues würde hinzufügen können, wenn nicht nur dies: dass eine Aufklärung von Seiten Joachims undenkbar war insofern eine Wandlung in Joachims Gefühlen kaum zu erwarten wäre, aber dass es ihm, Jonathan Mengs möglich sein müsste, und notwendig war, seine Gedanken, seine Gefühle, seinen Geist, den Gegebenheiten gemäß zu verwandeln. Denn über die Gemütsvorgänge anderer, einbeschlossen auch Joachim, hatte Jonathan keine Befugnis. Die waren ihm nicht zugänglich. Aber dass sein eigenes Denken und Fühlen sich dem Erleben gemäß verwandeln müsste, war unentrinnbar und in schlüssigster Weise verlässlich. Schließlich befand sich Jonathan Mengs auf dem Universitsplatz. Er betrachtete ihn als einen Knotenpunkt seines Daseins. Er dachte zurück ans erste Mal wie er hier aus dem Untergrundbahngehäuse auftauchend, das Licht eines neuen Lebens, - er meinte des Lebens des Geistes - zu erblicken gemeint hatte. Von hieraus hatte er damals, als er noch Hoffnungen hegte alles lernen zu sollen, um einst alles wissen zu können, den Weg in die vielen Vorlesungen gesucht, von denen er sich ausführliche Aufzeichnungen gemacht, die er dann immer und immer wieder repetiert hatte, um ebenso belesen, so kenntnisreich und so unterrichtet, beliebt, bekannt, berühmt, historisch, und ja, er durfte es sich nicht verhehlen, letztendlich geistig unsterblich und somit wirklich zu werden wie die anderen geistig Großen. Jetzt fand er all diese Bemühungen sinnlos, sie zu beschreiben lächerlich; und das Erkennen ihrer Eitelkeit, die einzige, die letzte Wahrheit die ihm zu begreifen gelungen war und je gelingen würde. All diese Einsichten zu würdigen, setzte er sich auf die steinerne Bank, die im Halbkreis in gehöriger Entfernung von der Treppe in den Untergrund stand. Da verfiel er in Gedanken, in Erinnerungen, fast waren sie zu Träumen geworden, und es mag sein, dass er eingeschlafen war. Plötzlich hörte er etwas das ihn weckte, oder träumte er auch dies, von einer unerwarteten Stimme geweckt worden zu sein. Es kam ihm der Gedanke, dass wenn es ihm möglich sein sollte, auch das Gewecktwerden zu erträumen, es niemals gelingen würde sicher zu sein, dass er wach wäre. Es war die etwas rauhe doch nicht unmelodische Stimme eines alternden Mannes die er zu hören meinte. "Wenn ich nicht irre," sagte die Stimme, "erkenne ich sie als Professor Jonathan Mengs. Habe ich recht, dann sind sie der Schüler und Protegé meines verstorbenen Freundes Jacob Döhring; habe ich unrecht, dann mache ich sie statt dessen zum Helden in einem meiner Märchen. In jedem Fall heiße ich Murphy, dem eine verstorbene Freundin einst sagte, 'Sie sehen die Dinge zu klar,' dann aber, weil es auch sie selber war von der sie erzählte, sich weigerte mich zu heiraten. So bin ich allein geblieben. Jacob Döhring war mein einziger Freund, der mich schließlich wegen seiner Liebe zu Dorothea Meißner verließ. Das war eine Liebe an welcher er sterben musste. Seit seinem Tod bin auch ich verlassen. Aber ich beklage mich nicht. Was mir geschah ist natürlich, denn Jedermann stirbt an der Liebe, weil die Liebe das Leben ist, und der Tod, wissen Sie, ist der unumgehliche Gipfel auf dem Jedermanns Leben endet." Inzwischen hatte Jonathan längst entschieden er sei wach, und er ließ Murphys Schwall ohne Einwand über sich ergehen, wenn nur um sich sein Wachen zu bestätigen. Vom Ausfallen jeglicher Widerrede war Murphy ermuntert, und er fuhr fort. "Auf diesem selben Platz wo sie jetzt sitzen, fand ich einst Jacob Döhring in Trauer über einen großen Verlust versunken, als seine Dorothea ihn um einen anderen verlassen hatte. So traurig wie er damals, find ich heute bist auch du. Entschuldige, dass ich dich duze, aber zuweilen ist das Gefühl unwiderstehbar, und unvermeidbar ist’s sich von der Sprache zur Nähe verleiten zu lassen." Da erinnerte sich Mengs, dass er nun völlig wach war, und so begann er seine Rede: "Du bist ein kluger Mensch, ein guter Psycholog, hast recht wenn du vermutest dass ich etwas verloren habe. Und doch nicht ganz, denn beim Verlieren hab ich mich gefunden. Joachim Magus ist der Name des jungen Menschen den ich an mich zu binden strebte. Das Maß mit dem ich's tat, muss mir heute als ungehörig erscheinen. Er war der einzige nach Döhrings Tod von dem ich meinte, dass er mich je verstehen könnte. Doch welch ein Hochmut, zu denken, dass mich zu verstehen der Mühe irgend eines andren Wert sein sollte. Zu erwarten verstanden zu werden darf ein jeder nur von sich selbst. Das findest du doch auch?" "Da hast du recht," sagte Murphy, "und doch, indem du dich mir in dieser Weise anvertraust, ist es nicht selbstverständlich anzunehmen, dass du verstanden sein möchtest?” “Auf dem Wege nach hier hab ich versucht mich auf leidliche Weise mit dem eigenen Denken, sollte ich sagen, mit der Philosophie zu trösten," sagte Mengs. "Da bist du wahrhaftig nicht der erste. Du machst es Boethius nach." "'Was gebührt es mir zu tun?' fragte ich, zuerst Kant. Und dessen Rückführung auf allgemeine kategorisch notwendige Gesetze wollte mich nicht überzeugen, denn dabei verlief ich mich in ein Sprachenlabyrinth ohne Ausweg. Da klopfte ich an bei Leibniz und war in anderer Weise enttäuscht." "Bitte erklär mir wieso." "Ich vermochte nicht zu begreifen, wie, wenn der Herrgott, ganz am Anfang, die Welt durch eine prästabilierte Harmonie geordenet hat, es dann es möglich sein sollte dem Menschen die Möglichkeit eigens zu handeln zuzuschreiben. Kannst du mir diesen Widerspruch erklären?" "Nur als gesellschaftsbedingte Übung, wenn dir eine solche Erklärung genügt." "Wie meinst du?" "Schon im 17. Jahrhundert, nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, regte sich besonders an den kleineren Fürstenhöfen Deutschlands ein Bedürfnis nach Geist, nach Kunst, nach jener Lebensart die wir heute Kultur nennen. Die Fürsten und besonders die Fürstinnen behaupteten sich als Mäzeninnen, als Gönnerinnen der Philosophen und Mathematiker. Erinnere Christina, die Tochter Gustav Adolfs, die, nachdem ihr Vater in der Schlacht bei Lützen gefallen war, die Königin von Schweden wurde, und Descartes nach Stockholm holte um sich von ihm belehren zu lassen. Erinnere auch die Fürstin Sophie von der Pfalz und von Hannover, die man um ein Haar, wäre Queen Anne ein wenig früher gestorben, als Königin von England gekrönt hätte, dieselbe Sophia von Hannover die sich und ihre Tochter Sophie Charlotte, von Leibniz die gottlosen französischen Aufklärungslehren widerlegen ließ. Es kann kein Zweifel bestehen, dass Leibnizens ethische und theologische Lehren auf seine hannoverschen Gönnerinnen abgestimmt sein mussten, dass Leibniz sich die Aussprache keiner Gedanken erlauben konnte, die der Fürstin und der Prinzessin anstößig waren, und dass die lutherisch geprägten Vorurteile über Mensch und Gott einen Rahmen bildeten dessen Übertreten mit seinem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wohlergehen unvereinbar war." "Und wie haben sich gesellschaftsbedingte Einschränkungen des Denkens seitdem entwickelt?" fragte Mengs, der von Murphys tiefen Gedanken und seinem Freisinn stark beeindruckt war. "Ach," sagte Murphy, "ich schäme mich ein bisschen, über Themen zu dozieren, von denen meine Kenntnisse so oberflächlich sind. Was danach im deutschen Denken jedenfalls im 18. Jahrhundert vor sich ging war ein Austragen des Gegeneinander der Ansprüche einerseits des protestantischen Glaubens und andererseits einer skeptischen weltlichen Vernunft, die weder Gott noch Seele zu deuten wusste, in Abwesenheit eines radikales Verständnisses dessen was diese entgegengesetzten Ansprüche denn eigentlich besagten." "Wärst du dazu imstande?" "Ich könnte es versuchen, ziehe aber der Klarheit halber vor, meine historische Analyse, wie improvisiert auch immer, bis in die Gegenwart fortzuführen." "Entschuldige bitte, dass ich dich ablenkte." "Ich deute Kants Transzendentalphilosophie als Versuch diesen Widerspruch, dieses Gegenüber von Objektiv und Subjektiv zu schlichten." "Und mit Erfolg?" "Das kommt darauf an, was man als Erfolg bezeichnet." "Historisch, gewiss. Denn Kant gilt als der tiefste Denker der Neuzeit. Sein war ein ungeheuerer gesellschaftlicher Sieg, der kürzlich darin gipfelt, dass man neuerdings, nachdem man die Universität in Königsberg, wo er gelehrt, zerstört hatte, versucht sie wie den Phönix aus der Asche auferstehen zu lassen und sie als Baltische Immanuel Kant Universität in Kaliningrad mit seinem Namen gesegnet in ein neues Leben zu erwecken. Und dies ohne auch eine einzige Vorlesungsreihe über Philosophie, geschweige denn über die kantschen Lehren." "Ich möchte nicht behaupten," sagte Mengs, "dass ich diese Philosophie je verstanden habe." "Das gleiche muss ich von mir berichten," bestätigte Murphy, "und dabei erklären, dass was ich auf beiden Gebieten, der Epistemologie und der Ethik, nicht zu verstehen vermag, als Übertragung in den undurchsichtigen Bereich der Sprache deute, in dieselbe Dunkelheit welche meine Beziehung zur leibnizschen Monadologie und Theodizee, auf ein Auswendiglernen und Nachsprechen ohne jegliches überzeugtes Verstehen beschränkt." "Aber bitte, erklär mir doch," war Mengsens Zusammenfassung dieser Ausführungen, "gemäß allem was ich von dir gehört habe, hast du niemals Philosophie studiert, geschweige denn, dass du sie gelehrt hättest." "Da hast du recht," antwortete Murphy, "auch scheue ich was ich dir berichtet habe als Philosophie anzubieten. Ich erhebe keinen Anspruch darauf Philosoph zu sein, oder auch nur das Geringste davon zu wissen. Gestehen muss ich, dass ich nicht aufhören kann zu denken, und dass mein Denken der Sprache bedarf, der Worte die ich höre, die ich ausspreche, die sich wie unsichtbare Winde durch mein Gemüt bewegen. Ich muss bekennen, dass ich in Gedanken lebe, dass mir das Denken fast so notwendig ist, wie das Atmen. Das Denken ist ein Sprechen mit mir selbst, dass mich in meiner Einsamkeit am Leben erhält; denn eh ich mich neben dich auf dieser Bank niederließ, hatte ich seit Monaten, hatte ich seit Jahren mit keinem gesprochen. Die Zeit die vergangen ist vermag ich nicht zu überschauen; weiß nicht wie lang es her ist seit ich zum letzten Mal Gedanken tauschte, ich glaub es war als ich mit Döhring sprach, kurz eh er starb." "Lieber Murphy, ich danke dir vielmals für dein Vertrauen, und hoffe sehr, in nicht entfernter Zukunft die heut begonnene Unterhaltung ausführlicher noch, wenn es denkbar ist, fortzuführen." Mit diesen Worten hatte das Gespräch geendet. Schließlich war Mengs in seinem Studierzimmer angelangt. Das lag tief versteckt im Bücherlager der monumentalen Universitätsbibliothek. Und indem Mengs eintrat, besann er sich der vielen Jahre während diese Klause seinem Lehrer Jacob Döhring zum Arbeitsort gedient, er diese Tür regelmäßig aufgesucht hatte. Jetzt wurde Mengsens Gedächtnis von dem Bild gefesselt, wie er einst hier vor dieser Tür vergebens geklopft, und dann auf seinen Lehrer gewartet hatte, um ihm einen neu aufgetauchten Gedankengang vorzutragen, nämlich seine vermeintliche Entdeckung, dass die Bibel als Muster jeglichen Schrifttums zu gelten habe, und dass demgemäß an allem Geschriebenen ein Abglanz biblischer Heiligkeit erkenntlich sei. Nie würde er vergessen wie Döhring ihm als erste Antwort die Rüge seines eigenen Lehrers Wilamowitz-Möllendorf zitiert hatte, “Junger Mann, eh Sie zu philosophieren beginnen, machen Sie erst einmal ein paar Konjekturen.” Alsbald aber, hatte diese Ablehnung sich in wenngleich unausgesprochene Anerkennung verwandelt, die Döhring durch häufige Aufforderungen zu beruflicher Zusammenarbeit zunehmend zum Ausdruck gebracht hatte, bis seine Bemühungen um Mengsens Habilitierung als “full professor” schließlich erfolgreich waren. Der Vergleich zwischen Döhring als sein eigener Lehrer und ihm selbst als der Lehrer Joachims war zu naheliegend als dass Mengsens Versuch ihn aus dem Gemüt zu schlagen hätte gelingen können. Ohne weitere Bedenken erlaubte er sich die zugegeben heikle Seelenforschung. Die Erotik welche heute die Beziehung von Schüler und Lehrer zu beeinträchtigen drohte, schien aus Joachims Liebschaft mit Charlotte zu keimen, der jungen Frau, der einstigen talentlosen Klavierschülerin die sich in der Aletheia Universität zur Kochkunstspezialistin hatte ausbilden lassen, zu eben der Zeit in der sie sich ungebeten zur Verwalterin des Haushalts, seines, Jonathan Mengsens Haushalts in der Linnaeusstraße, bestellt hatte. Gewiss, entgegen Wünschen die er nicht auszusprechen gewagt hatte. Aber was hätte er anders machen sollen, denn Joachim hatte sich in Charlotte verliebt, oder war von ihr verführt worden. Hätte er Charlotte aus seinem Hause gewiesen, wäre es unmöglich geworden Joachim zu halten und er hätte den Jungen allerwahrscheinlichst sofort und unwiederbringlich verloren. Er, Jonathan Mengs, war weder Psychologe noch Psychiater, geschweige denn dass er auch nur vor sich selbst als Psychoanalytiker aufgetreten wäre. Er war Literaturhistoriker, vielleicht sogar Philosoph, und es war sein Amt die von den Dichtern geschilderten Seelengestalten zu verstehen und zu deuten. Auf den Gefilden der Philosophie gehörte es zu seinen Pflichten nicht nur die Entwicklungen menschlicher Gedanken, sondern auch die Entfaltungen und Enttäuschungen menschlicher Gefühle nachzuziehen. Sein Beruf erforderte, dass er als Seelenkundiger wirkte, und als ein solcher, mehr wahr- und wirklichkeitsgetreu als die Spezialisten welche sich als Sachverständige behaupteten. γνῶθι σεαυτόν, Erkenne dich selbst! Diese Worte waren, laut Pausanias, in die Wand des Vorhofs des apollonischen Tempels zu Delphi gemeißelt. Ein unumgänglicher, mit Schicksal belasteter Auftrag, das verstand Mengs, und meinte sich lebenslang um seine Erfüllung bemüht zu haben. Er verstand nur allzuwohl, dass in der Moderne alle Leidenschaft als Ausdruck des Eros gilt, dass Platons Diotima ungeachtet, der Eros unbestreitbar als geschlechtlich gedeutet wird, und demgemäß, alle Leidenschaft zwischen Männern als homosexuell. Es bestand für ihn keine Notwendigkeit die Zergliederung zu diesem Äußersten zu treiben. Es genügte, dass er sich seine Leidenschaft zu Joachim eingestand, und er erklärte sich, dass hier die Liebe zu einem Vater durch die Liebe zu einer Frau ersetzt wurde. Insofern beide, väterliche Liebe und geschlechtliche Liebe natürlich geheißen wurden, musste auch seine Liebe zu Joachim als natürlich und gehörig akzeptiert werden. In diesem Zusammenhang war zu bemerken, dass zwecks der Benennung der höchsten, der göttlichen Liebe die Schriftsteller und Übersetzer der Bibel sich des Begriffs der Agape statt des Eros bedienten. Diese Analyse befriedigte Jonathan. Vorübergehend erwog er ob sie theologisch, philosophisch oder nur philologisch war. Dann sah er ein, dass dies keinen Unterschied machte, weil er allein war, einsam, und weil es keiner Schöngeisterei gelingen würde ihn aus dem Moor der Verzweiflung in welches er am Versinken war, zu erretten. Er setzte sich auf Döhrings Stuhl an Döhrings Arbeitstisch, legte sein Gesicht in seine offenen Hände und überließ sich seinen Tränen. Wie lange er so gesessen haben mochte, wusste er nicht. Zunehmend aber empfand er sich und seine Tränen lächerlich, fast albern, ein Schauspieler auf der Bühne vor sich selbst als Publikum beim Inszenieren der von ihm selbst komponierten Komödie. Nur musste er einen Ausweg finden. Das war leichter gedacht als getan. Denn es war ja ausgerechnet das Denken gewesen das ihn zu diesem Punkt geleitet hatte. Er befand sich in einem verschlungenen Gedankennetz gefangen. Und indem er sich aus der Gedanken Fangarme zu befreien suchte, merkte er wie das Denken schwand, wie es sich verflüchtigte, wie es taute, wie es zerfloss, dass es sich aufhob, dass es verdunstete, und was verblieb oder nicht verblieb war das Nichts. Denn wer das Nichtsein vergegenwärtigt, den bestraft die Vernunft, den bestraft der Geist mit Wahnsinn. Das Nichtsein war die Konsequenz von Jonathan Mengsens Erleben. Das Nichtsein war auch die Konsequenz von Jonathan Mengsens Leben, und das Nichtsein in Betreff auf das Leben war der Tod. Über den Tod ließ sich nichts Gültiges aussagen. Indem er über das Nichtsein nachzudenken versuchte, stieß sein Denken auf Katenusens Lehre vom Entidealisieren, und er fragte sich, in Anbetracht der Unmöglichkeit über den Tod etwas Gültiges auszusagen, ob die Vorstellung des Entidealisierens überhaupt irgend einen Sinn zu enthalten vermöchte. Diese Unbestimmtheit konnte er nicht klären, meinte dann aber zu sehen, dass mit dem Dahinfallen von Joachims Beziehung zu ihm, auch der Sinn von manchem, wenn nicht gar von allem was er, Mengs, seinem Schüler gemeint hatte lehren zu sollen verlustig ging. Am unmittelbarsten beeindruckte ihn jetzt die Unerreichbarkeit des Vergangenen, und die Täuschungen die sich aus allen Versuchen ergeben, darzustellen wie es eigentlich gewesen. Der Sinn der Literatur war Erleben des Lesens, worin das Erleben des Wortes, und besonders dieses, einbegriffen war. Deshalb würde jeder Leser seine eigene Deutung eines jeden Schriftwerks haben. Dem intelligenten und empfindsamen würde auch die einfachste Zeile zu einer Botschaft dienen. Der Anspruch aber eine Rangordnung des schriftlich Überlieferten aufzustellen und zu behaupten, war Selbsttäuschung und kindischer Betrug, denn kein Mensch vermochte seinem Nächsten die Seelenlandschaft zu vermessen. Auch in dieser Hinsicht hatte er Joachim ein Unrecht angetan. Das sah Mengs jetzt ein. Zu trösten vermochte er sich letzten Endes nur mit dem Gedanken, dass mit dem Verlauf der Zeit, und vielleicht besonders in den Armen Charlottens, die Verletzungen die er dem Jungen zugefügt hatte, heilen würden. Diese Zuversicht beruhigte ihn, und er wandte sich dann doch zuletzt, schließlich zu seiner Arbeit. KK 2. Kapitel KK >> Zweites Kapitel - 919 << Beide Begebenheiten waren dieser kleinen Welt unerwartet zugestoßen. Zuerst die Ankunft der beiden Katenus und dann Charlottens Entführung vom Richter Adams, hatten das Döhringhaus aus den Fugen gehoben, und Charlottens scheinbar unversehrte Rückkehr hatte keineswegs gereicht die auch nur angehend normalen Situationen an welche man sich vormals gewöhnt hatte, wiederherzustellen. Die Unsicherheit mochte sich darauf zurückführen lassen, dass jedes der verschiedenen Haushaltsmitglieder an die Gefahr in welche Katenus und Elly durch ihre Verfolgung ausgesetzt waren unvermeidlich an jedem Tage aufs Neue erinnert wurde. Die beiden Flüchtlinge unterließen jegliches Klagen. Die Tagesstunden verbrachten sie in dem geräumigen Vorderzimmer im zweiten Stock das einst Jacob und Elsbeth Döhring als Schlafzimmer gedient hatte. Abends, im Dunkeln, machten sie kurze Spaziergänge durch die leeren Straßen. Die Zukunft war ihnen und ihren neuen Familienmitgliedern im Döhringhaus ein undurchdringliches Geheimnis. Besonders Joachim war um die Katenus besorgt, denn in einer ihm eigenen Weise fühlte er sich für beide von ihnen verantwortlich. Seine Sorge um sie diente seine Gedanken von den Unbestimmtheiten seines eigenen Lebens abzulenken. Über die Zahl der Jahre die er hier im Döhringhaus, unter der Obhut von Jonathan Mengs verlebt hatte, vermochte er sich im Stegreif keine Rechenschaft abzulegen. Joachim besann sich des Anfangs seines Studiums als er ins Eulenhaus gezogen war und der Super, der sich Mac nannte, tatsächlich aber den Nachnamen Lynch trug, versucht hatte ihn auf den Namen Johnny umzutaufen. Immer wieder entdeckte er die Notwendigkeit sich die Jahre und Tage die seitdem bis zu dem heutigen Tage vergangen waren aufzuzählen, und geriet dabei auf eine Nummer die ihn zunehmend verwunderte. Joachims neue intimere Beziehung zu Charlotte hatte unvermeidlich die Lockerung seines Verhältnisses zu Jonathan zur Folge. Eine Annahme, dass Joachim die Lösung seiner Beziehung zu Jonathan geplant oder auch nur gewünscht hatte, wäre unbegründet. Es war eine Veränderung die sich natürlicher Weise aus der wachsenden Intimität der beiden jungen Menschen ergab. Jonathan, seinereits, verstand das sehr gut. Er verstand es besser als Joachim, der von dem ungewohnten Erleben das in ihm und um ihn stürmte überwältigt schien. Jonathan verstand auch, dass jedes Urteil, dass jeder Kommentar, dass auch nur die Beschreibung dieses Verhältnisses missverstanden werden möchte, und dass es seine, Jonathans, Pflicht war, Joachim gegenüber zu schweigen, eine Aufgabe die umso schwieriger war, weil Jonathan Grund hatte zu befürchten, dass sein Schweigen nicht weniger als die Darlegung seiner Gedanken und Gefühle den Jungen als eine Ablehnung, als eine Zurückweisung, schmerzen möchte. So ergab sich das schwierige Zusammenleben als ein Umstand dem mit Worten nicht abzuhelfen war. Dabei erwog Mengs ob nicht vielleicht sehr bald, wenn nicht heute, dann morgen oder nächste Woche, Joachim ihn, sein Verständnis und seine Liebe dringender benötigen möchte denn je. In Bezug auf Charlotte war Erpressung das hässliche, bedrohliche Wort das Jonathan nicht aus seinem Gemüt zu schlagen vermochte. Kern oder Quelle seiner Besorgnis war die durchdringende Widerrechtlichkeit der Behörden, eine Betragenseigenschaft welche zwar auf der Insel am grellsten in Erscheinung trat, aber welche man auch hier bei den vermeintlich nüchternen und verlässlichen Festlandsbehörden in Rechnung ziehen musste. Und wieviel besagte über dieses Thema nicht schon die Unordnung welche in der Aletheia herrschte! Wenn man sich die Tatsachen so darstellte wie sie in die Augen fielen, dann war es unmöglich den Beschluss zu umgehen, dass es Charlotte gewesen war, die das Gespenst der Erpressung in die Linnaeusstraße eingeladen oder eingelassen hatte. Vorgeblich hatte Charlotte sich der Erpressung bedient um über ihren Aletheia Liebhaber, dessen Namen Mengs als Richter Adams erinnerte, Gewalt auszuüben, mit dem Zweck Adams zu zwingen Katenus und Elly in Schutz zu nehmen. Über das Instrument der Erpressung war Mengs im Augenblick jedenfalls in Verwirrung. Die Umstände, und wenn er wagte es sich eindeutig auszusprechen, die an der Erpressung beteiligten Personen, der fremde Richter also und Charlotte Graupe, waren ihm so unangenehm in unbekannter und bekannter Weise, dass er sich scheute und ein wenig schauderte nähere Kenntnis über ihre Gefühlsverfassungen zu erwerben. Dennoch war die vielleicht unvermeidliche Folge dieser Gedanken ein Rückblick über die jüngsten gesellschaftlichen Verwandlungen im Döhringhause. Sie zu bedenken und zu beschreiben, hieß sie erträglich zu machen, zugleich aber auch sie zu idealisieren. Er lächelte. Also war das Idealisieren doch unvermeidlich. Ausschlaggebend war zuletzt die Ankunft und die Bergung im Döhringhause der beiden Katenusflüchtlinge, denn deren Anwesenheit war von Charlotte die sich, wenn auch uneingeladen, hier eingenistet hatte, nicht zu verbergen. Dass Charlottens "berufliche Tätigkeit" in der Aletheia ihre Niederlassung gefunden hatte, machte die Situation umso pikanter. Nun lag die Zukunft der beiden Katenus abhängig vom Wohlwollen des schieläugigen Richters Adams, dessen Leidenschaft für Charlotte dazu gereicht hatte sie zu entführen. Somit waren die Erpressungsweichen gestellt. Denn Charlotte hatte Gewalt über den Richter bekommen, und zugleich, mit der Gewalt über den Richter, Gewalt über Joachim, und ausdehnend, Gewalt über ihn, Jonathan Mengs. Letzten Endes aber hatte der Richter Adams Gewalt über sie alle. Er sah ein, wie bedenklich die Lage in welche Joachim geraten war, und nicht zuletzt auch er selber. Dann plötzlich, in seinem Gemüt, verwandelte sich das Leben in Schauspiel, und indem er diese Verwandlung bedachte, wurde ihm klar, dass sie im tiefsten Sinne rettend war. Er würde sie als Stoff zu einer Geschichte, vielleicht sogar zu einem Roman verarbeiten, wenn nicht zu einem Drama, zu einer Shakespeare Tragödie, oder zu einem Schillerschen Trauerspiel mit Charlotte als Johanna und einem Regenbogen der im Abendsonnenschein glänzte und das entsetzliche Schicksal zu verdrängen schien. Vielleicht gelänge es der literarischen Kunst, auch ihn, Jonathan Mengs vor der Verzweiflung zu retten. Auch Joachim war betreffs des Schutzes den die Katenus von Charlottes Gunst neuerdings genossen sich nicht im Klaren. Denn dieser Schutz war in der Aletheia gegründet, und Charlotte hatte von jeher über ihre Beschäftigung in der Aletheia geschwiegen. Er hatte sie nie nach der Aletheia, oder was dort vor sich ging, gefragt, denn durch seine Zurückhaltung wurde die leidenschaftliche Beziehung zu Charlotte, an der ihm so viel lag, gestärkt. Vielleicht war sie nur durch Schweigen möglich. So viel spürte Joachim, und weil er sie so hoffnungslos liebte, war es ihm unmöglich sie nach ihren Geheimnissen zu fragen. Dass Charlottens ihm unbekannter Entführer von neulich darein verwickelt war, vermutete Joachim auch, empfand es aber umso gefährlicher dies Kapitel aufzuschlagen und ihr gegenüber zu erörtern. Charlotte hingegen beabsichtigte in ihren Unterhaltungen, in ihren Verhandlungen mit dem schieläugigen Richter Adams, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. In Betracht auf Joachim sagte sie sich, dass sie dem Richter ja seine Beziehung zu ihr erlaubte, lediglich in jenem Maße das genügte ihm ihre Drohungen lebendig und wirksam bewusst zu halten. Dass in dieser Situation Herr Richter Adams auch über sie, Charlotte, einer bedrohlichen Gewalt verfügte, bedachte sie selten, und wenn sie es bedachte, machte es ihr keine Angst, denn sie war eine Frau die sich nicht ängstigen ließ. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass Charlotte in Betreff auf ihre Beziehung zu Adams, Joachim belog, denn der Begriff Lüge wird bedeutsam nur im Raum der Wahrheit, und Charlottes Beziehung zur Wahrheit war ihrer Beziehung zur Aletheia, und ins Besondere ihren Pflichten dort unwiederbringlich zum Opfer gefallen. Sie hatte sich daran gewöhnt sämtliche Mitbewohner des Döhringhauses zu täuschen, wo täuschen ein mehr gelinder Ausdruck ist als belügen. Inwiefern diese systematischen Vorgabe der Unwahrheit unvermeidlich dazu geführt hatte, dass Charlotte sich selbst täuschte, sich selbst belog, ist ein schwieriges und doch überaus wichtiges Thema, vielleicht in dem Bereich der Psychologie, oder im Bereich der Philosophie, und zuletzt im Bereich der Moral, und leitet zu der Frage ob es so etwas wie Moral überhaupt gibt, und wenn, was Moral denn eigentlich sein möchte. Charlotte löste dies Problem in ihrer eigenen Weise, denn wesentlich und zuletzt sicherlich entscheidend, hatte Charlotte entdeckt dass man um zufrieden und ersprießlich zu leben, letzten Endes der Sprache überhaupt nicht bedurfte; dass wenn man es über sich zu bringen vermochte zu schweigen, die gewaltigen Lebensfragen ihre eigenen Antworten entwickelten, wenn sie nicht überhaupt von selbst verschwanden, und damit die Lebensproblematik um manches geringer wurde. Hinzu erfuhr Charlotte, dass zu schweigen ihr gar nicht schwer fiel. Sie hatte längst beobachtet, dass rhetorischer, wörtlicher Gedankenaustausch, die sogenannten Auseinandersetzungen, in dem Verhältnis zwischen Jonathan und Joachim eine bedeutende Rolle spielten; und weil sie neidisch war, und eifersüchtig auf die Innigkeit welche dies Verhältnis beherrschte, und weil sie ihr Wesen als sehr anpassungsfähig beurteilte, hatte Charlotte versucht sich eine entsprechende Gesprächigkeit anzugewöhnen. Doch haperte es bei ihrem Versuch, weil die Welt des Geistes ihr abhold war, und ausgesprochenes Denken ihr lächerlich erschien. So ergab es sich, dass sie ihrer Natur gemäß sich oftmals bei anspruchvollen Gedankenaustausch in lautes Gelächter flüchtete, anstatt den Versuch zu machen, sich an den Auseinandersetzungen zu beteiligen. Das Schweigen erwies sich weniger beschwerlich als das Reden, und das Schweigen über das Schweigen bewährte sich als wertvollstes und wichtigstes von allem. Hinzu kam, dass das Schweigen eine gesellschaftliche Leere bewirkte, welche der jungen Frau eine vortreffliche Gelegenheit zu geschlechtlich gestimmt und gezielten körperlichen Annäherungen bot, und dies nicht nur in der Vertraulichkeit von Charlottens Schlafzimmer welches seit einigen Wochen ihnen beiden zum Übernachten diente, sondern in der öffentlichen Döhringhausgesellschaft welche nun nicht nur, neben den beiden Verliebten und Jonathan, neuerdings auch Katenus und Elly einbeschloss. Zwar setzte Charlotte das einst gewohnte Schulterschütteln nicht wieder ein, aber inmitten von Gesprächen an denen Joachim sich einst lebhaft beteiligt hätte, ergriff Charlotte Joachims Hand, ob sich diese nun unter dem Tischtuch oder auf dessen Oberfläche befand, und presste diese Hand, als wollte sie Joachim erinnern, dass zwischen ihnen beiden ein mehr bündiges Mitteilungsinstrument zur Verfügung stand, welches die von ihr als nimmer endende belanglose Redereien bezichtigte Auseinandersetzungen verdrängte. Dann gehorchte Joachim Charlottens inbegriffenen Befehlen und schwieg. Jonathan nahm Joachims neues Benehmen zur Kenntnis, ohne dass es ihn überraschte oder erstaunte. Erinnerte er sich doch der Verwandlungen die seine Liebschaft mit Susanna in seinem eigenen Leben einst hervorgerufen hatten. Er verstand dass der Verlauf des Verhältnisses der beiden jungen Menschen nicht voraus zu sehen war, hielt es aber für unwahrscheinlich, dass Joachim sich von Charlotte abwenden würde. Charlottens Charakter, oder was davon zu erkennen war, vermochte Jonathan nicht zu deuten. Jetzt zum ersten Mal, meinte er zu spüren, dass Joachims Züge etwas chamäleonartiges aufwiesen, welches damals, am Anfang ihrer Freundschaft, in der Stunde von Joachims Not, es dem Jungen erleichtert, wenn nicht gar überhaupt ermöglicht hatte, sich ihm, Jonathan Mengs anzupassen; dass er aber Joachims Schwäche, wenn es eine Schwäche war, ausgenutzt hatte, um seine, Jonathans, Einsamkeit zu lindern, und seiner Eigenart, die ehrlich gesehen seine Eitelkeit war, nachzukommen. Bei diesem Selbstgeständnis musste Jonathan sich wieder einmal fragen, ob er mit seinen Bemühungen dem jungen Menschen nicht nur geholfen, sondern zugleich auch geschadet hatte, ihm im Grunde sogar vielleicht ein Unrecht getan. Wie würde er das entscheiden können? Denn was hieße, in Anbetracht der Not in welcher Joachim sich damals befunden hatte, ihm schaden? Äußerlich jedenfalls hatte er, Mengs, Joachim sein Studium ermöglicht, hatte versucht nach Kräften, insofern dies möglich war, ihn an den eigenen geistigen Errungenschaften, wenn sie es wirklich waren, teilnehmen zu lassen. Gewiss hätte ein Psychoanalytiker eine ihnen beiden unbewusste homoerotische Beziehung konstatiert, wie diese selbsternannten Seelenwissenschaftler ja denn auch jede enge Beziehung zwischen uns Menschen als erotisch erklären. Solche Urteile besagen dass sie von der Liebe nichts wissen wollen oder können, und vom Geist entfremdet sind. Durch solche erdachten Einwände ließ Mengs sich nicht stören; er urteilte sie als belanglos, denn er hatte sie längst zu Ende durchdacht. Das große Geheimnis, so meinte Jonathan jetzt einzusehen, lag in der Vergeistigung des Eros als die Liebe zum Schönen wie sie von der veralteten Liebesgöttin Diotima in Platons Gastmahl behauptet wird. Dabei huschte ihm die Frage durchs Gemüt, ob es die alte, weise aber geschlechtlich längst nicht mehr bezaubernde Diotima war, in die Hölderlin sich einst verliebt hatte, oder in die schöne junge 27 jährige von ihrer Ehe enttäuscht und nach geistiger Leidenschaft hungernde Ehefrau des Frankfurter Kaufmanns Jakob Friedrich Gontard die Hölderlin auf den Namen Diotima umgetauft hatte. Jedenfalls erkannte Mengs jetzt klar, dass es nunmehr seine Pflicht war die Seelendissonanz in welcher Joachim sich befinden musste, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften und Mitteln zu beschwichtigen. Wie Mengs dies am besten bewirken sollte wusste er nicht; ahnte aber dass die Liebe das einzige Mittel war womit es ihm gelingen möchte den Verlust von Joachim zu verschmerzen, und dass ungeachtet jeglicher psychoanalytischer Rügen, eine neue, gesteigerte Liebe nicht nur zu Joachim, sondern auch zu Joachims so befremdender und unsympathischer Geliebten, ein Rettungsring war an den er sich klammern musste. All diese Erwägungen hegte Jonathan in der Stille in welcher er sich befand. Er hatte keinem sie mitzuteilen. Charlotte hingegen war es offensichtlich, dass sie sich jetzt im Mittelpunkt des Döhringhausfamiliengeschehens befand. Am wesentlichsten und entscheidendsten war wohl die unverkennbare und doch unaussprechbare Tatsache, dass Katenusens und Ellys Freiheit, vielleicht sogar deren Leben, von einem erfolgreichen Erpressungsmanöver ihrerseits beim Richter Adams abhing. Charlotte hatte sich dieser Haltung gewidmet, weil sie dabei zugleich einen entscheidenden Einfluss auf ihre Beziehung zu Joachim gewahrte, eine Beziehung die sie im Verlauf der Wochen und Monate in zunehmendem Maße als Inhalt und Zweck ihres Daseins empfand. Dabei war für Charlotte die gegenseitige Ausschließlichkeit der gleichzeitigen Beziehungen zu zwei Männern, zu dem einen den sie in vielleicht unerlaubter Weise verführte, und zu dem anderen der sie in bestimmt unerlaubter Weise begehrte, eine Herausforderung. Dass ihr die Spannung dieses Gegensatzes jetzt erträglich war, mochte daher rühren, dass sie in den langen Monaten ihrer Aletheia Schulung, um es milde zu verniedlichen, gelernt hatte, locker mit Ungereimtheiten ausgerechnet dieser Art umzugehen. Mit anderen Worten, was Charlotte vornehmlich in der Wahrheitsuniversität, der Aletheia, gelernt hatte, war eine befreiende Ungezwungenheit gegenüber der besonderen Dialektik, die es ihr ermöglichte mit der Unwahrheit, will sagen, mit der Lüge, auf gutem Fuß zu stehen. Sie war abgeneigt von allen rigorosen intellektuellen Bemühungen, und die genaue Feststellung ihrer Lage war ihr nie in den Sinn gekommen. Umso unerschütterlicher war ihr Bewusstsein, dass was sie jetzt tat, dass die Situation in der sie sich jetzt befand, nichts anderes war als Fortsetzung und Erweiterung der Fertigkeiten der so anspruchsvollen Ausbildung der sie sich unterzogen hatte. In Anbetracht der Problematik die sie gelöst zu haben wähnte und der Schwierigkeiten welche sie meinte überwunden zu haben, fühlte Charlotte sich als Siegerin, als eine Königin die sich die Verwaltungsmacht in diesem Haushalt erobert hatte. Ihren Erzgegner, Jonathan Mengs, hatte sie überwunden, und wenn jenem auch die Folgen ihres Sieges und dessen Ausmaß noch nicht gegenwärtig waren, so bedurfte es keiner Eile. Jonathan würde sich von selbst in seine neue Stellung hier im Hause einleben. Was aber Joachim anbelangte, so war sie unerschütterlich überzeugt, dass er ihren geschlechtlichen Reizen, welche sie neuerdings ohne jegliche Beschränkungen auf ihn auszuüben Gelegenheit hatte, nicht zu widerstehen vermöchte. Joachims Gefügigkeit war Charlottens geringste Sorge. Dabei fühlte sich Charlotte dennoch zu gesellschaftlichen Bemühungen beiden, Katenus und seiner Elly gegenüber verpflichtet. Es war ihr immer noch peinlich, wie ablehnend sie die beiden Flüchtlinge bei deren Erscheinung vor etwa zwei Wochen hier im Döhringhause behandelt hatte. Wenn ihre unbestimmten Schuldgefühle den Katenus gegenüber, durch ihren, Charlottens, dramatischen Einsatz zu deren Rettung nur teilweise und unvollständig aufgewogen wurden, so war dies der Fall, weil Charlotte es sich selber nicht verhehlen konnte, dass dieser Einsatz keineswegs aus Neigung zu den Verfolgten oder auch nur durch ein abstraktes Gerechtigkeitsbewusstsein, um moralische Pflicht unerwähnt zu lassen, geschehen war, sondern aus einem ihr höchst persönlichen Anliegen, und das war die Gewalt über Joachim, welche sie durch die Gelegenheit gewann, die Katenus und deren Notlage als Hebel oder war es als Riegel zu benutzen, mittels dessen sie Joachim in dem von ihr eingerichteten Sinnlichkeitskäfig gefangen hielt. Denn die Katenus waren Joachims Freunde, und der Katenus Wohlsein und Glück und Freiheit lag Joachim am Herzen. Sie kannte Joachim gut genug, es war ihr jenseits allen Zweifelns, dass Joachim alles opfern würde um diese Freunde zu schützen. Sie sah keinen Anschein, und hatte keinen Grund anzunehmen, dass Elly oder Katenus sich in vergleichbarem Maße an Joachim gebunden fühlten, oder dass die beiden sich in ähnlicher Weise für ihn opfern würden. Infolge dieser Gedanken wurde Charlotte traurig, weil sie zu verstehen meinte, dass das Band zwischen Joachim und ihr selber ein anderes war, und dass sie keineswegs mit Sicherheit würde bestimmen können, welcher von ihnen beiden, und in welcher Weise bereit sein würde, sich für den anderen aufzugeben. Ihre Traurigkeit jedoch verflüchtigte sich mit einer Erinnerung an ein Gespräch mit Joachim. Damals hatte Joachim sie in die Stadt genommen um ihr im Vorhof eines Sondermuseums dort den bronzenen Abguss eines gewaltig großen Löwens zu zeigen, den er als an Teil seiner Kindheit meinte erinnern zu können. An einer Mauer an der rechten Seite des Löwenkopfes stand eingemeißelt ein Spruch, auf den Joachim sie aufmerksam machte, und den er das Bedürfnis hatte, ihr auseinander zu setzen. Ihm zur Liebe, hatte sie ihm zugehört, hatte seine Erklärung, seine Übersetzung, und hatte sogar das Original des Spruches im Gedächtnis behalten. "Die That ist alles, nichts der Ruhm," hatte es geheißen und hieß es wohl noch immer. Sie besann sich auch auf das Gespräch welches sich damals zwischen Joachim und ihr entsponnen hatte. Denn sie beide waren damals nicht von der Möglichkeit, der Ruhm sei alles, beeindruckt worden, sondern von der Geringschätzung des Ruhms. Joachim hatte sich in weitläufigen Erwägungen über den Ruhm, auch in Angelegenheiten des Geistes ergangen, dass in einer Hinsicht der Ruhm die unmittelbare Folge der Wirkung des Kunstwerks auf jeden einzelnen Beschauer, Hörer oder Leser sei, und das Kunstwerk, selbstverständlich, die unleugbare, voraussagbare Konsequenz der Handlung des Künstlers; dass andererseits aber der Ruhm auch eine gesellschaftliche Erscheinung sei, und dass die Wirkung des Kunstwerks, die Reaktion auf die Tat des Künstlers, diese Folge des künstlerischen Tuns, unter Umständen nur als gesellschaftliche, als Herdenerscheinung gedeutet zu werden vermöchte. So waren zum Beispiel die Tatsachen zu bedenken, dass man in dem Halbjahrhundert nach Bachs Tod, etwa die Hälfte seiner unsterblichen Kirchenkantaten so gering geschätzt hatte, dass man die Partituren zerstörte indem man sie als Packpapier benutzte; und gleichfalls, dass in Rembrandts Lebzeiten, seine Kunst so gering gewertet wurde, dass er zweimal gezwungen war Konkurs zu machen. Indem Charlotte sich dieser weitläufigen Ausführungen Joachims erinnerte, bedachte sie mit Beklommenheit wie fremd ihr diese Gedanken waren. Es verwirrte und beschämte sie einzusehen, wie wenig sie dazu zu sagen hatte, wie nebensächlich dies ruhmvolle künstlerische Schaffen ihr erschien. Denn sie übersetzte den Begriff Ruhm mit dem Wort Schande, und es war die Vorstellung nicht des Ruhms sondern der Schande die sie beschäftigte, die Schande der Hurerei der sie längst verfallen war, und die neue Schande der Lüge, des Betrugs der beiden Liebhaber die sie fortwährend würde täuschen müssen, zwecks der Erpressung auf die sie sich vorgeblich um die Katenus zu retten festgelegt hatte. Die nächstliegende Handlung aber zu der sie sich berufen fühlte, war die bisher nicht bestehende Beziehung zu Katenus und Elly herzustellen. Die Entdeckung, dass sie sich den Katenus als hilfreich, wenn nicht gar rettend erweisen könnte, hatte Charlotte an jenem ersten Tage ihrer Bekanntschaft gemacht als sie Katenus und Elly im Musikzimmer vorgestellt worden war. Schon damals hatte Charlotte die Lage entscheidend begriffen, oder hatte gemeint dieses getan zu haben. Katenus, das wusste sie, war ein Freund den Joachim sehr bewunderte, Elly führte Katenusens Haushalt und war seine Gefährtin. Beide waren von den Behörden der Insel gefahndet und nun, aufs Festland geflohen, auch hier. Ihrerseits waren Charlottes Erfahrungen mit Behörden so schmerzhaft und so zerwühlend, dass sie sich scheute nach den Umständen der Verfolgung auch nur zu fragen. Sie verstand aus eigenen bedränglichen Erlebnissen, aus der Weise wie Georg, der Verwalter der Aletheia, sie behandelt hatte, wie unvoraussehbar sinnlos und willkürlich die Entscheidungen und Vorgehen der Behörden sind, ohne Rechtfertigung oder auch nur Erklärung in den Bereichen der Gerechtigkeit und Wahrheit, wie verzweifelt auch immer man Gerechtigkeit und Wahrheit sucht. Zugleich aber wusste Charlotte, dass von Beamten wie Richter Adams, der sie so leidenschaflich umwarb, die Schickalsweichen in Angelegenheiten wie die der Katenus, in solche Richtungen gestellt wurden, aus denen sie die beträchtlichsten Bestechungsgelder zu erwarten hätten. Nun, genau genommen, was Charlotte dem Richter Adams aufzubieten hatte war kaum als Schmiergeld zu bezeichnen, aber wenn die Aletheia ihr auch nur eine Kenntnis beigebracht hatte, so war es die Einschätzung der Werte jener Übungen denen sich zu unterziehen sie dort gelernt hatte. Dabei vermutete Charlotte, dass der Erfolg der notwendigen Verhandlungen mit Adams über das Glück und das Schicksal der Katenus umso wahrscheinlicher wäre, je mehr vertraut sie mit den Einzelheiten und Umständen der Leben ihrer Schützlinge war. Die erforderliche Überzeugungskraft ihrer Bemühungen um Katenus und Elly machte genauere Kenntnis der Umstände der beiden Flüchtlinge wünschenswert, fast erforderlich. Charlotte gewahrte dass sie sehr wenige Einzelheiten über sie wusste. Bei der Begrüßung, unmittelbar nach der Ankunft der beiden im Döhringhaus, hatte Charlotte sich, ihrer Gewohnheit gemäß, zurückgehalten, verärgert von dem vielen Gerede das die Bekanntschaft kennzeichnete, verstimmt dass sie sich an dem intellektuellen Gedankenaustausch nicht zu beteiligen vermochte. Das schmerzte sie als ein weiterer Beleg ihrer Minderwertigkeit. Vorerst schienen Charlotte die gemeinsamen Mahlzeiten Gelegenheiten Katenus und Elly besser kennenzulernen. Es ergab sich aber, dass ihre Verantwortungen als Gastgeberin einengend und sogar gewisser Maßen trennend wirkten. Beim Abendessen war es ihre Pflicht dankbare Anerkennungen für ihre Bemühungen in der Küche, für die Schmackhaftigkeit des Essens, für die Ordnung und Sauberkeit im geräumigen Hause, freundlich und höflich entgegenzunehmen, und es über sich ergehen zu lassen, dass die in die Wirklichkeit fast tragisch auskragenden Eigenschaften ihrer Zugehörigkeit zur Döhringhausfamilie verschweigen musste, das verzweifelte Bedürfnis zu einer geschlechtlichen Beziehung mit Joachim, und die Notwendigkeit ihn zu diesem Zwecke von Jonathan zu entfremden, die folglich unvermeidliche gegenseitige Abneigung zwischen Jonathan und ihr, die Schmach der Sinnlichkeitsübungen in der Aletheia in die sie abgefangen, wie in eine Falle geraten war, und vielleicht am schmählichsten, das Verhältnis zum schieläugigen Richter Adams, dass sie dies alles, dass sie die Wahrheit und Wirklichkeit verschweigen musste. Die vorteilhafte Machtstellung welche sich aus dieser Beziehung ergab, hatte ihr Leiden in der Aletheia in ein Wirken verwandelt. So kamen Tage an denen Charlotte die Aletheia nicht nur erträglich empfand, sondern an denen es ihr eine Erleichterung war, aus der steifen, dumpfen, philiströsen und letzten Endes wie sie meinte zu erkennen, verlogenen Gutbürgerlichkeit des Döhringhauses, in die nackte, rohe, ungeistige aber schließlich gültige und wahrheitsgetreue Wirklichkeit der Aletheia auszureißen. Zwar wäre es Charlotte unmöglich gewesen all diese Umstände klar und deutlich auszusprechen, aber letzten Endes besagten sie eine Wirklichkeit welche auch das Döhringhaus ihr zu einem Gefängnis machte, so dass ihr Leben drohte zu einer Pendelflucht, aus einem Zuchthaus in das andere zu werden; oder mit zynischer Bosheit umgekehrt ausgesprochen, frohlockend von einem Elysium in das andere zu eilen. Außer Joachim, hatte Charlotte ihre Erpressungspläne keinem anderen Mitglied der Döhringhausfamilie entdeckt. Sie hielt es für möglich, dass Joachim ihr Vorhaben und den Schutz das es den Flüchtlingen bieten würde, schon mitgeteilt hatte. Tatsache aber war, dass sich in jüngster Vergangenheit deren Betragen verändert hatte. Sie hockten nun nicht mehr während draußen die Sonne schien, in ihrem zwar geräumigen aber dennoch schattigen Zimmer um nur spät nach Sonnenuntergang, im Dunkel, wenn sie nur durch künstlich erzeugte infrarote Strahlen aus irgendeiner versteckten Videokamera erkenntlich geworden wären, sich auf die Fußwege der Nachbarstraßen zu wagen, sondern sie gingen bei Tag, meist kurz nach der Mittagsmahlzeit, ohne Voranmeldung, und dann nur mit einem kurzen Aufwiedersehen und dem schütteren Hinweis, sie wüssten noch nicht wie lange sie fortbleiben würden, so dass es unbestimmt war, wann sie wieder heimzukehren gedächten. Bei einem vorigen Fortgang hatte Joachim die Katenus in Charlottens Gegenwart darauf aufmerksam gemacht, dass es technisch möglich wäre, die Örtlichkeit ihres Radiotelephons ununterbrochen zu kontrollieren, und obgleich die Ankündigung eines Anrufs durch Abschalten zu unterbinden wäre, es unbestimmt bleiben müsste, und eigentlich wahrscheinlich war, dass das einzige Vorgehen diese Bestimmbarkeit des Ortes zu unterbinden, die Entfernung der in dem Instrument versiegelten Batterie sei, ein undurchführbares Unterfangen weil das anderweitig nicht zu öffnende Instrument zu diesem Zweck aufgeschnitten oder aufgesägt werden müsste. Auf diese wohlgemeinten Informationen und Ratschläge antwortete Katenus mit einer ihm ungewohnten Ungeduld, da sie das Instrument seit Tagen im Hause meist angeschaltet, aber manchmal ausgeschaltet, doch stets mit Batterie bewahrten, sollte es den Regierungs- nicht weniger als den Geschäftsbehörden längst möglich gewesen sein, sie und ihre Schritte von Stunde zu Stunde zu verfolgen. Und Elly fügte hinzu, dass sie sich infolge der neuen von Charlotte erwähnten Umstände, die Sorgen über eine mögliche Festnahme abzugewöhnen versuchte. Es war Charlotten klar geworden, wie sehr die gesellschaftlichen Gepflogenheiten des Familienlebens, jedenfalls wie sich dieses im Döhringhaus abspielte, die Mitglieder, statt sie zu verbinden, von einander getrennt hielten. Warum diese Befremdungen, besonders in dieser Familie, sie so stark beeindrucken sollten, wusste Charlotte sich nicht zu erklären. Umso mehr schien es ihr zunehmend wünschenswert, Katenus und Elly besser kennen zu lernen. Schließlich entschied Charlotte, dass die nähere Bekanntschaft mit Katenus und Elly für ihre Verhandlungen mit Adams unumgänglich wäre, und eines Nachmittags, als sie wusste, dass beide Jonathan und Joachim in der Universität waren, und als sie zufällig an dem Katenusschlafzimmer vorbei ging, versuchte Charlotte die Tür, oder so sagte und erklärte sie es sich hinterher, um festzustellen ob diese verschlossen sei. Sie war es nicht, und so trat Charlotte unerwartet in das große vordere Zimmer ein. Da stand sie nun unangemeldet in Jacob und Elsbeth Döhrings einstigem Schlafgemach das sich neuerdings ins Versteck für Maximilian Katenus und Elly Solmsen verwandelt hatte, sie selbst erstaunt und verwirrt sich hier zu befinden, wo sie die beiden alternden Flüchtlinge nebeneinander im Bett liegend, scheinbar schlafend entdeckte. Erschrocken wandte Charlotte sich stehenden Fußes um den unerlaubten, ungehörigen Zutritt rückgängig zu machen. Aber es war zu spät. Elly war von Charlotte wenn auch nur im Traum, oder vielleicht besonders dort, überrascht worden, und verwechselte nun im Nebel des Halbschlafs Charlotte mit einer Polizistin die eingedrungen war um Katenus und sie in flagrante delictu, wegen lang gewohnten und übersehenen Sittlichkeitsvergehens, zu verhaften. Und als Elly, zur Hälfte im Traum, zur Hälfte im Wachen, die vermeinte Polizistin gewahrte, schrie sie laut auf. Es war ein Urschrei des Entsetzens, der Angst, der ihrer Kehle entfuhr. "Lassen Sie uns, wir haben nichts getan! So machen es ja heutzutage fast alle Leute," flehte Elly Charlotten an; dann fast anklagend: "Was Sie selbst allnächtlich beruflich tun, ist ja viel schlimmer!" Ellys Aufruhr hatte Katenus aus seinem eigenen traumlosem Schlaf erweckt. Er blickte abwechselnd auf seine erregte Geliebte und auf das uneingeladene und unerwartet eingedrungene Mädchen, das er als Charlotte erkannte. "Charlotte!" rief er. Es war das einzige Wort das er hervorzubringen vermochte. "Sie kann uns hier nicht verhaften," schluchzte Elly, "Sie trägt ja nicht einmal eine Uniform." "Wie kommst du denn darauf?" forderte Katenus. "Das ist doch Charlotte, Joachims Freundin. Warum sollte Charlotte denn eine Uniform tragen. Wie kommst du denn darauf, dass die gekommen wäre uns zu verhaften?" "Doch," berichtigte Charlotte der Wahrheit und der Vollständigkeit halber, "in der Aletheia werde ich gezwungen einen grünen Kittel zu tragen." Während dieses Austausches war Charlotte ihrerseits in ein Weinen verfallen das zu zunehmend heftigem Schluchzen wurde. "Ach, ich weiß es nicht, ich verstehe nichts mehr," sagte Elly ratlos, "Ich muss wohl geträumt haben. Ich habe solche Angst." Schließlich versiegte Charlottes Schluchzen. Nun gelang es auch ihr das Weinen zu unterdrücken und sich zu einer Erklärung zusammenzuraffen. “Entschuldigt mich, ich bitte vielmals um Entschuldigung, dass ich euch gestört, dass ich euch erschreckt habe. Das wollte ich nicht. Ich hab es ja garnicht so gemeint. Ich habe soviel über euch nachgedacht. Ich habe mir solche Sorgen um euch gemacht. Ich meinte ich müsste euch viel besser kennen lernen, um verlässlich und erfolgreich eurethalber mit Adams zu verhandeln. Deshalb probierte ich eure Tür, aber nicht um einzudringen, sondern nur um festzustellen ob sie wirklich verschlossen war.” Es entstand eine Pause, eine Stille, die schließlich von Katenus durchbrochen wurde. “Ja, aber wer ist denn dieser Adams,” fragte er. “Ach,” sagte Charlotte zögernd, “Ach, Adams ist ein einflussreicher Richter mit dem, mit dem ich in der Aletheia bekannt geworden bin. Der verfügt über sehr große Macht, der ist so einflussreich weil er in so viele Verhandlungen verwickelt ist. Er vermag auch euch zu beschützen, und wenn ich ihn dazu überrede, wird er euch retten.” Es entstand eine Pause, die weder von Katenus noch von Elly unterbrochen wurde. “Nein,” fuhr Charlotte fort, “Überreden ist das falsche Wort. Ich werde ihn dazu zwingen.” “Mein Gott,” platzte es aus Katenus heraus, “Ihn dazu zwingen, sagst du? Wie willst du denn das anstellen, wenn er ein mächtiger Richter ist? Wieso ist er dir denn bekannt?” forschte Katenus weiter. “Und womit meinst du ihn zwingen zu können?” “Lieber Katenus,” sagte Elly, die sich der ihr eigenen sanften Stimme aufs Neue ermächtigt hatte. “Von den Bekanntschaften in der Aletheia hat uns doch der Anwalt Schwiegel erzählt. Die solltest doch du am Besten verstehen. Wir müssen doch nicht alles wissen.” “Wir müssen so viel wie möglich wissen,” antwortete Katenus, und zu Charlotte die aufgestanden war im Begriff fortzugehen und sich schon zur Tür wandte, sagte er, “Da du nun einmal endlich hier bist und uns besuchst, geh doch bitte nicht gleich fort. Setze dich dort ans Fester und überlege was und wie du uns weiter erzählen möchtest und solltest. Nur kurze Zeit, dann setzen Elly und ich uns zu dir.” Als die Drei dann schließlich vor dem weiten hohen Erkerfenster des geräumigen Schlaf- und Wohnzimmers zusammensaßen, forderte Katenus auf, “Es ist lieb von dir, Charlotte, dass du um uns besorgt bist. Aber du musst uns die Einzelheiten über diesen Richter Adams von dem du uns erzählt hast berichten, denn nur wenn wir so genau wie möglich informiert sind, vermögen wir zu wissen wie wir uns verhalten sollen.” “Ja,” sagte Charlotte, “Ich hab dem Richter Adams noch nichts von Joachim und von euerm Hiersein erzählt. Da weiß ich eigentlich garnicht was ich sagen soll.” “Uns sollst du alles berichten, dem Richter Adams aber garnichts,” sagte Elly, “Vor allem nicht, dass wir hier sind, oder auch nur, wer wir sind.” “Das musst du mir,” fügte Elly hinzu, “versprechen, denn wenn der Richter von uns weiß, sind wir verloren.” “Ich habe ihm aber noch nichts gesagt, und ich werde ihm nichts sagen,” antwortete Charlotte, “Das verspreche ich euch.” Sie hatte wieder zu weinen begonnen, und ihre Worte erstickten in Tränen. Schließlich fragte Charlotte, “Darf ich jetzt gehen?” und Elly antwortete, “Vielen Dank, dass du gekommen bist und dass du uns von dem Richter Adams erzählt hast. Komm bald wieder, aber ehe du gehst, versprich uns, dass du weder dem Richter Adams noch irgend jemandem sonst auch nur von Fremden erzählst die bei euch eingezogen sind, und dass du nie und nimmer unsere Namen nennst, unter keinen Umständen.” “Ich verspreche es euch,” sagte Charlotte. Das waren die Worte mit denen sie ihre Freiheit erkaufte. Denn jetzt stand sie auf, und sagte, “Es wird spät, und ich habe noch viel zu tun. Ich kann nicht länger bleiben. Auf Wiedersehen.” Schnell öffnete sie die Tür, und ging. Charlotte hatte den Besuch im Schlafzimmer der Katenus aus dem Stegreif angebrochen, in Vorbereitung zu einer Begegnung mit Adams bei welcher sie gedachte den schieläugigen Richter zu dem Versprechen zu zwingen die beiden Flüchtlinge bedingungslos zu beschützen. Sie hatte gemeint zu diesem Zwecke wäre es vorteilhaft mit den Lebensgeschichten und den Lebensumständen der beiden so intim wie möglich vertraut zu sein. Mit dieser Absicht, ihre Kenntnisse der beiden Flüchtlinge zu vervollständigen, hatte sie den Verschluss der Schlafzimmertür erprobt, und war mit unerwartetem Ungestüm dort erschienen. Der Besuch hatte sich dann anders entwickelt als Charlotte es erwartet hatte. Sie war dort mit der vorgefassten Meinung aufgetreten, ein narrensicheres Schema entworfen zu haben welches des Katenuspaars Sicherheit unverbrüchlich gewährleisten würde und zugleich sie in eine Stellung versetzen von wo sie ihre Beziehungen zu beiden Liebhabern, zu Adams einerseits und zu Joachim andererseits, nicht nur zu kontrollieren sondern sogar zu beherrschen vermöchte. Nun waren diese Pläne durch Ellys Angst und Bedenken vereitelt. Es waren Besorgnisse die Katenus offensichtlich teilte. Daraufhin hatte Charlotte ihre Enttäuschung mit ihrem Versprechen zu Schweigen versiegelt. Dass dieses Versprechen nichts mehr als eine gesellschaftliche Notausflucht gewesen war, und als solche nicht unverbrüchlich, war für Charlotte selbstverständlich. Aber Ellys und vielleicht auch Katenusens unverkenntliche Angst welche zur Forderung des Versprechens Ausschlag gegeben hatte, war ansteckend und hatte sich auf Charlotte übertragen. Nun war auch sie von Bedenken gelähmt und wusste nicht wie sie sich benehmen sollte. Sie überlegte die gesellschaftlichen Beziehungen in die sie verstrickt war. Am wichtigsten war ihr das Verhältnis zu Joachim, da hegte sie keinen Zweifel. Wie dieses Verhältnis von dem Untergang der Katenus beeinträchtigt würde, vermochte Charlotte sich nicht vorzustellen, vorausgesetzt dass man ihr diesen Untergang nicht zur Last legte. Hier ahnte Charlotte sich bedroht; denn es war ja sie die mit den Behörden in der Person des Richters Adams in Verbindung stand und die zugleich mit allen Umständen des Katenusverstecks vertraut war. Was wäre näherliegend dass die beiden, wenn sie zuletzt abgeführt würden, als letztes Mengs und Joachim über die Schulter zurufen würden, “Dies alles ist einzig Charlottens Schuld,” selbst wenn sie, Charlotte, ihr Versprechen zu schweigen aufs peinlichste gehalten hätte; umso schlimmer wenn sie es, wenn auch im verzweifeltsten Versuch die Flüchtlinge zu schützen, gebrochen hätte. Die Beziehung zu den Katenus war von der Beziehung zu Joachim untrennbar, war, sozusagen damit verschmolzen. Die Beziehung zu Mengs sollte ihr gleichgültig sein, denn die war praktisch durch ihre Beziehung zu Joachim überholt. Das Einzige was Mengs ihr anzutun vermöchte wäre sie aus dem Hause zu schmeißen. Wenn er das bei Bestand ihrer Beziehung zu Joachim täte, würde Joachim ihr folgen, und Joachims Beziehung zu ihr wäre umso intimer, enger denn je. Wenn er das aber nach einer ihr jetzt kaum vorstellbaren Auflösung ihrer Beziehung zu Joachim täte, so würde es keinen Unterschied machen. Sonst, ja wen sonst hätte sie zu berücksichtigen? Georg, keineswegs; und Adams selbst wäre jederzeit bereit, und würde es bleiben, ihr mit der Absicht mit welcher der Graf von Sevilla Figaros Susanna ein Schlafzimmer andrehen wollte, eine Ruhestatt zur Verfügung stellen. Denkbar sogar dass sie es unter solchen Umständen annehmen würde. Da fiel ihr der Rechtsanwalt, der ehrliche wohlmeinende Rechtsanwalt Schwiegel, Moritz Schwiegel ein, der dem Musikrezensenten Vladimir Schaunewski das Zeitungsfeuilleton mit seiner schnöden Geringschätzung ihrer anspruchslosen Bemühungen ihre verstorbene Klavierlehrerin Susanna Freudenberg, Jonathans Freundin, bei der Gedächtnisfeier mit einem Klaviervortrag von Beethovens “Für Elise” zu ehren, nie vergeben hatte. Schwiegel hegte für Charlotte eine abgöttische Liebe, welche sie aus eben diesem Grunde, weil die Liebe abgöttisch und nicht menschlich war, nicht zu erwidern vermochte. Denn sie wusste ja nun ein für alle Mal, dass sie aus beruflichen Gründen nicht liebenswürdig war und auch niemals liebenswürdig werden könnte. Sie gestand sich auch, dass sie Joachim nur mit eben jener Liebe zu lieben vermochte, in welche sie sich in der Aletheia eingeübt hatte; und dass Joachim diese Liebe erträglich sein konnte nur weil ihn eine andere, eine intellektuelle Beziehung, eine geistige Liebe mit Jonathan verband, eine Liebe die ihr ein so fast unerträgliches Ärgernis war, dass sie sich schon verschiedentlich in Phantasien entdeckt hatte, in denen sie Jonathan deretwegen umbrachte. Schwiegel aber war es, dessen Rat sie jetzt besonders benötigte. Und Schwiegel, dessen war sie gewiss, wäre beglückt sie zu beraten. Jonathan würde wissen, wie sie sich am schnellsten mit Moritz Schwiegel in Verbindung zu setzten vermöchte. Es galt also auf Jonathans Rückkehr von der Bibliothek zu warten, um von ihm zu erfahren, wie am einfachsten und schnellsten mit Schwiegel Kontakt aufzunehmen. Im Verlauf dieser Überlegungen beschäftigte sich Charlotte mit dem Aufräumen des Zimmers wo sie und Joachim neuerdings schliefen. Die Tür hatte sie absichtlich offen gelassen um Jonathans Rückkehr nicht zu überhören. Dieweil durchstöberte ihr Gemüt ein Ableger der Angst mit welcher Elly Solmsen sie angesteckt hatte. Jetzt befürchtete sie die Verwicklungen welche sich, ob sie nun ihrem Versprechen zu schweigen treu blieb oder nicht, aus ihrer Beziehung zu Richter Adams ergeben möchten. In Zeiten wo das Gemüt mit Sorgen beschwert ist, verlaufen die Stunden zuweilen mit ungewöhnlicher Geschwindigkeit, vielleicht weil sich dann die Gedanken in unablässigem Aufruhr befinden. So war es auch an diesem Tage, denn Charlotte war mit ihrem Aufräumen längst noch nicht fertig, als sie das vertraute Schlüsseldrehen an der Vordertür hörte, und unmittelbar danach das Quietschen der trockenen ölbedürftigen Scharniere. Sie vernahm auch die Stimmen von Jonathan und Joachim; was aber die beiden zueinander sagten, vermochte Charlotte nicht zu verstehen. “Jonathan”, sagte sie, unbekümmert um das Gespräch das sie unterbrach, “Moritz Schwiegel, der Anwalt, dein Freund, ich möchte ihn sprechen. Wie trete ich mit ihm in Verbindung?” Joachim stutzte. Was wollte Charlotte von Moritz Schwiegel? Joachim wusste sehr wohl, dass Moritz in Charlotte verliebt, oder sollte er sich sagen, vernarrt war, Charlotte hatte auch dann und wann auf diese Leidenschaft mit so abschätziger Miene angespielt, dass Charlottens Gleichgültigkeit, wenn nicht Ablehnung, ihn für seinen Rechtsfreund dessen Großzügigkeit er bewunderte, weh tat, und er Charlotte dem Nebenbuhler freimütig überlassen hätte, wenn nur weil Charlottens betonte und vielleicht übertriebene Sinnlichkeit, so sagte er sich, seine geistig-seelische Unabhängigkeit und Freiheit bedrohte. Das war ein so verschränkter Seelenbereich, dass Joachim die Worte ausblieben. Dabei spürte Jonathan Joachims Verlegenheit und ließ ihm so geraume Zeit zu reden oder zu schweigen, dass Charlotte ihre Frage wiederholte. “Du hörst doch gelegentlich von Moritz Schwiegel,” sagte sie, “Wie trete ich mit ihm in Verbindung?” Mengs war zureichend mit Charlottens Eigenarten vertraut, dass er es unterließ zu fragen, weshalb sie mit Schwiegel in Verbindung zu treten begehrte. Schließlich waren Rechtssachen prototypische Berufsgeheimnisse. Weder diese noch eine neu entsprießende Leidenschaft von Seiten Charlottens ging ihn etwas an. Also antwortete Mengs in trockenem, selbstverständlichem Ton. “Als praktizierender Anwalt hat Moritz Schwiegel gewiss ein Telephon. Merkwürdiger Weise aber haben wir nie Telephonate ausgetauscht. Seine Telephonnummer weiß ich nicht. Aber Moritz und ich befinden uns so regelmäßig auf der selben Strecke der Landesallee, unmittelbar im Schatten der großen Universitätsbibliothek, dass wir uns mehere Mal zufällig im Vorgarten der Gaststätte 'Zum grünen Kranze' getroffen haben. Du weißt wo dies Restaurant gelegen ist. Einer oder der andere von uns saß dann an einem der weißen runden Tische unter einer der Linden, und wurde binnen weniger Minuten ohne Voranmeldung von dem anderen zufällig begrüßt. Mein Vorschlag an dich ist, dass du dich dort gegen neun Uhr morgens einstellst und auf ihn wartest. Du kennst sein Aussehen, und er kennt deins, und er wird es zufrieden sein dich dort zu treffen, wonach ihr Gelegenheit habt Euch bei einer Tasse Kaffee zu unterhalten, und wenn es wünschenswert scheint, einen weiteren Termin formell zu vereinbaren." Charlotte war mit diesen Auskünften sehr zufrieden. “Ich danke dir vielmals, Jonathan.” sagte sie, “Genau das ist was ich zu wissen begehrte.” Dann wandte sie sich zu Joachim, “Komm, lass uns auf unser Zimmer gehen, und da erzähl mir wie du den ganzen langen Tag verbracht hast.” Damit wandte sie sich, und ging fort. Joachim aber folgte ihr ohne sich von Jonathan verabschiedet oder auch nur ein einziges Wort an ihn verloren zu haben. Als die beiden in ihrem Zimmer waren, fuhr Charlotte mit dem Aufräumen das sie unterbrochen hatte fort. Schließlich unterbrach sie die Stille und fragte, “Warum redest du denn eigentlich garnicht mit mir?” KK 3. Kapitel KK Am nächsten Morgen war Charlotte aufgestanden eh Joachim erwachte. Zwar hatte er ihre an Jonathan gerichtete Frage nach Moritz Schwiegel überhört, hatte jedoch nicht weiter erforscht mit welcher Absicht sie sich an den Anwalt zu wenden begehrte. Schließlich beim Erwachen kam es Joachim zum Bewusstsein, dass Charlotte fort war, er mutmaßte, zwecks ihres Vorhabens sich mit Schwiegel zu beraten. Mehr wollte er eigentlich garnicht wissen. Er versuchte sein Denken auf seine Arbeit zu wenden, und es beunruhigte ihn sich gestehen zu müssen, dass es ihm unmöglich war sich auf auch nur ein einziges Vorhaben zu besinnen. Dann aber tröstete er sich mit der Mahnung, er müsse lernen, geduldig zu sein. Charlottens frühzeitiger Aufbruch spiegelte die Unruhe welche Ellys verängstigte Warnungen und Katenusens Bedenken bei ihr ausgelöst hatten. Der Plan, den Richter Adams zu Nachsicht und Milde den Flüchtlingen gegenüber zu erpressen, hatte sich so unausrottbar in Charlottens Denken eingenistet, dass sie immer wieder auf den Gedanken zurückgriff, Elly müsse von den Strapazen der Verfolgung denen sie ausgesetzt worden war, so ungebührlich verstört geworden sein, dass diese ihre Urteilskraft verdorben hätten, und dass sie, Charlotte, einen Fehler machte, vielleicht einen sehr großen Fehler, wenn sie sich durch Ellys Angst von ihrer beabsichtigten Handlungsweise umstimmen ließe. Aber wie viel Mal und wie eindringlich sich Charlotte dies Argument auch wiederholte, vermochte es dennoch nicht die Angst mit welcher sie von Elly angesteckt worden war zu stillen. Im Gegenteil, das inständige Denken schien statt die Angst zu löschen diese zu stets mehr bedrohlichen Flammen zu entfachen. Demgemäß ist es kaum verwunderlich, dass Charlottens Schritt als sie an der Gemeindewiese vorbei, den Universitätsplatz überquerte, plötzlich von dem Einfall gelähmt wurde, dass sie sich auf ein widersinniges Unternehmen eingelassen hätte, “a fool’s errand”, wie die Amerikaner sagen würden, und dass sie dementsprechend gar nicht wissen könnte wie sie sich dem großzügigen und der Wahrheit ungewöhnlich getreuen Anwalt erklären sollte. Dann aber überflutete sie die Erinnerung wie leidenschaftlich Moritz Schwiegel sie geliebt hatte, und möglicherweise fortfuhr sie zu lieben, und dies in einer besonderen Weise; denn unähnlich Joachim, den ahnungslosen jungen Mann den sie mit ihrem Geschlecht verführt hatte, - das wusste sie, das gestand sie sich, denn darauf war sie stolz wie auf einen großen Sieg, schien Moritz Schwiegel eine Liebe zu spüren die lächerlicher Weise nicht den Lenden sondern der Musik entspross, und noch dazu einer so armseligen Aufführung wie jener des “Für Elise” welche der strenge hellhörige Vladimir Schaunewski berufsmäßig und durchaus gerechter Weise getadelt hatte. Diese Erinnerungen erweckten in ihr so etwas wie eine neue Circe-Lust die sie zu der Probe verlockte, ob es ihr heute gelingen möchte Schwiegels alte Leidenschaft, wenn diese noch in dem Koks der Seele dieses Mannes glimmerte, auf Neue anzufachen, wenn diese aber ausgegangen war, ein weiteres Mal zu entzünden. So tief hatte Charlotte sich in diese Gedanken- und Gefühlswelt verirrt, und so selbstverständlich hatte sie sich in ihr zu Hause gefunden, dass sie nicht bemerkt hatte an der Sonnenseite der großen Universitätsbibliothek längst vorbei gegangen zu sein, und somit vorbei auch an dem Straßencafé "Zum grünen Kranze", geschweige denn, dass sie den dort im Vorgarten am kleinen runden weißen Tische sitzenden Anwalt Moritz Schwiegel entdeckt hätte. Völlig übersehen hatte sie ihn, der dort, wie an manchem Frühlingsmorgen mit seiner Tasse Kaffee saß, dort sich ihrer erinnerte, dort an sie dachte und tatsächlich auf sie wartete, genau bedacht, auf keine irdische, sondern auf metaphysische, transzendentale Weise auf sie wartete. Die Binsenweisheit, dass das Äußere nicht das Innere ist, lässt sich nicht oft genug wiederholen, und was die Persona des Rechtsanwalts Moritz Schwiegel anbelangt, so ist es unmöglich auch nur eine Vorstellung vom Inneren zu bekommen, wenn man nicht bereit ist den Sprung von Außen nach Innen, hin und zurück, immer wieder aufs Neue zu wagen. Moritz war im Grunde ein einsamer Mensch. Als Rechtsanwalt hatte er sich ausbilden lassen weil er beschlossen hatte, dass dem Einzelnen, Alleinstehenden, das Leben unmöglich sei. Er meinte einzusehen, dass um glücklich zu werden, ja, um überhaupt nur lebensfähig zu bleiben, die Menschen einander benötigen; und dann, wenn sie einander begegnet sind, wenn sie Gruppen, Gemeinschaften, Gesellschaften gebildet haben, sie sich nicht enthalten können, sich dieser zu bedienen um einander zu verletzen, zu verkrüppeln, wenn nicht gar zu töten. Der Auftrag des Rechtsanwalts, die unvermeidlichen Feindseligkeiten zwischen den Menschen zu schlichten, war Moritz Schwiegel zum Lebenszweck geworden. Es wäre ein Irrtum anzunehmen dass Moritz Schwiegel sich zufällig oder versehentlich an diesem kleinen weißen runden Tischchen unter der Linde im Vorgarten des Straßencafés "Zum grünen Kranze" auf der Landesallée gegenüber der Südseite der gewaltigen Universitätsbibliothek befand. Denn er kam des Öfteren hierher, mehrere Mal im Monat, manchmal sogar mehrere Mal in einer Woche. Dabei verabreichte er der jungen Kellnerin die ihn kennen gelernt hatte und die ihn regelmäßig bediente, nur dürftige Bestellungen, meist lediglich für eine Tasse Kaffee oder für eine Tasse Tee. Doch vergütete er sie mit so großzügigem Trinkgeld, dass einst ein Vorgesetzter als er ihre Dienstleistung und das dafür dargebotene Trinkgeld beobachtete, das unschuldige Mädchen bezichtigt hatte, sich von ihrem einzelgängerischen Kunden für geschlechtliche Gefälligkeiten vergüten zu lassen. Ein anderer Vorgesetzter hatte aus der wiederholten, scheinbar überflüssigen und sinnlosen Anwesenheit des Eigenbrötlers den Verdacht geschöpft, dieser wäre besonnen sich zwecks eines geplanten Überfalls den Laden auszukundschaften, und es war ihm gelungen bei den Polizisten eine anfängliche Teilnahme an seinen Vermutungen zu stiften, ein Interesse welches jedoch merklich abnahm, als sie erfuhren, dass es sich um einen Rechtsanwalt handele. Wenn Schwiegel darüber nachgesonnen hätte, wären ihm die Ursachen seines Betragens unverkenntlich geworden. Aber er hatte es sich längst abgewöhnt den Versuch zu machen, die eigenen Seelenzustände zu zergliedern, denn er meinte erfahren zu haben, dass die Autopsychoanalyse eine unproduktive Denkübung ist, die zu nichts als Selbststäuschung führt und die das Gefühlsleben einengt statt es zu erweitern. Hätte man ihm aber die Situation den Erscheinungen nach geschildert, so hätte er bereitwillig zugegeben, dass seine Gedanken, dass seine Sehnsucht nach dem Döhringhaus in der Linnaeusstraße strebten, und dies aus dem selbstverständlichen Grunde, weil Charlotte, die aus seinen Träumen zu verbannen ihm nicht gelingen wollte, diesen Ort als ihr Zuhause bestimmt hatte. Inwieweit diese Umgebung das Wesen der Frau zu tünchen schien, und inwieweit es das Wesen der Frau war welche deren Zuhause mit ihrem geschlechtlichen Zauber abtönte, hätte er nicht zu sagen vermocht, wie er denn ja auch von den bestehenden Spannungen und Entfremdungen die dort herrschten, keine Ahnung hatte, und es unbestimmt bleiben muss, welche von den Bewohnern er als Urheber der Uneinigkeiten bezichtigt hätte. Das wäre die Aufgabe eines Richters gewesen, und Richter zu sein war er über alle Maßen bestrebt zu vermeiden. Was ihn bei seinem einstigen Komilitonen, Jonathan Mengs, beeindruckte, war dessen grenzenlose Hingebung an die Literatur, an die Kunst, an die Sprache, an die Philosophie, an den Geist. Er bewunderte das Ausmaß in welchem ähnliche Leidenschaften auch Jonathans Hausgenossen, die Mitglieder seiner Familie, Joachim, Charlotte, und schließlich auch die beiden Inselflüchtlinge beseelten. Ein solches Verhalten zum Leben betrachtete Moritz als Kultur, und es schien ihm jetzt als hätte er sich lebenslang nach solcher Kultur gesehnt. Aber von den Laufbahnen der Akademiker und Künstler war er durch seine Liebe zu den Menschen abgelenkt worden, und seine bewusste Einfühlung in ihre Schmerzen und in ihre Enttäuschungen die er zu teilen und zu beschwichtigen besonnen war, hatte ihm den Weg auf die Kulturbühne versperrt. Schließlich war es dieses kleine weiße runde Tischchen unter der Linde im Vorgarten des Straßencafés "Zum grünen Kranze" auf der Landesallee gegenüber der Südseite der gewaltigen Universitätsbibliothek wo er einer ihm jetzt unbestimmbaren Zahl von Monaten oder gar Jahren seinem Studienfreund Jonathan Mengs wiederbegegnet war und jenem seine Liebe zu Susanna Freudenbergs unfertiger Klavierschülerin, Charlotte Graupe, bekannt hatte. Dieses kleine weiße runde Tischchen war ihm zum Wallfahrtsort geworden den er regelmäßig besuchte um im Gebet zu dem ihm unerreichbaren Geist sein Leben zu bestätigen und zu erneuern. Jetzt hatte er hier ungezählte Minuten lang über eine leere, ausgetrunkene Kaffeetasse gebeugt gehockt, hatte über dieses und jenes erst nachgedacht, dann phantasiert, und zuletzt vielleicht sogar geträumt. Er meinte die Traumartigkeit des Geistesleben erfahren zu haben, mit dem Beschluss dass es oft unmöglich ist die gestuften Wirklichkeitsphasen des Erlebens genau von einander zu trennen. Hatte er es mit schlafenden oder wachen Blicken gesehen, war es im Wachen oder im Traum, dass Charlotte hier auf dem Bürgersteig, in nur ein Paar Meter Entfernung an ihm vorbeigangen war, dass ihre Augen als ob ihn suchend, auf ihn gerichtet waren, dann aber ihn nicht erkennend, oder vielleicht auch ihn im letzten Moment ablehnend, sich in die entgegengesetzte Richtung abgewendet hatten? Gut, dass er schon bezahlt hatte, und das großzügige Trinkgeld längst auf den Tisch gelegt, und nun nichts im Wege stand ihr nachzueilen. Das lange Sitzen hatte ihn einiger Maßen gelähmt. Seine Schritte waren unbeholfen und langsam. Er befürchtete hinzufallen wenn er tatsächlich liefe. Aber er vermochte in dem sich vor ihm ausbreitenden Strom keine Gestalt mehr zu erblicken, die wie Charlotte aussah. Er blieb stehen, und überlegte, wie unvereinbar es mit seinem Wesen war, einer Frau nachzulaufen. So etwas hatte er noch nie getan, und so etwas sollte er jetzt nicht anfangen. Er wendete sich also und musste entscheiden ob er zu seinem kleinen runden weißen Tischchen unter der Linde zurück kehren sollte, oder sich seinen anderen Geschäften zuwenden. Er überlegte ob er mit seinem unbedachtem Aufbruch seines Anrechts auf seinen Tisch verlustig geworden war, ob er es durch die Bestellung einer zweiten Tasse Kaffee neu erwerben sollte. War es doch schließlich sein Anrecht, wenn nicht sogar seine Pflicht, nachzuschauen ob das extravagante Trinkgeld, dort wo er es niedergelegt hatte, noch aufzufinden war. Bei diesen Überlegungen spürte er ein Klopfen auf seiner rechten Schulter. Er wendete sich und sah Charlotten ins Gesicht. Sie hatte sich schließlich ihres Vorhabens besonnen, und war umgekehrt um ihn an dem benannten Stammtisch aufzusuchen. “Moritz Schwiegel, du, der Anwalt,” keuchte sie, “Sie sind es doch. Habe ich recht? Ich habe dich gesucht. Gott sei Dank, nicht vergebens.” “Der bin ich, und Sie, wenn ich nicht irre, sind Fräulein Charlotte Graupe.” “Ach, nenne mich nur Charlotte,” war ihre Antwort, “Und du, dich nenne ich einfach Moritz. Das ist dir doch recht.” “Es ist mir lieber so,” antwortete er. “Gehen wir zurück an meinen Tisch, wenn er noch frei ist.” Das war er, und Moritz stellte fest, dass weder seine leere Tasse entfernt noch das hinterlassene Trinkgeld eingeholt worden war. Als sie die Scheine bemerkte, sagte Charlotte, “Da hat jemand viel Geld verloren. Sollen wir es unter uns teilen?” “Es ist mein Trinkgeld an die Kellnerin,” erklärte Moritz. “O, du bist aber verschwenderisch, da möchte ich auch deine Kellnerin werden. Du bist freigiebig, genau wie Katenus, und wenn du nicht vorsichtiger bist, wird man dich verjagen wollen wie ihn, besonders wenn ich dir ähnliche Dienste leiste wie Elly.” Auf diese Anzüglichkeit war Schwiegel unvorbereitet. Er verfiel in ein kurzes Schweigen indem er sich orientierte. War dies ein Angebot, das anzunehmen er ernstlich in Erwägung ziehen sollte? Er antwortete, “Es ist schön dass wir uns ein weiteres Mal begegnet sind.” Damit hatte er sich keine Möglichkeiten verbaut. Charlotte fuhr fort zu erklären, “Deswegen bin ich ja gekommen.” Schwiegel unterließ es seinen Ohren zu trauen, und um Missverständnissen vorzubeugen, fragte er, “Du bist weswegen gekommen?” Charlotte erwiderte, “Ich meinte wegen Katenus und Elly. Deretwegen gebrauche ich deinen Rat. Deren Umstände, nein, eigentlich sind es die Umstände in meinem Verhältnis zu dem Richter Adams, die unerwarteter Weise plötzlich unglaublich kompliziert geworden sind.” “Du weißt,” erwiderte Schwiegel, “oder vielleicht weißt du auch nicht, dass Katenus und Elly mich zu ihrem Anwalt bestellt haben.” “Umso besser, sollte ich meinen,” fuhr Charlotte fort, “denn dann ist es ja gar keine Frage, dass du auf deren Seite bist.” “Da hast du recht,” sagte Schwiegel, “aber du darfst dennoch nicht vergessen, dass wir Rechtsanwälte einem strengen Berufsgeheimnis verpflichtet sind, welches Unterhaltungen zwischen dir und mir über Katenus und Elly unvermeidlich beeinträchtigen muss.” “Das sollte kein Problem für uns werden, denn du brauchst mir nichts zu erzählen. Ich weiß mehr, viel mehr als du.” Schwiegel sagte, “Das mag wohl sein,” und Charlotte fuhr fort “Ich kenne zum Beispiel den Richter Lemuel Adams. Das ist ein berüchtigter Name. Von dem wirst auch du gehört haben.” “Da hast du wieder recht,” sagte Schwiegel, “und es ist kein Berufsgeheimnis, wenn ich es ausspreche, dass er ein sehr gefährlicher Richter ist. Hoffentlich fallen Katenus und Elly ihm nicht zum Opfer.” “Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen, denn ich kenne den Lemuel, ich kenne ihn sehr gut, und er kennt mich ebenso gut, denn wir haben uns in der Aletheia kennen gelernt, und du weißt ja was es bedeutet, wenn sich Mann und Frau in der Aletheia kennen lernen. Ich bin gesonnen ihm mitzuteilen, dass wenn Katenus oder Elly, wenn Joachim, Jonathan oder auch mir, von den Behörden auch nur ein einziges Haar gekrümmt wird, dann kann er alle Einzelheiten seiner Beziehung zu mir am folgenden Morgen in der Zeitung lesen. Nun sollte ich es vielleicht als ein Berufsgeheimnis meinerseits betrachten und als ungehörig dir zu erzählen, dass ich von Lemuel weiß, dass er meinetwegen, um sich Raum um sein Gefühl zu schaffen, wie er mir sagte, seine Frau in die Irrenanstalt gesperrt hat.” “Das war aber nur vorübergehend,” antwortete Schwiegel, “denn wenn du es noch nicht weißt, muss ich dir erzählen, dass sie in diesen Tagen schon wieder entlassen ist.” “Woher weißt du denn das?” fragte Charlotte. “Das ist wiederum ein Berufsgeheimnis,” sagte Schwiegel. “Sobald ich es erfahren hatte, ging ich in die Linnaeusstraße um es dir mitzuteilen. Ich klopfte lang und laut, aber mir wurde keine Tür geöffnet.” “Ach,” sagte Charlotte, “das war wohl nur weil Mengs und Joachim sich noch in der Bibliothek befanden und auch ich nicht zuhause war. Katenus und Elly, weißt du, haben Angst die Tür zu öffnen, und das verständlicher Weise.” “Ich wollte dir nach Möglichkeit, ersparen von Frau Richter Adams gedemütigt zu werden.” “Ich von Anneliese Stark gedemütigt? Im Gegenteil, Anneliese Stark hat mich befreit, und dafür bin ich ihr sehr dankbar. Aber die Problematik die sich daraus ergibt, bin ich gekommen mit dir zu besprechen. Zu erwarten wäre, dass sich hinfort mein Verhältnis zu Adams wesentlich verwandelt, und dass somit der Schutz den es bisher für Katenus und Elly, für Jonathan und Joachim, und eigentlich auch für mich selber dargestellt hat, sich verflüchtigt.” Moritz schüttelte den Kopf und schwieg. Zuletzt sagte er, “Das ist eine schwierige Frage die nicht leicht zu beantworten ist,” fuhr fort zu schweigen, und erklärte dann, “Ich denke darüber nach. Du must mit mir Geduld haben.” Dann fragte er, “Hast du deine Beziehung zu dem Richter schon abgebrochen?” “Nein,” antwortete Charlotte, “noch nicht, aber ich finde es wird höchste Zeit.” “Sofort,” sagte Schwiegel, “in der unmittelbaren Zukunft würde sich nichts ändern, aber es gibt im Recht einen Begriff der Verjährung heißt, und der besagt dass ein Geschehen das einmalig ist, oder das, wenn vielmalig, endgültig unterbrochen wird, an Rechtskraft verliert. Die Spanne, der Termin der Verjährung ist formell gesetzlich festgelegt, aber er hat nicht nur seine rechtlichen, er hat auch seine psychologischen, gesellschaftlichen und politischen Dimensionen.” “Wie soll ich das verstehen?” fragte Charlotte. “Wir gewöhnen uns an alles,” erwiderte Schwiegel. “Die Gewöhnung, die Anpassung, die Assimilation ist das Prinzip des Lebens, nein, es ist das Grundgesetz des Lebens überhaupt.” “Dieser Satz hört sich an wie aus dem Munde von Maximilian Katenus,” sagte Charlotte, aber Schwiegel fuhr fort: “Vielleicht bestätigt diese Übereinstimmung seine Gültigkeit. Aber um bei dem Gegebenen, beim Unmittelbaren zu bleiben, stell dir vor, es wäre so weit gekommen, dass du dich tatsächlich mit deinen Anklagen gegen Adams in die Öffentlichkeit wagtest. Dann befände ein jeder deiner Hörer sich vor der Alternative ob er dir glaubte oder nicht. Denn wer dir glaubte, müsste annehmen, dass Adams ein böser Mensch, und demgemäß ein sehr schlechter Richter ist. Stammt die Bürde deines Berichtes aus der Gegenwart, will sagen von Gestern, dann ist dein Hörer geneigt dir zu glauben, und des Richters Bestrafung zu verlangen, weil uns an der Bereinigung der Gesellschaft so dringend gelegen ist.” “Warum,” unterbrach Charlotte, “ist uns allen an der Bereinigung der Gesellschaft so dringend gelegen?” “Das ist eine wichtige Frage, aber die Antwort wäre zu weitläufig und würde uns ablenken. Lass uns sie zurückstellen, um später darauf zurückzukommen. Um dir zu glauben wäre es deinem vorgestellten Hörer auch unentrinnbar, nicht nur dass er selber, sondern dass unsere Gesellschaft sich so viele Jahre lang über den Richter Adams, und somit über sich selber, getäuscht hat; denn der ist ja nun schließlich viele lange Jahre im Amt und hat den hervorragenden Ruf eines strengen und gerechten Richters. Ein jeder von uns aber, und die Gesellschaft derer er sich als Teil behauptet, fordert Schuldlosigkeit, Entlastung, verlangt von den Widerwärtigkeiten des Lebens frei gesprochen zu werden. Dies ist der Rahmen für deinen zugegeben sehr löblichen Versuch Katenus und Elly zu schützen, um die anderen Mitbewohner des Döhringhauses unerwähnt zu lassen.” “Wenn dem so ist,” antwortete Charlotte, “dann wird die Gesellschaft letzten Endes mir selber die Schuld zuzuschieben.” “Ja,” sagte Moritz, “hat sie denn das nicht schon versucht, indem sie dich des Diebstahls der zwanzig Zwanzigdollarscheine bezichtigte, die du irrtümlicherweise in die kristallne Opferschale, wie du sie nanntest, gelegt hattest?” “Ach, Moritz, jetzt fange ich an die Schwierigkeit der Lage zu begreifen. Da stellt sich mir die Frage, wie hältst du es aus, ein Rechtsanwalt zu sein?” “Da hast du recht, liebe Charlotte,” sagte Schwiegel, und er empfand wie nie zuvor ein Aufwallen von Liebe und von Dankbarkeit für das Verständnis der verehrten Frau. “Aber, lieber Moritz, was ich tun soll, wie ich mich verhalten soll, das weiß ich wirklich nicht.” Es entstand eine Stille, und dauerte, dauerte so lange dass ein jeder von beiden sich heimlich zu fragen begann, ob sie je enden würde, Die Kellnerin kam mit der Rechnung, fragte aber vorsichtshalber ob sie mit noch weiterem gefällig sein könnte. Moritz Schwiegel bestellte eine zweite Tasse Kaffee für Charlotte und eine dritte Tasse Kaffee für sich. “Ich danke dir, für die Bestellung, denn sie besagt ja, dass du noch nicht bereit bist mich fort zu schicken.” “Dich jemals fortzuschicken, Charlotte, wäre mir unmöglich. Das solltest du doch endlich verstehen.” “Aber dadurch dass wir hier sitzen bleiben und uns besprechen, wird doch der Schutz von Katenus und Elly, worum es sich handelt, nicht gewährleistet.” “Da weiß ich nicht ob du recht hast,” sagte Schwiegel, “denn vom Austausch von Worten, und nur von diesem, entspringt das Verständnis, entspringen die neuen Gedanken aus denen sich der Faden zusammenknüpfen lässt, der es uns schließlich ermöglicht dem Labyrinth zu entkommen.” “Also, bitte, fang an zu knüpfen,” forderte Charlotte, und Schwiegel freute sich über ihre Schlagfertigkeit. “Ich denke es ist ein Fehler,” begann er jetzt, “vorauszusetzen dass es uns gelingen muss einen Plan zu entwerfen auf dem der zu befolgende Fluchtweg eingetragen ist. Als Theseus sich vom Minotaurus bedroht befand, war es nicht eine Landkarte die Ariadne ihm in die Hand drückte, sondern einen Leitfaden dessen Richtungen alle Strecken, Biegungen, Winkel und Ecken des Rückwegs vorwegnahmen, ein Faden der die gefährlichen Rundgänge und Sackgassen des Labyrinths vermied.” “Ach ja,” seufzte Charlotte, “das ist wieder ein bisschen zu hoch für mich. Wenn du mir helfen willst, muss du mir gezielte Anweisungen geben, wie ich mich in voraussehbaren Umständen zu verhalten habe.” “Bitte entschuldige,” sagte Schwiegel, “Ich will es versuchen.” “Ich setze voraus,” fuhr er fort, “dass deine Beziehungen zu Joachim, zu Mengs, zu Katenus, zu Elly und zu mir, die gleichen bleiben. Die einzigen Veränderlichen, wie die Mathematiker sagen würden, sind deine Beziehungen zu dem Richter Adams und dessen Beziehung zu dir. Die musst du bedenken, und auf die musst du achten. Am wichtigsten ist, dass du unter allen Umständen vermeidest den Richter zu schmerzen, zu kränken oder zu demütigen. Bedenke doch wie schwierig und traurig sein Leben ohnehin schon ist.” “Du redest ja als ob der Richter Lemuel Adams dein Mandant wäre, als ob du ihn verträtest. Das verstehe ich nicht,” sagte Charlotte, “Bitte erklär es mir.” “Es handelt sich um den großen Widerspruch, dass wir Menschen unbedingt voneinander abhängig sind und dennoch vorbestimmt uns gegeneinander aufzulehnen, mit einander zu konkurieren und gegeneinander zu streiten. Uns gelingt eine geschlossene Gesellschaft mit anderen Menschen wenn wir uns miteinander vertragen. Wir lösen uns aus dieser Gesellschaft heraus wenn wir mit einander streiten.” Charlotte sagte, “Da finde ich machst du einen Fehler. Eines ist es als ein Einzelner mit anderen Einzelnen in eine Gesellschaft zusammengefügt zu werden, um sich dann aus dieser Gesellschaft herauszulösen und wieder ein Einzelner zu sein. Etwas ganz anderes aber ist es als Einzelner sich einem zweiten gegenüber wohlgesinnt als Freund zu verhalten und ihm zu helfen, statt ihn feindlich gesinnt als Gegner anzugreifen und ihn zu verletzen, wohlmöglich zu töten.” “Du hast recht. Ich habe zu früh geredet. Ich hätte erst denken sollen. Ich finde überhaupt dass ich zuviel rede. Deine Ausführungen erinnern mich an die Schrift von Immanuel Kant über den ewigen Frieden, wo er die Schuld für die zerstörerischen Kriege nicht den streitlustigen einzelnen Menschen zuschreibt, denn deren Handlungen sind ja nicht dem Gewissen des Einzelnen verpflichtet sondern den Gesetzen denen sie kategorischen Gehorsam schuldig sind. Wie Platon, beabsichtigte Kant, nicht aus der Verbesserung des Einzelnen, sondern aus der Verbesserung des Staates, die ideale Gesellschaft, beziehungsweise den ewigen Frieden herzuleiten. Aber entschuldige, wie gesagt, ich rede zu viel.” “Nein, da kann ich dir nicht zustimmen. Ich höre dich gern reden. Was du sagst, gibt mir immer zu denken.” “Es so auszudrücken, ist sehr lieb von dir. Aber nun, um zur Sache zurückzukehren. Wovon ich dich überzeugen möchte, ist dem Richter nicht als Gegner, sondern als Menschen, wenn du willst, als Mitmenschen zu begegnen, denn dann bescherst du ihm die Freiheit auch Mensch zu sein, oder Mensch zu werden, wenn er es noch nicht ist.” “Ich meine zu verstehen was du sagst, finde es aber eine für einen Rechtsanwalt ungebührliche Einstellung. Ich meinte es wäre das Amt des Anwalts den menschlichen Gegner seines Mandanten in einen Widersacher umzuwandeln um ihn desto besser angreifen und ihn zu seines Mandanten Gunsten zu überwinden, ihn zu schlagen.” “Wieder hast du recht. Ich gebe zu, das sollte die grundlegende Strategie sein, besonders wenn der Gegner der schwächere ist, oder zumindest von gleicher Stärke.” “Du meinst also, dass Katenus schwach ist, und schwach auch wir, die mit ihm verbunden sind?” “Ach, Charlotte, welch schwere Fragen stellst du mir! Du erinnerst mich an Ibsens Volksfeind, einen Dr. Thomas Stockmann. Der sammelt am Ende seine ganze Familie um sich und sagt vertraulich: 'Ja gewiss, ja gewiss, die Sache ist die, seht mal, der stärkste Mann in der Welt ist der welcher am meisten alleine steht,' In diesem Sinne ist auch Maximilian Katenus der stärkste Mann in der Welt als ‘der welcher am meisten alleine steht’. Aber in seinem Verhältnis zur Gesellschaft ist Dr. Stockmann der unterlegene. Und eine ähnliche Niederlage wollen wir ja Katenus, Elly und euch allen ersparen.” “Eine spezifischen Ratschlag, bitte. Wie vermag ich es am sichersten eine solche Niederlage zu vermeiden.” “Vermeide es den Richter zu bedrohen. Beschwichtige die Drohungen die du vielleicht schon gemacht hast.” “War denn das nicht der Sinn meiner weiteren Beziehung den Richter mit denkbarer öffentlicher Schande zu bedrohen?” “Genau, da hat dein Denken ins Schwarze getroffen. Übersieh aber nicht, dass die Bedrohung nicht deinen Worten entspringt, sondern seiner Beziehung zu dir. Dass du dich von ihm begehren lässt, dass du ihm erlaubst dich zu lieben, dich zu misshandeln, besonders geschlechtlich zu misshandeln, zu vergewaltigen, wie man sagt, das ist es, und nicht die tatsächlich verbrecherischen Worte bedrohlicher Erpressung, darauf die Sicherheit von Katenus und euch, und uns allen fußt. Es bedarf nicht deiner Worte um die Bedrohlichkeit der Lage des Richters zu schaffen und sie ihm eindringlich zu vergegenwärtigen. Es sind die Handlungen, es ist letzten Endes die Persönlichkeit, der Charakter des Richters, was ihn bedroht und was Katenus rettet, wenn er zu retten ist. Lass die Bedrohlichkeit der Lage in welcher Adams sich befindet von selbst zum Ausdruck kommen, ohne sie weder zu verhüllen noch sie zu betonen.” “Und die geschlechtlichen Ansprüche, die er macht, die soll ich ihm weiter gewähren?” “Betrachte sie doch als eine Fortsetzung deiner Beschäftigung in der Aletheia, die hast du lange genug um geringere Ziele zu erreichen in Kauf genommen. Wir alle wissen, dass du in der Aletheia kein Kochen gelernt hast. Aber dass die Aletheia dich verwandelt hat, dass du dort etwas gelernt hast, dass sie dich zu einer anderen Frau gemacht hat, ist unverkennbar. Jetzt hast du Gelegenheit zu zeigen und zu beweisen, dass die Aletheia, statt dich zu verderben, dich veredelt hat. Und dieses eine finde ich wichtig, vielleicht am allerwichtigsten. Bediene dich der Gelegenheiten eueres Zusammenseins den Richter Adams über die Menschlichkeit und über die wahre menschliche Liebe zu belehren, indem du ihm zeigst, dass du ihn vornehmlich nicht als ein das Geschlecht begehrendes tierisches Wesen, sondern als auch ein Gotteskind schätzt, als ein besonderes Kind Gottes, als ein Wesen mit Seele und Geist.” “Das ist eine große, bedenkliche Aufgabe.” sagte Charlotte schwermütig. “Ich weiß nicht ob ich sie zu erfüllen vermag.” “Das ist kein Grund nicht den Versuch zu machen,” antwortete Schwiegel. “Mache dich auf. Geh an deine Arbeit, zeig und werde die du bist. Und wenn du meinen Rat, meine Unterstützung, wenn du eine Besprechung mit mir bedarfst, dann mach einen Spaziergang hier auf dem Bürgersteig der Landesallee, und schau auf diese kleinen weißen runden Tischchen im Vorgarten 'Zum grünen Kranze'. Hier wirst du mich finden, weil ich hier lebenslang auf dich warte.” Charlotte hatte längst zu weinen begonnen. Tränen strömten über ihre Wangen, aber sie schluchzte nicht. Sie war aufgestanden und streckte ihre Hand gegen Moritz Schwiegel aus. Der aber sah sie nicht, denn er blickte nicht auf die Frau sondern auf seine eigenen Hände, die gefaltet vor ihm auf dem kleinen weißen runden Tische lagen. Als er schließlich nach oben sah, war Charlotte fort. In der Menschenmenge die sich dem Universitätsplatz entgegen schob, meinte er nur noch ihren Rücken zu erkennen. >> Drittes Kapitel - 2138 << Vorerst ging Charlotte zurück zum Döhringhaus in der Linnaeusstraße. Das Treffen mit Moritz Schwiegel an dem kleinen runden weißen Tisch im Vorgarten "Zum grünen Kranze" war gelungen, war erfolgreich, wenn dies Wort geeignet ist ein erlösendes, seligmachendes Erleben zu beschreiben. Denn was sie in der Aletheia erlitten, hatte nun zum ersten Mal einen Wert, hatte einen neuen Sinn bekommen, vielleicht besonders weil es bisher unsinnig gewesen war und überhapt keinen Sinn gehabt hatte. Sie brauchte Zeit und Ruhe sich zurecht zu finden, sich in der neuen Welt die Moritz Schwiegel ihr eröffnet hatte, zu orientieren. Wo besser als in der Linnaeusstraße hätte das vor sich gehen können? All dieses zu besprechen war ihr unmöglich, denn wer hätte ihr als Gesprächspartner dienen sollen? Gewiss nicht Katenus, denn dessen Gemüt war mit nichts als gewaltigen Gedanken, die ihr nur als große Worte erschienen, gefüllt. Auch nicht mit Elly der es unmöglich sein würde die labyrintischen Geistespfade des Moritz Schwiegel nachzuziehen, und auch nicht mit Joachim, denn ein solches Gespräch hätte eine Beschreibung des Geschehens in der Aletheia einbeschließen müssen, und mit Joachim über die Aletheia zu reden, ging über Charlottens Kräfte. Auch um Zeit zum Überlegen zu gewinnen, ging Charlotte zu Fuß. Wenn man meinte sich beeilen zu sollen, dann war der Weg über den Universitätsplatz, über die Landesallee hinauf bis zur Linnaeusstraße, und dann diese hinan bis zum Döhringhaus, von beträchtlicher Länge. Wenn das Gemüt aber wie jetzt bei Charlotte von Unbestimmtheiten beschattet war, wenn man wie sie, das Denken dringend benötigte um den Pfad aus einem unbekannten Labyrinth nachzuspüren, dann war der Weg nach Hause ein sehr kurzer, und man gelangte zu schnell an ein Ende das sich schließlich als trügerisches Ziel erwies. Jetzt ließ Charlotte sich von vielleicht belanglosen Vorstellungen ablenken. Sie dachte an die vielen Gelegenheiten wo Joachim diesen Weg alleine gemacht hatte, mit so manchen unausgesprochenen Sehnsüchten, Wünschen, Hoffnungen, Sorgen und vielleicht auch Ängsten. Erzählt hatte er ihr immer nur von seiner Arbeit. Das waren Absichten, Tätigkeiten, und Besorgnisse von denen es zwischen ihnen beiden vorausgesetzt war, dass Charlotte nichts davon verstand, und dass es deshalb nicht der Mühe wert war, wenn nicht gar unmöglich, diesbezügliche Gedanken und Gefühle mit einander zu teilen. Jetzt zum ersten Mal, ahnte sie Verständnis für den scheinbar so regen Gedankenaustausch, über die beruflichen Bemühungen, welche den beiden, Jonathan und Joachim, so notwendig erschienen waren, dass sie auf diese gemeinsamen Hin- und Rückwege zu Fuß betonten Wert gelegt hatten. Schließlich, als sie durch die schwere eichene Vordertür schritt, vermochte Charlotte sich überhaupt keine Vorstellung zu machen, wie sie heute Joachim begegnen würde, und wie sie sich ihm erklären sollte. Sie fühlte sich entsprechend erleichtert, das Schlafzimmer welches Joachim mit ihr bewohnte leer zu finden. Hier setzte sie sich an ihr kleines Schreibpult und überlegte die Lage in der sie sich befand. Sofort war es ihr klar, wie unvermeidlich notwendig es war mit Lemuel Adams in Verbindung zu bleiben, und wie wesentlich erschwert diese Aufgabe plötzlich geworden war, erstens durch ihr kürzliches Ausscheiden aus der Aletheia, und zweitens durch Lemuel Adams Vertreibung aus seinem stattlichen Haus in Waldshut von seiner verärgerten und erbitterten Ehefrau Anneliese Stark. Es war ein Wutausfall gewesen, dem Charlotte beigewohnt hatte, wobei es sich dann herausstellte, dass jenes Haus nicht ihm, nicht einmal ihm und seiner Frau zusammen, sondern ausschließlich der von ihrem Ehemann betrogenen und misshandelten Gattin gehörte. Den Lemuel jetzt in seiner Gattin Haus in Waldshut, von wo er doch ausdrücklich vertrieben war, aufzusuchen wäre erfolglos gewesen und wäre zu nichts als einem stürmischen Gegenüber mit der berechtigt erbost Betrogenen geworden. Wie würde sie, Charlotte, jetzt nachträglich den Ort wo der Richter Obdach gefunden hatte, ausfindig zu machen vermögen? Doch, erinnerte sich Charlotte, es war durchaus wahrscheinlich, da Richter Adams Vorstandsmitglied der Aletheia war, dass er mit Georg, dem Aletheia Türhüter, in Verbindung geblieben war, und da bei Gelegenheit ihrer letzten Verhandlung mit Georg, dieser es unterlassen hatte ihr eine Abschrift des Geheimhaltungsvertrags auszuhändigen, den sie als Bedingung der Rückerstattung der zwanzig umstrittenen Zwanzigdollarscheine zu unterschreiben genötigt worden war, schien ihr nichts selbstverständlicher als dass sie, Charlotte, jetzt ein letztes Mal in der Aletheia auftreten sollte, um eine solche Abschrift zu beantragen. Georg würde keineswegs erstaunt sein, wenn Charlotte zu diesem Zwecke erneut in der Aletheia erschiene. Das würde sie tun, und dabei die Gelegenheit wahrnehmen sich nach dem Aufenthaltsort des Richters zu erkundigen. Sie suchte und fand einen noch nicht ausgetrockneten Kugelschreiber und ein Blatt Briefpapier, setzte sich hin, und schrieb: “Liebster Joachim, infolge einer sehr befriedigenden Unterhaltung mit Moritz Schwiegel, beschäftigen mich weitere Bemühungen um Katenusens und Ellys Sicherheit. Ich komme heute Abend zurück, aber vielleicht spät. Bitte mache Dir keine Sorgen. Deine Charlotte.” Den Brief, sorgfältig zur Hälfte gefaltet, legte sie aufs Kissen des Betts. Dann zog sie ihren Mantel an, und eilte mit vorsichtig gefederten Schritten, lautlos, um die Katenus nicht zu stören, die Treppe hinab, und die Vordertür hinaus, erleichtert dass ihr keiner begegnet war. An diesem Nachmittag versprach Charlotte der gewohnte, alt bekannte Weg zur Aletheia ein neues Erlebnis. Sie erinnerte, aber nur vorübergehend, dass infolge der Aufregungen des Tages, sie es unterlassen hatte sich weder ums Frühstück, noch um ein Mittagsmahl zu kümmern, und bemerkte zu ihrem Erstaunen, dass sie auch jetzt nicht den geringsten Hunger spürte. Wie anders, als bei ihrem ersten Besuch in die Aletheia, als sie keine Ahnung hatte, was ihr bevorstand. Jetzt wusste sie genau, wen sie in der Person Georgs vor sich haben würde. Auch erstaunte es sie, vor der Wiederbegegnung mit dem Richter Adams keine Bedenken zu haben. Im Gegensatz zu ihrem ersten, so schicksalhaften Besuch in die Aletheia, würde dieser Ausflug an den ihr nun so wohlbekannten Ort, kurz und bündig, und ohne unvorhergesehene Folgen ablaufen. Moritz Schwiegel, dessen war sie gewiss, hatte sie gut beraten. Statt einem Menschen ablehnend, misstrauisch und feindselig zu begegnen, schien es ihr jetzt unendlich einfacher und mehr befriedigend den Versuch zu machen ihn zu verstehen, und damit umso mehr befähigt zu sein ihm zu helfen und ihn für sich zu gewinnen. Denn wie schwer der Menschen Leben ohnehin waren, das hatte Charlotte oft genug beobachtet, und das hatte sie an den verschiedensten Tagen bei den Sinnlichkeitsübungen selbst erfahren. Die Vorstellung eines neuen ungetrübten Verhältnisses zu dieser Welt die sich ihr ein zweites Mal in Gestalt der Aletheia aufgedrängt hatte, begeisterte Charlotte als sie die sich wie stets automatisch öffnenden Türen in den großen hell erleuchteten Empfangssaal durchschritt, so sehr, dass alle andere Vorhaben verdrängt wurden. Unerwartet trat ihr jetzt Georg entgegen, und ohne Einleitung oder Erklärung, aus dem Stegreif, sagte Charlotte, “O Georg, kannst du mir sagen, wie es möglich wäre, mit Richter Adams in Verbindung zu treten.” Ohne ihr zu antworten, ergriff Georg sie an ihrem rechten Handgelenk und zerrte sie in ein kleines Seitenbüro, das neuerdings mit einer verschließbaren Tür versehen war. “Setz dich hier hin,” befahl er, indem er auf einen niedrigen Stuhl deutete, “und bleib da sitzen und warte auf mich bis ich wiederkomme.” Dann verließ er das Zimmer, zog die Tür hinter sich zu und ließ sie ins Schloss fallen. Charlotte bemerkte zu ihrem Schrecken, dass zum Öffnen dieser Vorrichtung, allenfalls von innen wo sie jetzt war, sie eines Schlüssels bedürfte den sie nicht hatte, und dass sie demgemäß hier eingeschlossen, dass sie auch dies zweite Mal in der Aletheia gefangen war. “Georg, Georg,” rief sie mit lauter Stimme, “Ich will hier nicht bleiben, lass mich ‘raus.” Aber wie laut und wie oft auch immer sie schrie, keine Schritte zur Tür, kein Schlüsseldrehen im Schloss, war zu hören. So ging sie zurück und setzte sich auf den Stuhl von welchem sie aufgestanden war. Sie beugte ihr Gesicht in ihre Hände und versuchte ihre Gedanken zurück zu der Besprechung mit Moritz Schwiegel zu leiten, als vermöchte sie mittels der Phantasie ihren Rechtsanwalt um Hilfe bitten und ihn fragen, wie sie sich jetzt hier, in dieser unerwarteten Lage, verhalten sollte. Aber der Versuch wollte ihr nicht gelingen. Wie viel Zeit vergangen war hätte sie nicht zu sagen vermocht. Geschlafen hatte sie auch nicht, dessen war Charlotte sicher. Plötzlich hörte sie hinter sich die Tür öffnen, und einen Befehl, “Stehen Sie auf.” Georgs Stimme war es nicht, sondern die eines großen schwartigen rothaarigen Polizisten. “Charlotte Graupe,” sagte die Stimme, “Sie sind verhaftet.” Dann nach kurzer Pause, “Hände hoch,” und dann, als sie folgte, “Hände nach vorn.” Der Polizist ergriff Charlottens beide Handgelenke mit seiner rechten Hand und fesselte sie mit Schellen. Dann schob er sie zurück auf ihren Sitzplatz mit dem Befehl. “Auf den Stuhl hier. Bleiben Sie sitzen bis ich Sie abhole. Aufstehen täten Sie auf eigene Gefahr, denn Sie würden fallen und sich möglicherweise schwer verletzen, wie gesagt, das täten Sie auf eigene Gefahr. Bleiben Sie hier sitzen bis ich Sie abhole.” Dann ging auch er. Charlotte blieb sitzen wie befohlen. Sie war versteinert. Doch brauchte sie nicht lange zu warten, denn nach sehr kurzer Zeit kam der Polizist zurück, und mit ihm kam der Richter Adams. “Guten Nachmittag, Charlotte,” sagte er, “Es tut mir leid wegen der Unnnehmlicheiten, aber die werden bald behoben sein.” “Nimm ihr die Fesseln ab, Chuck,” sagte der Richter zu dem Polizisten, “Mir läuft sie nicht weg.” Dann fuhr er fort und sagte zu Charlotte, “Stell dich hier hin, und bleib stehen.” Und zu Chuck sagte er, “Mein erstes Verhör nimmt nur kurze Zeit in Anspruch. Komm in zehn Minuten wieder und hol sie ab, nein, wenn ich fertig bin, dann pfeife ich. Warte bis du die Pfeife hörst, dann komm und hole sie.” Beim Abgang stellte der Polizist das Schloss, so dass die Tür auch von Innen zu öffnen war. Dann ging er und machte die Tür hinter sich zu. Als der Polizist fort war, schob der Richter die zitternde Frau in eine Ecke, knüpfte ihr die Bluse auf und machte sich mit beiden Händen an ihr zu schaffen. Dann sagte er, “Siehst Du, es geht auch ohne Pralinen und Rosen. Werde nur nicht ungeduldig. Wir sind noch nicht fertig.” Schließlich aber machte der Richter denn doch halt und sagte. “Zieh dich an, damit du ordentlich aussiehst, wenn er dich abholt. Dann zog er die Pfeife auf der Tasche und gab eine schrillen Pfiff. Kaum war der reißende Ton verhallt, dass Chuck zurück kehrte. Er musste vor der Tür gewartet haben. Da befahl ihm der Richter, “Bring sie zum weiteren Verhör in mein neues Amtszimmer. Du weißt welches ich meine. Du bist sicher dass du es findest?” “Zu Befehl, Herr Richter,” sagte der Polizist. Er legte seinem Häftling aufs Neue die Handschellen an und führte sie zu dem Gefangenenwagen der unmittelbar vor dem Gebäude auf sie beide wartete. Es war ein fensterloser schwarz lackierter Lieferwagen mit zwei Flügeltüren am hinteren Ende, welche jetzt von Chuck geöffnet wurden. Dahinter setzte er ein geringfügiges Treppengestell, nahm seiner Gefangenen die Handfesseln ab und befahl ihr einzusteigen und sich auf die rechte Längsbank zu setzen. Dann verschloss er die Hintertüren, setzte sich selber hinter das Steuerrad und fuhr davon. Es war eine lange langsame Fahrt in dichtem Verkehr mit Abbiegungen nach rechts, Abbiegungen nach links, so plötzlich und so zahlreich, dass Charlotte jeglichen Richtungssinn verlor. Ausblicke nach links und gerade aus waren ihr ohnehin verdeckt. Nur wenn sie ihr Gesicht nach rechts wandte, und an Chuck und an seiner zugestiegenen uniformierten Begleiterin, vermutlich einer Polizistin, vorbei, vermochte sie durch die Windschutzscheibe auf die Straße zu blicken, wo vor fast jeder Kreuzung Autoschlangen unterschiedlicher Längen die Umschaltung der Verkehrsampeln auf grün erwarteten. Mit solchen belanglosen Beobachtungen ließ Charlotte sich von den quälenden Sorgen über die Zukunft die ihr unmittelbar bevorstand ablenken. Schließlich brachte Chuck den schwarzen Lieferwagen vor dem größten der Hochhäuser im Umkreis zum Stehen. Die Polizistin stand neben ihm als er die Hintertüren des dunklen Fahrzeugs aufschloss. Er befahl Charlotten auszusteigen. Er fasste sie an der linken, und Liese, so hieß die Polizistin, allenfalls mit Vornamen, ergriff Charlottens rechte Hand. Sie führten die Gefangene durch die hohen gläsernen Eingangstüren des Hochhauses zu den Fahrzuggruppen welche die höchsten Stockwerke des imposanten Hauses versorgten. Ein erleuchteter Druckknopf diente die Kabine her zu zitieren. Die Schiebetür wich zur Seite. Das Fahrzeug war leer. Sie traten ein, und durch dem Druck auf eines der obersten Knöpfe der Etagenordnung, schloss sich die Tür. Momentan wurde der Fahrstuhl mit zunehmender Schnelligkeit in die Höhe gezogen. Schließlich bremste die Kabine und hielt. Nun öffnete sich die Tür auf einen flachen doch seitlich breiten Vorraum, dessen entlegene Wand mit zahlreichen Türen bestückt war, an jeder ein Namensschild. Liese drückte auf den Knopf neben dem Namen Lemuel Adams, und der Richter selber war es, der den Dreien öffnete. Sie traten ein, und man befahl Charlotte sich auf einen Stuhl vor einen mit Linnen bedeckten aber sonst leeren Esstisch zu setzen. Chuck fragte, “Herr Richter, möchten sie die Handschellen.” Abweisend schüttelte Adams den Kopf. Dann besann er sich des besseren. “Es geht ohne sie, aber lass sie nur hier,” sagte er, und fügte hinzu, indem er auf einen Wandschrank deutete, “Leg sie in dieses Regal. Man kann nie wissen wann man sie benötigt.” Er fuhr fort, “Wenn ich mit ihr fertig bin, lasse ich sie laufen, oder rufe ich euch, je nachdem. Bis ihr möglicherweise von mir hört, mögt ihr die Angelegenheit vergessen.” “Zu Befehl,” sagten einstimmig die beiden Polizisten. Dann verließen sie die Wohnung und zogen die Tür hinter sich zu. Adams aber nahm einen Schlüssel aus seiner Tasche, schloss hinter ihnen ab und steckte den Schlüssel in seine rechte Hosentasche. Charlotte war am Tisch, wohin Chuck sie befohlen hatte, sitzen geblieben, den Rücken halb zum Fenster gekehrt. Sie hatte den Kopf aber weit genug nach rechts gedreht, um beobachten zu können wie Adams die Tür abschloss. Dennoch fühlte sie sich nicht eingesperrt. Sie spürte keine Angst. Dazu kannte sie Adams zu gut. Besonders zuletzt bei der Szene in Waldshut, als Anneliese Stark beide, Adams und sie, aus dem Haus geschmissen, und ihm die Ehescheidung angekündigt, hatte sie Gelegenheit gehabt, Adams in seiner bedauernswürdigen Schwäche zu beobachten. Umso unbestimmter und brenzlicher mutete sie ihre eigene Lage an, nicht äußerlich, denn den Türschlüssel könnte sie mit einem vom Richter tatsächlich ersehnten, flinken geschmeidigen Eingriff ihrer schlanken doch starken Finger aus Adams Hosentasche schnell genug entwenden, und bei dem Gedanken, dass Adams vielleicht aus lüsterner Sehnsucht auf ihre Hand ihn grade dort verborgen hatte, huschte ihr ein flüchtiges Lächeln über die Lippen, das Adams nicht wahrnahm, weil er am Fenster stand, und seine Augen über das neblige Stadtbild schweifen ließ, das sich tief unter ihm ins scheinbar Grenzenlose erstreckte. Nein, was Charlotten zu denken gab, waren nicht die äußeren Umstände; es war die Ansprüche an das innere Erleben, das von ihren drei konkurrierenden Liebhabern, Moritz Schwiegel, Lemuel Adams, und Joachim Magus ausgelöst wurde. Dabei dachte sie, wieder mit einem wehmütigen Lächeln, dass sie in der Aletheia aufs gründlichste gelernt hatte, einen Schwarm von Männern gleichzeitig zu bedienen und zu befriedigen. Man hatte sie zu einer Sachverständigen nicht in der Kochkunst, sondern in der Hurerei gemacht. Ihre Vorstellung den Richter Adams in ihre Gewalt bekommen zu haben, und ihn zur die Beschützung von Katenus und Elly mittels von Erpressung zwingen zu vermögen, hatte sich zwar nicht so unmittelbar bewährt wie sie es sich anfangs vorgestellt, aber war dennoch wenn nicht als Wahrscheinlichkeit, denn doch als Möglichkeit, keineswegs jenseits des Horizonts ihres Denkens verschwunden. Die unmittelbare Folge war ein Abflauen der Angst und eine Linderung der Spannungen. Sie war bereit, wie sie es in der Aletheia gelernt hatte, den sich neu entwickelnden Verantwortungen nachzukommen. Sich zu beeilen aber bestand keine Notwendigkeit. Sie kannte den Richter Adams. Er war ein ungeduldiger Mensch den ihr Schweigen beunruhigen würde. Nur wenige Minuten waren verstrichen eh ihre Vermutung sich bewährte. KK 4. Kapitel KK Adams stand noch immer bewegungslos vor einem der hohen breiten Fenster und ließ seine Blicke sich in die Nebel versenken welche die Großstadt die sich weit unter ihnen erstreckte verhüllten. Ohne sich zu wenden, sagte Adams, “Warum sagst du denn nichts? Sprichst du denn garnicht mehr mit mir? Dass Anneliese uns aus dem Waldshuter Haus geschmissen hat, war doch nicht meine Schuld. Ihre Entlassung aus der Irrenanstalt war keineswegs von mir bewirkt, sondern von deinem anderen Liebhaber, von jenem Fantasten Moritz Schwiegel. Das hat er dir doch sicherlich erzählt. Und schließlich, weshalb ich dich von der Polizei habe festnehmen lassen, das solltest du doch verstehen.” Hier unterbrach ihn Charlotte. Aber es war nur mit einem Wort. “Wirklich?” hatte sie gesagt, und nichts weiter. Es war aber genug Adams in seinem Reden zu bekräftigen, und er fuhr fort, “Ich hatte ja so große Sehnsucht nach dir, und dich von der Polizei aus der Aletheia abholen zu lassen, war das Nächstliegendste, ja eigentlich das Selbstverständlichste; natürlich nicht aus der Linnaeusstraße, denn wenn Chuck dort in seiner blauen Uniform erschienen wäre, dann wäre womöglich Max, der Katenus, auf der Stelle an einem Schlaganfall oder an einer Koronarthrombose tot umgefallen, und dann wärst du mit Recht so böse auf mich geworden, dass es mich Monate gekostet hätte, dich wieder zurecht zu rücken. Und dann weißt du, ist die Fahrt im Polizeiauto ja auch so viel billiger, sie kostet garnichts, es sei denn der Beklagte wird vom Gericht, das heißt von mir, zu einer Geldstrafe verurteilt. Nun, freust du dich denn garnicht ein bisschen, dass du hier bist?” Charlotte empfand, dass es Zeit war, ihr Schweigen zu unterbrechen. Sie sagte, “Vielleicht, es wird sich herausstellen. In die Aletheia, wo du mich hast festnehmen lassen, war ich ja gekommen, lediglich um mit dir zu sprechen.” “Das kannst du auch hier,” sagte er, “und vielleicht viel besser.” “Das wird sich herausstellen,” antwortete Charlotte. “Das Thema, die Sorge die mich beschäftigt, deretwegen ich dich aufsuchte, hast du ja schon angeschnitten.” “Und das wäre?” “Nein, das ist, die Sicherheit von Maximilian Katenus und seiner Haushälterin Elly Solmsen?” “Was geht’s denn dich an, wo und wann und wie die beiden verrecken?” “Sie sind,” begann Charlotte, und war im Begriff Joachims Namen zu nennen, hielt dann aber inne, denn sie ahnte das diese Unterhaltung an diesem Namen, wie an einer schräg gestellten Weiche, entgleisen möchte. “Sie sind Bekannte, sind Freunde von mir,” erklärte Charlotte. “Das willst du mir weiß machen,” erwiderte Adams. “Sie sind Freunde von deinen Hausgenossen Joachim Magus und Jonathan Mengs. Du willst Katenus und seine Kebse beschützen um dich bei Joachim, in den du statt in mich vernarrt bist, einzuschmeicheln.” “Wie kannst du das sagen, wie kannst du das wissen? Woher weißt du, dass ich nicht auch in dich vernarrt bin? Siehst du nicht ein, dass die Aletheia, wo du im Aufsichtsrat sitzt, uns Mädchen alle zu Närrinnen macht indem sie uns lehrt in alle Männer vernarrt zu sein?” entgegnete Charlotte. Adams sagte: “Du bist klug, nein du bist überklug. Aber es bekommt dir nicht. Die Behörden wissen viel. Die Behörden wissen alles. Was die Behörden wissen, wird dich bei all deiner Überklugheit, dennoch überraschen.” “Wissen vielleicht, verstehen aber nichts,” erwiderte Charlotte. “Nein, da hast du gewissermaßen recht,” sagte Adams, “denn was einer, und wie einer versteht, hängt ab von seinem Vorhaben, und dein Vorhaben ist ein anderes als das Vorhaben der Behörden.” “Was weißt du von meinem Vorhaben?” “Eben nur soviel, als dass du mir als eine sehr begehrenswerte junge Frau erscheinst, die naturgegebener Weise den Wunsch hegt einen Mann zu finden, oder sich von einem Mann finden zu lassen. Du hast dir im Stillen gesagt, Ich werde Joachim kapern, indem ich Katenus und Elly rette. Ich vermag dies zu tun weil ich Beziehungen habe, weil ich eine besondere Beziehung habe, die ich zu diesen Zwecken auszunützen gesonnen bin. Der Richter Adams und ich sind gute Bekannte; wir pflegen eine besondere Beziehung zu einander, - um es bei dieser Beschönigung zu belassen. Ihn werde ich bitten, und wenn er mir meine Bitte nicht gewährt, dann werde ich seine Kooperation, seine Mithilfe erpressen, indem ich ihm drohe ihn mit unserer Beziehung öffentlich zu beschämen.” “Woher weißt du das? Wer hat dir meine innersten Gedanken verraten?” “Ach, liebes dummes kleines Kind, ich bin Richter und Tag für Tag ist es mein Amt mir die Bekenntnisse, die Geschichten, die Lügen, die Täuschungen und Selbsttäuschungen der Menschen anzuhören, zu verstehen, zu deuten und zu richten. Ich hab mich jahrelang geübt, hab mich vorbereitet vielleicht auf ausgerechnet diese Aufgabe.” “Und wie lautet das Urteil das ich nun zu hören bekomme?” fragte Charlotte mit großer Gelassenheit und Sachlichkeit, wie eine Anwältin die nicht in eigenen Angelegenheiten, sondern in den Angelegenheiten ihres Mandanten plädiert. “Mein Urteil,” anwortete Adams, “ist ein Kompromiss: Katenus und Elly, und übrigens auch deinem geliebten Joachim, auch der sich ihm aufzwingenden Vatergestalt Jonathan Mengs, und auch dir, mein Urteil soll euch allen aufgespart bleiben, solange du mich hier in meiner offiziellen Dachbehausung regelmäßig besuchst, vorgeblich freiwillig, und zu solchen Zwecken die ich dir von Mal zu Mal diktiere. Jetzt aber, sobald ich meine Anweisungen beendigt habe, darfst du zurück ins Döhringhaus in der Linnaeusstraße. Wenn du es möchtest, lasse ich dich sogar von Chuck dahin nach Hause bringen. Morgen abend, um Punkt acht Uhr stellst du dich dann hier, in dieser Dachwohnung wieder ein, und bleibst bei mir über Nacht, bis die Sonne wieder aufgeht. Erscheinst du aber nicht, so erlasse ich den Befehl, dass Katenus und Elly umgehend in Verwahr genommen werden.” Charlotte schloss sie Augen. Dann sagte sie nur, wie sie’s von Chuck gehört hatte, “Jawohl, Herr Richter, ich verstehe. Zu Befehl!” “Du bist doch keine dumme, du bist eine kluge, eine überkluge, und dabei noch eine sehr schöne, begehrenswerte Gans.” “Wie aber entkomme ich nun diesem Wolkenheim in das Sie sich zurückgezogen haben?” “Das bedarf der Spesen,” sagte der Richter Adams, “Nicht der Geldspesen, sondern, darf ich es sagen, der Körperspesen, denn von Liebespesen zwischen uns kann, deiner Seite gemäß jedenfalls, leider noch nicht die Rede sein. Begeben wir uns hier ins Nebenzimmer. Da steht ein Doppelbett.” “Nein, heute geht’s nicht. Aber ich mache dir einen Gegenvorschlag. Ich hab gesehen, wie du die Schlüssel in deine rechte Hosentasche stecktest. Sieh diese meine linke Hand, wie schön und schlank die Finger, geeignet die Geheimnisschlüssel, nicht nur den kleinen metallenen, sondern den den dicken, langen ewig unzufriedenen männlichen, oder sollte ich sagen menschlichen, zu finden und zu kosen, und einen jeden von ihnen in der ihm passend und gerechten Weise herauszuziehen, und somit bekäme ein jeder von uns die Erfüllung seines Wunsches, die Freiheit ich, du die Befriedigung.” “Das hast du sehr geschmeidig ausgesprochen. Ich akzeptiere. Wir sind uns einig. Du bekommst was du die Freiheit nennst, und ich genieße den Vorgeschmack von meinem Glück.” Kaum hatte Charlotte den Schlüssel ins Schloss geschoben, und gedreht, als die Tür, wie von selber aufsprang. Adams war ihr gefolgt. Er stand jetzt unmittelbar hinter ihr. Draußen vor der Tür befanden sich wie Schildwachen, die beiden Polizisten, Chuck zur rechten und Liese zur linken. “Du kannst hier bleiben,” sagte Adams zu Liese. Und du,” sagte er zu Chuck, “fährst sie in die Linnaeusstraße und lässt sie vorm Döhringhause laufen, wohin sie will. Nicht in der Schwarzen Minna. Nimm einen der Patrouillenwagen, setz sie rechts neben dich, und lass sie dieweil bis du sie aus dem Auto stößt, zur Sicherheit die Schellen tragen.” “Zu Befehl, Herr Richter,” war des Polizisten Anwort. Dann fasste Chuck Charlotte ans Handgelenk und zog sie in den offenstehenden Fahrstuhl. Liese aber folgte dem Richter in seine Amtsstube. Dies Mal brachte Chuck Charlotten in die Kellergarage und führte sie zu einem scheinbar beliebigen der mit glänzend grünem Band geschmückten Polizeiwagen, die angeordnet in Reih und Glied den hell erleuchteten und doch unübersichtlichen Raum beherrschten. Er setzte sie aber ohne Handschellen rechts in den Vordersitz, und sich selber links neben sie, hinter das Steuerrad, ließ den Motor anspringen und steuerte das offensichtlich peinlich gepflegte Fahrzeug mit behender Sicherheit durch den Wald wuchtiger betonbekleideter Stützpfeiler auf denen das riesige Hochhaus ruhte, zu einer vorerst unsichtbare Rampe, und indem er sich mit dem Wächter durch nichts mehr als einem zuckenden Nicken des Kopfes verständigte, die schmale steile Bahn ins schwindende Tageslicht und den dichten Verkehr des frühen Abends hinan. Zuerst, von der Vorstellung beherrscht, dass sie, vielleicht schon am morgigen Tag aufs Neue den Weg hierher zurück finden müsste, beschaute Charlotte die Kreuzungen die sie überquerten, und die verkehrsreichen Straßen entlang denen sie sich mal schnell, dann zögernd, und schließlich vom Gewimmel der Fahrzeuge fast zum Stillstand gebracht, stoßartig bewegten. Wenn es ihm allzu langsam ging, dann gab Chuck dem ans Steuerrad montierten Schalter einen flüchtigen Stups, ermunerte somit die Sirene unter der Haube zu mächtigem Geheul, und ließ die blauen Lichtstrahlen der Verdecksscheinwerfer in den spiegelnden Schaufensterscheiben auf beiden Straßenseiten glitzern. Dies tat Chuck fast an jeder Kreuzung, denn er war überzeugt, dass es eines Polizisten unwürdig und mit der ihm gebührenden Hochachtung unvereinbar sei, wie gemeine Autofahrer von dichtem Verkehr aufgehalten, wenn nicht gar zu völligem Stillstand gebracht zu werden. Wenn dann Sirenengeheul und blau schweifender Scheinwerferstrahl gewirkt hatten, schwenkte Chuck sein grünbestreiftes Polizeiauto in die linke Fahrbahn, nun bereinigt von entgegenströmendem Wagen, die sich inzwischen wie eingeschüchtert, zitternd an den Bordstein schmiegten. Dazu erklärte Chuck, “Du kannst dich “von” schreiben dass ich dich statt ins Kittchen, in die Universitätsstadt zu deiner Elitenbrut chauffiere.” Die Verlautbarung der schwadronierenden Gedanken ihres Wächters bewirkte Charlotte einzuschüchtern und ihr die Gefahren und die Misslichkeiten ihrer Lage ins Gemüt zu rufen. Sie verstand dass jeder Versuch sich mit diesem Menschen zu verständigen unmöglich und unsinnig wäre, und statt Erleichterung nichts als Verschlimmerung ihrer Lage einleiten würde, wenn diese, hoffnungslos wie sie nun einmal war, überhaupt schlimmer werden könnte. Sie schloss die Augen und ließ die Geschehnisse der jüngst vergangenen Tage an ihren Vorstellungen ein letztes Mal vorüber gleiten. Sie hatte helfen wollen, sie hatte ihr Äußerstes eingesetzt um Katenus und Elly, ja und auch Joachim, sich selber und Jonathan Mengs zu retten. Und alles war fehl geschlagen. Ihr Entschluss Katenus und Elly nicht zu verraten war überflüssig, denn die Behörden wussten alles, wie und woher wohl, das vermochte sie sich nicht zu erklären. Eines aber war bestimmt, nämlich dass man ihr einen Verrat an ihnen zu Last legen würde, dass man sie erst verdächtigen und dann beschuldigen würde zu mindest geplappert, wenn nicht gar zu irgend einem unbestimmten und ihr selber unvorstellbaren Vorteil ihre Freunde und Hausgenossen verraten zu haben. Ach, alles, das ganze Leben, war fürchterlich. Und nun fuhr sie dieser unfühlende Polizist unwissend von allem was das Leben gut und schön macht, zurück zu ihrem einzigen Zuhause, das doch in Wirklichkeit der Ort der tiefsten Demütigung werden müsste. Der einzig mögliche Ausweg war das Sterben, und auch das war ihr verbaut; denn der Gedanke, ich wünsche mir ich wäre tot, leitet keineswegs zu diesem Ziel, sondern macht den der ihn ausspricht lächerlich, und den der ihn zu verwirklichen versucht tatsächlich strafbar. Es wäre möglich sich eine Pistole zuzulegen mit der Absicht durch die ein eigenes Ende herbeizuführen. Aber wer würde ihr das glauben? Würde man nicht behaupten sie hätte diese gekauft mit der Absicht den Richter Adams zu ermorden, wie sie es tatsächlich mehrere Mal schon geträumt hatte, obgleich sie es im Wachen nie ernstlich in Erwägung gezogen hatte, oder doch? Würde man sie bei dem Versuch sich dies Instrument zur Erwerbung des ewigen Lebens zu kaufen, nicht festnehmen, des beabsichtigten Totschlags verklagen, und sie dann mit Chuck als Chauffeur nicht wie jetzt in die Linnaeusstraße sondern ins lebenslängliche Gefängnis schicken? Ach, die Bedrohungen waren entsetzlich; das Leben war entsetzlich und die wusste keinen Ausweg. Jetzt hatte Chuck an der bekannten Ecke der Landesallee eingebogen. Hier in der Linnaeusstraße war im Vergleich zu dem lebhaften Getreibe in der Großstadt, alles totenstill. Trotzdem meinte Chuck auch hier zu dem gefürchteten Traulichkeitsgruß der Polizei verpflichet zu sein, und obgleich auch nicht der geringste Verkehr wahrzunehmen war, ließ er, wie ein Dampfer beim Anlegen im Inselhafen sein tiefdröhnendes Signalhorn, die kreischend zudringliche Sirene von unter der Haube seines grüngestreiften Polizeiwagens ertönen. Die blauen Strahlen der zwei blinkend sich drehenden Scheinwerfer auf dem Wagendach ließ er zwei Mal die Umgebung umkreisen. Dann, als er Licht und Laut abgeschaltet hatte, brachte er den Polizeiwagen im nun fast völligen Dunkel des fortgeschrittenen Abends vorm Döhringhaus zum Stehen. Als Charlotte sich nicht rührte, sagte er schroff. “Löse deinen Sicherheitsgurt und mach die Tür auf. Dann raus mit dir.” Und als auch dieser Befehl nichts bewirkte, verstärkte er ihn: “Mach dass du raus kommst. Der Herr Richter Adams hat bestimmt du wärst frei zu gehen wohin immer du wolltest.” Da stand nun Charlotte vor der Verande des Döhringhauses und wagte nicht einmal ihren Schlüssel aus der Tasche zu ziehen, geschweige denn ihn in die Tür zu fädeln. Drinnen hätte sie nicht gewusst, was zu sagen, wie auch nur einem einzigen ihrer Mitbewohner ins Gesicht zu blicken, besonders nicht Joachim, denn den sollte sie nun auf unabsehbare Zeit mit Lemuel Adams betrügen, um Katenus und Elly, und vielleicht auch ihnen allen, die Freiheit zu bewahren und vielleicht sogar das Leben zu retten. Sie wusste wirklich nicht wie sie sich betragen, was sie sagen sollte, mit welchem Märchen die Geheimnisse ihres Daseins zu erklären oder zu verhehlen. Die Heimfahrt war zu Ende und doch war sie nicht zuhause. Indessen hatte Chuck sich umgehend aus dem Staube gemacht. Nun stand Charlotte im Dunkel auf dem Fußweg vorm Döhringhause und zögerte hinein zu gehen, und wusste weder aus noch ein. Vielleicht sollte sie einfach fortlaufen. Aber in welche Richtung, und zu welchem Ziel? Das Leben war ihr zur Unmöglichkeit geworden. Da meinte sie an der bedrohlichen Tür einen Spalt Licht zu erkennen. Nein, es war keine Einbildung von ihr. Das Licht erweiterte sich, und dann umrahmte es eine Gestalt. Es war Joachim. Daran vermochte sie nunmehr nicht zu zweifeln. Aber sie erstarrte ihm zu begegnen, vermochte keine Bewegung, geschweige denn einen Laut aus ihrer Kehle, hervorzubringen. Da vernahm sie, wie aus ganz weiter Ferne Joachims liebevolle Stimme. “Charlotte,” hörte sie hallen durch die schwarze Nacht. “Bist du es nicht? Bleib doch nicht draußen wo es jetzt so kalt wird.” Und weil das Mädchen sich nicht bewegte, trat Joachim heraus, fasste sie bei der Hand und führte sie die beiden niedrigen Stufen hinan in die warme, hell erleuchtete Eingangshalle des Döhringhauses. Noch im Dunkel, als sie Joachims Stimme zuerst vernommen, waren Charlotten Tränen in die Augen getreten, hatten sich dann bald, indem er sie ins Haus führte, über Lider und Wangen gedrängt, um sich schließlich in ungebändigtem Schluchzen zu ergießen. Drinnen waren Katenus, Elly und Jonathan mit einander und auch mit Schwiegel, der sich sogleich auf die Nachricht von Charlottens unerklärer Abwesenheit eingefunden hatte, im Musikzimmer im Gespräch verwickelt gewesen. Jetzt hatte sie Charlottens Schluchzen in die Vorhalle gezogen, auch sie ratlos, was zu tun, wie sich zu betragen, wohin sich zu wenden. Nächstliegend hätten Katenus und Elly sich in ihr Zimmer zurückgezogen, und vielleicht hätte Schwiegel seinen Besuch aufgeschoben und wäre jetzt erst einmal nach Hause gegangen. Aber beides war unmöglich, denn Charlotte und Joachim standen an dem Ort zwischen Tür und Treppenabsatz und sperrten den Weg zugleich nach oben und nach draußen. “Kommt”, sagte Joachim, der sich überwältigt fühlte, “Kommt. Gehen wir alle ins Musikzimmer.” Erstaunt und erleichtert sah er, dass Charlotte sich seinem Vorschlag fügte. Die Familienmitglieder und der ehrliche Anwalt Moritz Schwiegel der geblieben war, verteilten sich auf die verschiedenen Sitzmöglichkeiten in dem geräumigen Zimmer. Joachim hielt Charlottens Handgelenkt umklammert, und bewog sie sich auf dem Sofa neben ihn, zu seiner Rechten, zu setzen. Er hatte befürchtet, dass sich nun eine peinliche Stille ergeben möchte. Aber dies war nicht der Fall, denn Charlotte fühlte sich in dem Umkreis der bekannten, freundlichen, wohlmeinenden Familienmitglieder von denen sie nichts zu fürchten hatte, erleichtert. Sie hatte ihr Einzelspiel so weit getrieben wie sie es vermochte. Sie konnte nicht mehr, sie konnte nicht weiter. Sie musste sich ergeben. Sie musste um Hilfe bitten, obgleich sie keine Vorstellung hatte, wo doch alles verloren war, worin denn diese Hilfe bestehen möchte. “Ich habe es ja alles nur getan,” begann Charlotte, “weil ich Joachim so lieb habe, dass ich mich auch euch, seinen Freunden verbunden fühle, so verbunden, dass ich bereit war mein Äußerstes zu tun um euch zu helfen, um euch zu retten.” Jetzt schwieg Charlotte, aber auch ihre Zuhörer blieben stumm, und deshalb fuhr sie umso entschlossener und vielleicht sich selbst gegenüber rücksichtsloser fort. “Ich wisst ja, jedenfalls wissen Moritz und Joachim die mich dort besucht haben, welchen Unfug man mit mir in der Aletheia getrieben hat, und zu welchen Unwürdigkeiten ich meinte mich erniedrigen zu müssen, wenn nicht zu müssen, dann jedenfalls zu sollen. Ich nehme an, dass Joachim und Moritz die Einzelheiten euch anderen erzählt und beschrieben haben, so dass es mir jetzt erspart bleiben möchte, die Beschreibung dieser grausigen und grausamen Epoche in meinem Leben zu wiederholen.” “Nein, liebe Charlotte,” sagte Elly, wir wissen von allem, und wir versuchen alles zu verstehen.” “Aber berichte uns doch,” bat Schwiegel, dessen rechtlich geschulter Spürsinn ahnte, dass Charlotte am heutige Tage etwas Außerordentliches erlebt hatte, “was dir heute geschehen ist, was du heute erlebt hast.” Charlotte ließ nicht auf sich warten. “Ich wusste es ja, Joachim hatte es mir erzählt, dass Katenus und Elly sich hier versteckt halten, weil sie von bösen Menschen auf der Insel misshandelt, verfolgt, und ich glaube der technische Ausdruck ist, gefahndet werden. Und dass sie sich hier bei uns verborgen halten um nicht von den Behörden fest genommen, ins Gefängnis gesperrt, und vielleicht sogar getötet zu werden. So habe ich Joachim verstanden, ich habe ihm versprochen weder eure Namen noch eure Anwesenheit hier, oder überhaupt die Anwesenheit irgendeines fremden Ehepaares hier, an keinen Menschen jemals auch nur zu erwähnen. Und glaubt mir bitte, ich habe es nicht getan. Und erlaubt mir es zu beschwören, mit einer eidesstattlichen Erklärung, wie man sagt.” “Du brauchst es nicht zu beschwören,” sagte Schwiegel, “ich glaube dir,” und Jonathan Mengs setzte hinzu, “Wir alle glauben dir.” Schwiegel fuhr fort, “Aber das ist doch nicht alles, erzähl uns von heute.” “In der Aletheia,” sage Charlotte, “hatte ich einen Mann getroffen der besonders in mich vernarrt war, er ist der Richter Lemuel Adams, der neuerdings wegen seiner Beziehung zu mir mit seiner Frau, ich glaube sie heißt Anneliese Stark, zerstritten ist. Ihn wollte ich aufsuchen und ihn bitten, nein ihn wollte ich zwingen, Katenus und Elly und uns alle zu schützen. Jetzt sehe ich ein, wie unmöglich sich dieses Vorhaben mit meinem Versprechen Eure Anwesenheit hier nicht preiszugeben vereinbaren lässt. Aber ich habe mein Versprechen nicht gebrochen, dass kann ich euch beschwören.” “Doch erzähl uns nun doch, was tatsächlich passiert ist,” bat Schwiegel, von seiner Zudringlichkeit selbst peinlich berührt. “Ich hatte ja,” fuhr Charlotte fort, “nachdem Anneliese den Lemuel und mich aus ihrem Hause geschmissen hatte, gehofft, dass sie damit auch meiner Beziehung zu dem Richter einen endgültigen Beschluss bewirkt hätte. Das konnte aber nicht der Fall sein, denn um euch zu schützen, um euch zu retten, musste ich den Lemuel aufsuchen. Ich wusste ja garnicht wo er war. Ich wusste aber dass er zum Aufsichtsrat der Aletheia gehörte, und ich dachte, Georg, der Türhüter dort oder Hausmeister oder wie immer man so einen nennt, würde mir bereitwillig des Richters Aufenthaltsort mitteilen.” “Und das ist nicht geschehen?” fragte Jonathan. “Im Gegenteil, es geschah mit unerwarteter Gewaltsamkeit. Scheinbar hatte man einen Besuch von mir vorausgesehen, und hatte sich auf ihn vorbereitet. Denn kaum war ich in der Aletheia erschienen, kam Georg, nahm mich in ein Nebenzimmer, schloss hinter mir ab, und ließ mich eingesperrt, bis die Polizei erschien mich abzuholen.” “Aber wie konnten sie denn das? Du hattest doch gar nichts getan.” wandte Joachim ein. “Ach, Joachim, du unschuldiges Kind,” ließ sich Schwiegel hören, und sagte nichts weiter. “Jetzt meine ich zu verstehen,” fuhr Charlotte fort, “dass Adams sich nach mir gesehnt hatte, dass er mich erwartete, und da er mich in seinem Hause in Waldshut, das wie es sich seitdem herausgestellt hat, eigentlich seiner Frau Anneliese Stark gehörte, nicht mehr zu empfangen vermochte, er mich in sein neues Heim, im Penthaus in der Stadt, das ihm von den Gerichtsbehörden als Amtssube zur Verfügung gestellt war, zu empfangen beabsichtigte. Um mir aber den Weg dorthin zu weisen, bediente er sich seiner vertrauten Mitarbeiter in der Polizei.” “Also, tatsächlich, im gerichtlichen Penthaus hat dich der Herr Richter Adams empfangen. Scheinbar betrachtet er es als eine Art Liebesnest,” meinte Schwiegel, “Vielleicht ist es das auch. Vorgeblich wäre dann das ganze Schalten und Walten der Gerichtsbarkeit ein Ausdruck ihrer Liebe zu den Menschen. Das reimt sich.” “Wie kannst du sagen,” protestierte Joachim, “dass es sich reimt? Beweist nicht ausgerechnet die Situation in welcher wir uns befinden das Gegenteil, dass die Verlogenheit und die Perfidie der Richter und der Gerichte über alle Grenzen hinaus strebt?” “Da hast du recht, Joachim,” sagte Mengs, “und verfällst doch einem entscheidenden Fehler.” “Bitte, erklär ihn mir!” “Die Wahrheit,” fuhr Mengs fort, “ist etwas das nicht innerhalb, sondern außerhalb des menschlichen Gemüts, des menschlichen Geistes besteht. Gewiss es geschieht oft, sehr oft, dass wir sie verfehlen. Schon die Behauptung, dass sie außerhalb meines Begreifens bestünde ist ein Widerspruch, denn wie vermöchte ich von dem zu zu wissen, was außerhalb, was mir fremd ist. Zugleich aber, wenn ich zugebe, das Wahrheit etwas mir Unerreichbares ist, beweise ich nicht dann das Gegenteil, eben dass ich mit meiner Einsicht, dass meine Erkenntnis der Unwahrheit wahr ist, und dass ich mit meinem vermeintlichen Erkenntnis der Unwahrheit, stattdessen genau das, was tatsächlich Wahrheit ist, erkannt habe?” Das Schweigen das nun entstand wurde von Charlotte aufgehoben. Ihre Tränen waren völlig versiegt als sie sagte, “Wahrheit aber muss es dennoch geben. Denn es muss wahr sein, es ist wahr, und es muss wahr bleiben, dass ich euch, dass ich uns durch meinen Besuch bei Lemuel Adams nicht verraten habe. Denn ich habe geschwiegen. Ich habe vorsätzlich nichts gesagt. Denn er wusste es ja schon, er wusste alles. Er weiß alles, und er wird nichts vergessen. Er will mich zwingen ihm willfährig zu sein, und er droht wenn ich ihm nicht alles erfülle, Katenus und Elly, Jonathan und Joachim, und auch mich selber zu zerstören. Was soll ich tun? Sagt es mir bitte, ich weiß es wirklich nicht.” “Liebes, gutes Kind,” begann Jonathan Mengs, und erstaunte selbst dass er, zum ersten Mal, Charlotte wie eine Tochter anredete. Dann, als wäre es sich der Wirklichkeit und Bündigkeit seiner Worte zu versichern, wiederholte er, “Liebes gutes Kind,” und fuhr fort, “Es mag ungehörig von mir sein, dass ich deiner Beschreibung vom Richter Adams die Geschichte eines der alles weiß und der alles vermacht, der also allwissend und allmächtig ist, die Legende eines bösen Gottes, eines Gegengottes, eines Satans entnehme. Ich bin nun einmal Literaturhistoriker. Das vermag ich nicht zu ändern, und weiß nichts als um Vergebung zu bitten.” “Rede nicht von Vergebung.” sagte Katenus, “Was wir dir schuldig sind, lieber Jonathan, ist Dank, den tiefen Dank der dafür gebührt, dass du uns den Weg aus diesem bedrohlichen Labyrinth, wo wir uns befinden, gezeigt hast. Ich will nicht behaupten, dass es unbedingt der einzige Weg ist, aber doch, dass es der einzige ist den ich hier und jetzt, an diesem Zeitpunkt, als gangbar betrachte.” “Wieso,” fragte Joachim, “bitte zeig ihn uns, mit größerer Deutlichkeit.” “Es ist natürlich,” begann jetzt Moritz Schwiegel, “dass wir uns ängstigen vor dem Menschen der uns bedroht, dass wir uns wehren und dass wir ihn bekämpfen. Manchmal gelingt es, uns sicher zu stellen, manchmal nicht. Dabei neigen wir zu vergessen, dass auch der Gegner ein Mensch ist, mit seinen Sorgen und Nöten, und dass diese, allenfalls größten Teils, es sind die seine Handlungen bestimmen, und die ihn zu dem gemacht haben der er ist. Vielleicht sollten wir unter den gegebenen Umständen die für uns bis zur Hoffnungslosigkeit ungünstig erscheinen, den Versuch machen, statt den Gegner zu bedrohen und zu verletzen, ihn zu unseren Gunsten zu verwandeln.” Hier fädelte Jonathan Mengs sich in das Gespräch. “Moritz,” sagte er, “deine Ausführungen erinnern mich an ein berühmtes Schauspiel, vielleicht das bedeutendste, - um das Wort ‘größte’ zu vermeiden, in der deutschen Sprache.” “Iphigenie auf Tauris, von Goethe,” sagte Joachim, als unterzöge ihn sein Lehrer einer mündlichen Prüfung. “Richtig,” sagte Jonathan, und Joachim ergänzte, “Da heißt es: ‘Ein edler Mann wird durch ein gutes Wort der Frauen weit geführt.’” “Setzt aber voraus, dass dieser Lemuel Adams ein edler Mann ist.” Es war Maximilian Katenus der endlich begann an dem Gespräch Teil zu nehmen, und seine Geliebte, Elly, setzte hinzu, “Es ist nicht nötig, dass er tatsächlich ein edler Mann ist. Es genügt, wenn Charlotte im gegebenen Augenblick den strengen, gefürchteten Richter sich und ihm selber als einen edlen Mann vorstellt.” “Du meinst, also,” sagte jetzt Katenus, “es genügt, dass Charlotte ihm schmeichelt, und ihm vorlügt, dass sie ihn als einen solchen betrachtet. Vielleicht kommt jetzt das wahre Wesen deiner Beziehung zu mir ans Licht.” “Ach, Katenus, du bist doch nicht so klug, wie du mir oft erscheinst, denn du willst nicht einsehen, wie unvermeidlich es ist, dass dieser Richter sich vornehmlich durch die Liebe geschmeichelt fühlt.” “Also ist es im Grunde deine Überzeugung, dass sie sich am Ende doch an den Richter verschenkt, so wie er es sich träumt.” Charlotte hatte wieder zu weinen begonnen, aber im Stillen, ohne zu schluchzen, so dass das Gespräch über sie hinweg floss. Jonathan Mengs nahm die Unstimmigkeit zur Kenntnis, und war nun beflissen die Diskussion aufs Neue in eine erbauliche und konstruktive Spur zu lenken. “Dem gewissenhaften Literaturwissenschaftler,” begann er, “ziemt es daran zu erinnern, dass Thoas, der Tyrann von Tauris keineswegs als ein edler Mann erscheint, war es doch seine Gepflogenheit, grundsätzlich sämtliche Flüchtlinge die sich auf seine Insel zu retten versuchten, töten zu lassen, und dass Iphigenie ihn durch ihre, nicht seine, edle Menschlichkeit dazu bewogen hatte, dieses barbarische Bestrafen unschuldiger Menschen zu unterlassen. Wenn Iphigenie dem Barbaren Thoas schmeichelt indem sie auf ihn als einen edlen Mannes weist, tut sie nicht dann genau das, womit Charlotte den Barbaren Adams zu bekehren sucht.” “Da hast du recht,” sagte Katenus, “Eh ich mich äußerte, hätte ich mich in deine Vorlesungsreihe über Goethe einschreiben lassen sollen.” Mengs schien diese Anerkennung zu überhören. “Mir scheint,” fuhr er fort, “wir haben uns durch eine falsche Alternative, durch ein verfehltes Entweder/Oder ablenken lassen. Die Beziehungen zwischen uns Menschen sind alles andere als einfach, und mich dünkt es ist unserer Sprache bis jetzt jedenfalls nicht gelungen, dieser Vielfältigkeit gerecht zu werden. Erinnert doch das Alte Griechisch, das uns nicht nur von Eros, sondern auch von Agape und Philia, also nicht nur von Leidenschaft sondern auch von Wohlwollen und Freundschaft erzählt. Ungeachtet der inbegriffenen oder ausdrücklichen Voraussetzungen unserer modernen Seelenzergliederer, vermögen Mann und Frau freundschaftliche Beziehungen zu pflegen ohne sich zu begatten, obgleich, zugegeben, dergeichen freundschaftliche Beziehungen nicht selten Vorstufen zu den intimsten körperlichen Verbindungen sind.” “Ich hoffe,” unterbrach Moritz Schwiegel, “du stimmst mit mir überein, dass es zu eurer allem Wohlergehen unbedingt notwendig ist, dass Charlotte die Beziehungen zum Richter Adams aufrecht erhält.” “Gewiss”, antwortete Mengs, “aber zugleich ist es, besonders für Charlottens Seelenheil und Seelenruhe, wichtig zu betonen, dass es keineswegs notwendig ist, dass diese Beziehungen körperlich sein, bleiben oder werden sollten.” “Charlotte,” fügte jetzt Joachim hinzu indem er ihr, die neben im saß, die Hand drückte, “Charlotte, entschuldige mich, entschuldige uns, dass wir hier so öffentlich und in deiner Gegenwart über deine privatesten Angelegenheiten sprechen.” “Aber das ist gut so,” sagte Charlotte, “das hilft mir, und das macht mir das Leben leichter, vielleicht auch erst erträglich. Denn seht ihr, und das verstehe ich jetzt sehr gut, es ist ja das Umgekehrte von den Lehren welche die Aletheia mir hat angedeihen lassen, welche gerade das Gegenteil erstrebten. Ich bin weder zu jung, noch bin ich zu alt, um Neues zu verstehen und zu beherzigen.” “Ach wie gut,” fasste Schwiegel zusammen, “dass sich uns die Gelegenheit zu dieser Konferenz ergeben hat. Charlotte, dessen bin ich zuversichtlich, wird die Beziehung zum Richter Adams aufrecht erhalten, und wird diese Beziehung in solcher Weise umgestalten die für uns am vorteilhaftesten und für sie am erträglichsten ist. Charlotte,” fügte er hinzu, “wenn du möchtest dass ich dich bei deiner Rückkehr zu Richter Adams begleite, biete ich mich an dies für dich, für uns alle zu tun. Wenn du ihm aber allein, ohne mich begegnen möchtest, verstehe ich auch das. Du magst es dir überlegen.” Bei diesen Worten veränderte sich Charlottens Gesichtsausdruck. Sie versuchte zu lächeln indem sie sagte, “Ja, Herr Schwiegel, Ich danke ihnen sehr. Ich möchte dass sie mich begleiten.” Und mit diesem Einverständnis hatte diese Besprechung ihren natürlichen Beschluss gefunden. “Komm,” sagte Charlotte zu Joachim, “Lass uns nach oben gehen.” Dabei nahm sie und drückte Joachims Hand. Die beiden standen auf, verließen das Musikzimmer, und folgten einander in ihr Zimmer. Obgleich Charlotte und Joachim fort waren, machte keiner der hinterbliebenen Bewohner des Döhringhauses, Mengs, Katenus oder Elly, noch ihr Besucher und Rechtsberater Moritz Schwiegel, Anstellung sich zurückzuziehen. Es schien im Gegenteil, als wäre die dramatische und pathetische Rückkehr Charlottens von ihrem jüngsten Abenteuer für die Hinterbleibenden der Auftakt zu weiteren und tiefgreifenden Auseinandersetzungen über die Tücken, Hinterhälte und Unvoraussagbarkeiten des Schicksals geworden. “Das arme, gute Kind,” begann Katenus, “es ist bereit um unser aller Sicherheit und Seligkeit willen, sich dem Leben einer Hure im Penthaus des ehrwürdigen Richters Lemuel Adams zu ergeben.” “Das ist kein schönes Wort,” protestierte Elly, “und ich besonders, aber auch du, wir sollten es vermeiden.” “Das Hässliche wird durch die Wahrheit nicht verunstaltet, sondern nur verschönert,” sagte Katenus, und Mengs fügte hinzu, “Das Böse aber behauptet sich gegen jegliche Wahrheit und bleibt unverändert. Verschönern aber ist ein Wort wovon auch der Duden weiß, und darum muss etwas wie Verschönerung möglich sein. Verhüllung ist ein anderes Wort das auf dasselbe hinweist. Die heilige römisch katholische Kirche, so will mir scheinen, hat die verschönernde Verhüllung aufs Äußerste getrieben.” “Wie meinst du das?” fragte Elly. “Die Legende von der alleinerziehenden Gottesmutter, finde ich ist in der Gattung der Verhüllungen nicht zu übertreffen.” “Und wem hätte die sich geopfert?” “Dem höchsten aller Wesen, dem Gotte, natürlich, indem sie sich damit zufrieden gegeben hat, die Beziehung zu ihm, die wahre Vaterschaft geheim zu halten. Nein, so war es nicht. Was wirklich geschah,” fuhr Jonathan fort, “ist dass die Vaterlosigkeit für den Sohn der alleinerziehenden Mutter diesem eine übermäßig nachhaltige Belastung bedeutete, welche die restlichen Tage seines kurzen Lebens entscheidend beschattete und bestimmte. Die überwältigende Sehnsucht nach einem Vater leitete ihn zu der Vorstellung, dass der Herrgott im Himmel sein Vater sei. Das Miasma der Rabbineratmosphäre in der er aufwuchs und in die er erzogen wurde, ermöglichte und bekräftigte seinen Wahn. Zudem lebte er in einer Welt der dieser Wahn annehmbar war und die bereit war ihn zu bestätigen. Und trotzdem erkannten sie ihn als einen Ungewöhnlichen, Besonderen, einen von seinem Gott Auserwählten und Gezeichneten; also auch als einen von ihnen Abgetrennten, der dazu taugte sie durch seinen Opfertod mit dem entsetzlichen Dasein zu versöhnen. Denn sie lebten in einer brutalen Gesellschaft, in einer brutalen furchterweckenden Umwelt, die das Wohlsein, die Gesundheit, das Leben des Einzelnen in so geringem Maße achtete, dass sie diejenigen die sich weigerten, oder denen es sich als unmöglich ergab sich in die Gesellschaftsordnung zu fügen, durch Kreuzigung umbringen ließ. Den historischen Berichten zufolge waren die römischen Straßen vielen Orts Schmerzenswege, viae dolorosae, mit ungezählten Kreuzen bestückt, daran gefolterte, elend verreckende Menschen starben. Diese Umwelt des Gräuels schuf eine allgemeine Verletzung welche die Seelen schwer bedrückte. Es ergab sich eine post-traumatische Belastung auf welche man mit einem Opferwahn reagierte, mit dem aus unterbewusster Ahnung quellendem Beschluss das bedrohliche Leiden und den entsetzlichen Tod von sich abzuwenden, indem man es auf ein Tier, oder gar auf einen auserwählten Menschen legte, um auf diesen die Rache des Schicksals zu überweisen, und somit sich selber vor dem Entsetzlichen zu retten. Das war der Grund weshalb sie, wie die Evangelien berichten, schrieen: ‘Kreuzige, kreuzige, kreuzige ihn!’” “Was hat dies alles aber mit uns und unserer Situation zu tun?” fragte Moritz Schwiegel.” “Was es mit unserer Charlotte zu tun hat,” antwortete Mengs, “das weiß ich eigentlich auch nicht. Was es aber mit Katenus und Elly zu tun hat, ist augenscheinlich, eben weil Katenus verschieden von anderen Männern ist, und seine Elly, von anderen Frauen.” Jetzt aber wurde die Diskussion unterbrochen, denn Charlotte und Joachim waren zurückgekehrt. Joachim erklärte was sie im Sinne hatten. “Charlotte und ich haben alles besprochen, und Charlotte ist nun fest entschlossen Katenus und Elly, aber auch uns andere vor Adams und seinen Genossen zu schützen, indem sie die Beziehung zu Adams pflegt und erhält.” Jetzt sprach Charlotte, “Ich weiß aber nicht wie ich das anstellen soll. Darum sind wir zu euch zurückgekommen, um Rat und Anweisungen zu holen, besonders von Herrn Schwiegel.” “Ach, Charlotte,” sagte dieser, “bitte nenne mich Moritz. Ich will nichts weiteres heißen. Besonders den Herrn lass aus dem Spiel.” “Entschuldige,” war Charlottens Antwort, “ich hab es nicht so gemeint. Aber den Rat, den brauche ich immer noch.” “Ich möchte nicht den Eindruck erwecken,” begann Schwiegel, “dass ich auch nur das Geringste was ich von Richter Adams weiß als löblich oder erbaulich beurteile. Ein Urteil ist ein Richtspruch, und es steht, wie du weißt, geschrieben, ‘Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet.’ Dieser Spruch enthält den Kern des geheimnisvollen Gebots, Liebet eure Feinde, denn eure Feinde werden sie erst dadurch, dass ihr sie richtet.” An dieser Stelle wurde Schwiegel von Katenus unterbrochen. “Wenn ich nicht irre,” sagte er, “so weist Moritz Schwiegels Ratschlag auf die stets heikle, und manchmal gefährliche Beziehung der Sprache zum Erleben.” “Aber ist nicht auch die Sprache Erleben? Und zuweilen von bestimmender, herrschender Art?” unterbrach Joachim. “Da hast du recht,” gestand Katenus. “Vielleicht hätte ich mich mehr präzise ausdrücken, und hätte auf die stets heikle, und manchmal gefährliche Beziehung der Sprache zu außersprachlichem Erleben hinweisen sollen.” “Die Problematik die hier angeschnitten wird,” fuhr Mengs dazwischen, "ist genau womit der Literaturwissenschaftler sein Leben lang ringen muss.” “Da gebe ich dir recht,” sagte Katenus. “Erlaube mir hinzuzufügen dass eine Lösung zu finden ihm erst gelingen wird, wenn er selbst Schriftsteller geworden ist, und vielleicht auch dann nicht.” “Was ich betonen möchte, ist dass vielleicht in Charlottens Verhandlungen mit dem Richter Adams, wenn ich sie so bezeichnen darf, die Sprache eine untergeordnete Rolle spielen sollte.” “Und was wäre die dazu übergeordnete Handlung?” fragte Charlotte. “Ja, die wäre, wenn ich es so ausdrücken darf, eine neutrale aber wohlwollende Einstellung, welche dem Richter die Möglichkeit, den Seelenraum bietet, sich zu entwickeln.” “Das liefe ja dann auf eine Bekehrung hinaus,” bemerkte Katenus. “So möchte man es nennen. Haben Sie etwas dagegen, ich meine, halten Sie, entschuldige, hältst du so etwas wie Bekehrung überhaupt möglich?” “O, ja, aber wenn man von Bekehrung spricht, möchte man sich bewusst sein, wo von man redet.” “Was ihr da erzählt, hilft mir nicht. Sagt mir doch bitte, wie ich mich zum Richter Adams hinfort verhalten soll.” “Mein Rat an dich, und das ist vielleicht das wichtigste was ich dir zu sagen habe,” hub Schwiegel aufs Neue an, “Du solltest deine gegenwärtigen und zukünftigen Beziehungen zu dem Richter, als unabhängig von den Erlebnissen der Vergangenheit betrachten. Ich weiß, das ist leichter gesagt als getan. Insofern es dir aber gelingt, wird es nicht nur dich, sondern auch ihn befreien. Zum zweiten, versuch nicht das Erleben durch Worte, durch die Sprache zu stiften oder auch nur zu beschreiben. Enthalte dich jeglichen Urteils nicht nur über den Richter, auch insbesondere, über die eigenen Gefühle. Zum dritten, gib dem Richter die Gelegenheit sich dir zu erklären. Höre ihn an ohne ihm zu widersprechen. Menschen hören sich gern reden, besonders die Männer, und je älter sie werden, desto mehr. Zum vierten, wenn er Forderungen an dich stellt, seien es körperliche, wie etwa, ‘Setz dich zu mir auf das Sofa’, oder geistige, wie zum Beispiel, ‘Erzähl mir was du denkst’, dann wenn es dich nicht belastet, erfülle ihm seinen Wunsch, ohne zu zögern. Andernfalls aber, auch wenn des Richters Forderungen dir zuwider sind, lehne sie nicht umgehend ab, sondern bitte um Bedenkzeit, unter Umständen von bestimmter Spanne. Betrachte eine solche Antwort nicht als unaufrichtig. Sie ist der Möglichkeit eines Meinungswechsels gerecht, wie denn das Leben sich stets in unaufhaltbarem Fluss befindet. Unterlasse es in des Richters Gegenwart Aufzeichnungen zu machen, denn einem Rechtskundigen möchten sie den Verdacht einer Absicht ihm eine Falle zu stellen nahe legen. Stattdessen verwahre was du hörst und erlebst, und die Vorstellungen von allem was geschieht gewissenhaft in deinem Gedächtnis. Da ist es verlässlich und unverbrüchlich aufgehoben. Wenn du in des Richters Abwesenheit Gelegenheit hast, und besonders auf dem Heimweg, repetiere deine Erinnerungen so oft, so genau und so präzise, wie du kannst, und dann sobald du hier zuhause in deinem Zimmer bist, trage sie ein, so sorgfältig und detailliert wie möglich, in ein Tagebuch das du führen sollst.” “Wäre es nicht gut, ist es nicht notwendig, unter Umständen von Zeit zu Zeit etwas auszulassen um es zu vergessen?” fragte Mengs. “Ich hab euch meinen beruflichen Rat gegeben,” erklärte Schwiegel. “Alles Geschriebene ist der möglichen Redaktion anfällig, und für die originale Fassung steht jeweils der Ofen zur Verfügung. Laut unserer Verfassung, darf kein Mensch gezwungen werden, sich selber zu belasten. Zwang zur Inkriminierung gibt es nicht.” Alle Hörer waren von Schwiegels Sagazität beeindruckt, besonders Charlotte. “Ach, Moritz,” sagte sie, “Ich bin dir ja so dankbar für deinen Rat, der mir überhaupt erst einmal wieder den Blick in die Zukunft ermöglicht.” Daraufhin zogen Charlotte und Joachim sich zurück. Auch Katenus und Elly fanden es war Zeit, ins Bett zu gehen. Nur Mengs und Schwiegel waren zurückgeblieben. “Die Verwaltungen der Gerichte sind verwickelte Sachen. Ich will versuchen, weitere Informationen einzuholen. Das möchte uns helfen.” Auf diese Bemerkung hin verabschiedete sich Schwiegel. Nun ging auch er. Mengs aber begab sich in sein Arbeitszimmer, setzte sich an seinen Schreibtisch, schaltete seinen Rechner an, und machte sich Notizen über den ereignisvollen Abend. Diese Nacht verbrachten beide, Joachim und Charlotte in tiefem traumlosen Schlaf. Als sie erwachten, verkündete Joachim seine Absicht den Tag in der Bibliothek zu verbringen. “Du weißt,” antwortete Charlotte, “dass ich heute Abend eine Verabredung mit dem Richter Adams habe. Der hat mich um acht Uhr in seine Amtsstube bestellt als Vorbedingung seines fortwährenden Schutzes von Katenus und Elly, und eigentlich auch von uns allen. Das ist ein Verabredung die ich nicht versäumen darf.” “Und wann kommst du zurück?” fragte Joachim. “Ich hoffe,” sagte Charlotte, “dass es nicht zu spät sein wird. Andererseits aber musst du bedenken, und vergiss bitte nicht, wie umständlich der Weg aus der Innenstadt hier zurück in die Linnaeusstraße ist, besonders spät am Abend.” “Also kommst du vielleicht erst am Morgen wieder.” “Das ist möglich. Ich kann es nicht voraussagen. Aber mach dir keine Gedanken, keine Sorgen um mich. Ich weiß was ich tue. Glaub mir, alles was ich tue, tue ich für uns. Wo immer ich bin, denke ich an dich. Ich habe dich sehr lieb.” Mit diesen Worten umarmte Charlotte Joachim und küsste ihn. Dann riss er sich von ihr los, öffnete die Tür, und ging. Charlotte aber horchte ihm nach wie er die Treppen hinab stieg. Als sie dann hörte dass er die Außentür hinter sich zugezogen hatte, schloss sie auch ihre Zimmertür, setzte sich an den kleinen Tisch, verbarg ihr Gesicht in den Händen womit sie noch eben Joachims Wangen beim Küssen gehalten hatte, und weinte. Schließlich hatten Charlottens Tränen versiegt. Sie hatte ihr Kleid geordnet, hatte das Bett gemacht und war in der Küche erschienen. Seit einiger Zeit schon hatte sich das gemeinsame Frühstücken als unpraktisch erwiesen, denn von den fünf Familienmitgliedern folgte ein jedes seinem oftmals unvoraussagbaren und veränderlichen Tagesplan, so dass ein jeder sich die tägliche Morgenmahlzeit nach eigenem Gutdünken improvisierte. Nur Katenus und Elly frühstückten noch regelmäßig zusammen. So bereitete sich Charlotte auch jetzt ihr eigenes Frühstück. Indem sie auf den Toaster wartete, versuchte sie sich vorzustellen, wie sie bis um sechs Uhr nachmittags, die restlichen Stunden des Tages verbringen würde. Der verschiedenen Pflichten diesem Hause und dessen Bewohnern gegenüber, Pflichten welche sie freiwillig übernommen hatte, das Staubwischen, die Abwäsche des Geschirrs, das Ablegen in die gehörigen Schubfächer und Schränke der verschiedenen Habseligkeiten die herumgestreut lagen, war es aus Gleichgültigkeit, aus Bequemlichkeit, aus Vergesslichkeit, vielleicht sogar aus Laune oder Schlamperei, was kam es darauf an woraus oder woher, nur dass es des häuslichen Friedens halber eben diese abschätzigen Worte in diesem Haus die Halblügen – oder waren es Halbwahrheiten - zu erwähnen nicht erlaubt war. Ach, mit diesen Kleinigkeiten würde sie sich noch ein paar Stunden lang betätigen, nicht aber aus Pflichtbewusstsein, geschweige denn aus Leidenschaft, sondern aus langer Weile, denn sie sehnte sich nach einer anderen Umgebung, nach Veränderung, nach Verwandlung, das musste sie sich gestehen, und hier zu bleiben und zu den hier Eingesessenen zu gehören, das vermochte sie sich kaum vorzustellen. Mit diesen Gedanken drängte sich ihr auch die Aletheia ins Gemüt. Nein, dahin zurück wollte sie unter keinen Umständen, aber das Penthaus war ja letzten Endes nicht die Aletheia. Der Unterschied, das meinte Charlotte jetzt klar zu verstehen, war nicht die Abwesenheit des geschlechtlichen Zwanges den sie verabscheute, auch nicht der geschlechtlichen Gelegenheiten die sie ungern entbehrte. Der Unterschied war das im einen Falle, die Hörigkeit eine allgemeine war, dass sie in der Altheia das Spielzeug, der Lustgegenstand, der zeitweilige und ewig aufs Neue wechselnde Besitz von so vielen verschiedenen Präzeptoren war, dass sie sich an keinen gebunden fühlte, keinem endgültig zugehörte, nein dass sie, Gott sei Dank nicht mehr war, was sie vormals gewesen war, was sie als so erniedrigend empfunden hatte, während im Penthaus, so stellte sie es sich vor, und so sagte sie es sich jetzt, sie zum Besitz des einen starken Mannes, des wenn auch schieläugigen Richter Adams werden würde, werden müsste, wenn sie es nicht schon geworden war, und dies wegen der Pflicht und Notwendigkeit des Richters Geliebte zu sein, oder so zu tun als ob sie es wäre, um Katenus und Elly, Joachim, ja, und auch sich selbst die Freiheit und das Leben zu retten. KK << 5. Kapitel KK 3188 >> Trotz oder vielleicht wegen dieser Überlegungen waren die Stunden nur schlängelnd verstrichen. Schließlich aber stand der Zeiger der Uhr auf fünf vor Sechs. Um das heutige Abendessen jedenfalls würde sich Elly, wenn nicht gar ein jeder der anderen selbst zu kümmern haben. Was ihr, Charlotten, selber zum Abendessen bevorstünde, wusste sie nicht, kümmerte sie auch so wenig, dass es ihr als unbeträchtig in dem Maelstrom der anderen Unbestimmtheiten des Tages verschwand. Sie suchte ihren leichten Sommermantel im Regal, und da sie ihn unverzögert gefunden hatte, schritt sie um Punkt sechs Uhr durch die große eichene Vordertür des Döhringhauses in den anbrechenden Abend. Der Abwechslung halber überquerte sie die Linnaeusstraße, und schritt langsam, schlendernden Schrittes, an deren Südseite der Landesallee entgegen. Da vernahm sie das sanfte Dröhnen eines Fahrzeugs, welches von hinten auf sie zuzukommen schien, jedoch ohne sie zu überholen. Plötzlich erschallte unmittelbar neben ihr, wie verschiedentlich gestern auf der Fahrt hierher, der kurze doch schrille Ton der Polizeisirene, und als sie sich drehte, sah sie den grüngestreiften Polizeiwagen neben ihr zum Stehen gekommen, mit der rechten Vordertür geöffnet, und nun erkannte sie die Gestalt von Chuck, dem Polizisten. “Steigen Sie doch ein, rief er,” und dann, als sie neben ihm saß, fügte er hinzu, “Aber freiwillig, denn Sie heute festzunehmen habe ich keine Befugnis und gewiss keinen Wunsch.” Charlotte schwieg. Sie war erleichtert, dass ihr der umständliche Weg ins Penthaus wahrscheinlich abgenommen war, aber die Bilder ihres gestrigen Erlebens flackerten noch lebhaft in ihrem Gedächtnis. Chuck bedurfte keiner weiteren Anweisungen. “Natürlich fahre ich Sie zum Oberregierungsamt, denn da liegt das Penthaus wo der Herr Richter auf Sie wartet, und Sie können sich gar nicht vorstellen, wie ungeduldig er ist Sie wiederzusehen. Unter den ungelegendsten Umständen, wenn es sich zum Beispiel um einen schwierigen Urteilspruch handelt worüber er sich nicht zu entscheiden vermag, durchbricht die Frage, die Sehnsucht nach ihnen, den Fluss seines Denkens. Der Öffentlichkeit scheint er unglaublich mächtig. Aber wir, die mit ihm zusammen arbeiten müssen, wissen von seiner tatsächlichen Schwäche.” Diese erstaunlichen Ausführungen von Chuck, ließ Charlotte über sich ergehen, ohne etwas dazu zu sagen, denn sie wurde ihrer Beziehung zu Adams, ihres Vorhabens und ihrer selbst mehr und mehr unsicher. Indem er nun sein grüngestreiftes Polizeiauto mit zunehmend öfterem Erschallen der Sirene durch den dichten Abendverkehr fädelte, änderte er das Gesprächsthema, mit eben der Selbstverständlichkeit und Sicherheit mit der in eine neue Einbahnstraße einlenkte. “Weißt du,” sagte Chuck, sie duzend wie eine alte Bekannte, “des Polizisten Dasein ist kein leichtes,” und auf das Ausbleiben von Charlottens Fragen, warum oder wieso, ergänzte er selbst, “die Menschen haben Angst vor der Polizei, und besonders vor dem einzelnen Polizisten wie mir, und sie fürchten sich mit gutem Grund. Aber es macht mich traurig zu bedenken, dass Menschen sich vor mir fürchten. Man möchte doch von den Menschen geliebt sein. Du kannst dir nicht vorstellen, wie die Behandlung die ich dir gestern habe angedeihen lassen müssen mich betrübt hat. Die erste Hälfte der Nacht konnte ich überhaupt nicht schlafen, und die zweite Hälfte hab ich geträumt wie grob ich dich behandeln musste.” Schließlich gelang es Charlotte sich in den Spuren von Chucks Überlegungen einzurichten. “Ach,” sagte sie, sein Duzen bewusst erwidernd, “wegen was gestern geschah, brauchst du dich nicht zu grämen. Ich bin kein Kind mehr, und habe schon viel Ärgeres erlebt. Und was du mir gestern Unangenehmes getan haben möchtest, das machst du ja heute, indem du mir meinen Weg zum Penthaus erleichterst, wieder gut.” Inzwischen war der Verkehr so dicht geworden, dass es Chuck auch mittels dem wiederholten Gebrauch der Sirene nicht gelang, den Stau zu durchdringen. So saßen die beiden, der reumütige Polizist und die von ihrem Vorhaben eingeschüchterte Retterin nebeneinander im grüngestreiften Polizeiauto und warteten auf die Lockerung des Verkehrs. Da spürte Charlotte die Gelegenheit die Umgänglichkeit ihres Chauffeurs zu nutzen indem sie sich von ihm die Einzelheiten der amtlichen Beschränkungen denen der Richter Adams unterlag, erzählen ließ. “Sie erzählten soeben,” begann Charlotte, “vom Richter Adams, und erwähnten dessen tatsächliche Schwäche. So lauteten ihre Worte, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht.” Alles andere als sich vom Anschnitt dieses Themas peinlich betroffen zu fühlen, schien Chuck die Einlenkung in die neue Richtung willkommen zu heißen. “Die Öffentlichkeit hat ja überhaupt keine Vorstellung, was und wie es in der Regierung vor sich geht. Das Gerede ist stets vom Willen und von der Wohlfahrt des Volkes, der Wähler, die ihre Wünsche und Vorzüge an den Urnen zum Ausdruck bringen. Aber was sie wollen, das wissen sie doch selbst nicht, geschweige denn, dass sie wüssten was für sie das Beste ist. Der Richter ist doch nur eine Attrappe, eine Puppe, eine Schaufensterpuppe, ein Kasperle an verborgenen Strängen, die mit dem Vorbehalt gezogen werden, dem Volk die Gerechtigkeit und die Strenge vorzutäuschen.” Von diesen Worten wurde Charlotte an Katenus erinnert, besann sich aber sofort ihres Versprechens dessen Namen unter keinen Umständen zu erwähnen, besonders keinem Polizisten gegenüber. Chuck aber bedurfte keiner Anregung. Er sprach von sich aus weiter. “Ich habe mich oft gefragt, was Gerechtigkeit ist, und habe keine Antwort gefunden. Aber was Macht ist, davon verstehe ich etwas, und was alles mit Geld zu erkaufen ist, davon hab ich gehört. Abwesend Gerechtigkeit muss es Erklärungen, Sätze, Phrasen geben sie zu ersetzen. Diese Phrasen dienen die Menschen, die Wähler zu täuschen, und die Machthaber, oder genauer, die Kandidaten die darauf aus sind Machthaber zu werden, suchen sich Phrasen aus welche die Wähler am bündigsten, am schlüssigsten täuschen. Denn die Stimmen der verleiteten, oder sollte ich sagen, der verführten, der betrogenen Wähler sind in unserer Demokratie die Quellen der Macht.” “Ja,” sagte Charlotte, mit einem Anflug der Ungeduld, denn sie kam sich vor als hörte sie eine Rede von Katenus, wenn nicht gar von Jonathan Mengs, “aber sag’ mir,” und sie scheute sich den Namen Chuck, den sie aus dem Munde von Adams sowohl als auch von dem der Polizistin überhört hatte, zu nennen, “wer die Stränge zieht von denen die Urteile des Hampelmanns gerichtet werden.” “Ach, die Stränge,” sagte Chuck, erleichtert, dass Charlotte ihm seine Charakterisierung vom Richter Adams nicht verübelt, sondern angenommen, und mit dem Ausdruck Hampelmann bestätigt, wenn nicht gar verstärkt hatte, “die Stränge werden von den fünf Regierungsräten gezogen, das sind drei wohlhabende Geschäftsleute und zwei ihnen geneigte und entsprechend besoldete Rechtsanwälte, welche die Urteile des Richters bestimmen und kontrollieren.” “Aber diese Regierungsräte werden doch gewählt,” vermutete Charlotte. “Ja, sie werden gewählt, aber nicht von den völkischen Wählern, sondern von einander,” antwortete Chuck. “Die fünf Gerichtsräte führen eine Kandidatenliste, die sie stets auf dem Laufenden halten, so dass wenn einer von ihnen sich zur Ruhe setzt, erkrankt und arbeitsunfähig wird, oder gar stirbt, dass dann keine Lücke, kein Hiatus entsteht, sondern dass ihre Kommission, wie sie sich nennen, praktisch ununterbrochen weiter besteht und wirkt.” “Das will ich dir glauben,” sagte Charlotte, “aber es erklärt mir immer noch nicht wie es ihnen gelingt die einzelnen Urteile des Richters zu bestimmen und zu eichen.” “Das ist auch mit Vorbedacht unerkennbar, denn das Phantom der Gerechtigkeit wird ja durch die angebliche Unabhängigkeit und durch die lebenslange Anstellung des Richters flott und über Wasser gehalten. Für sein Ehrenamt aber bezieht er eine nur schmächtige Belohnung, wovon es ihm unmöglich ist sich selber und seine Familie zu ernähren. In Wirklichkeit wird sein tägliches Auskommen aus einem Schmiertopf bestritten, der mit den die systematischen Steuerbegünstigungen der beteiligten Geschäftsleute und Anwälte aufgeholt wird.” “Ich glaube dir, ich glaube dir alles,” sagte Charlotte, “aber wie ist es dir denn erlaubt, mir all diese Geheimnisse zu erzählen?” “Ja,” sagte Chuck, “das ist ein triftiger Einwand den du da machst, aber triftig nur scheinbar, weil diese Geheimnisse wie du sie nennst, den öffentlichen Vorbehalten, den von der geläufigen Propaganda geschürten und genährten Vorurteilen so schroff abweichend sind, dass sie den Durchschnittsbürgern, und nicht nur ihnen, dass sie allen vernünftigen Menschen unglaublich sind, und dass dem Einzelnen der sie beteuerte oder behauptete nicht geglaubt würde, nicht geglaubt werden könnte. Man würde den der diese Geheimnisse behauptete, je nach Zweckmäßigkeit entweder als verrückt oder als verlogen erklären, und würde ihn unter Umständen entweder im Gefängnis oder in der Irrenanstalt lebenslänglich verwahren. Und deshalb habe auch ich kein Bedenken es dir zu berichten, denn wenn du meine Geschichte, was ich dir erzählt habe, zitiertest, würde ich es leugnen und dich eine Lügnerin schelten, und mir, mir würde jeder glauben, und dir, dir aber, würde keiner glauben. Und um mich völlig von dir abzuschotten und mich vor dir zu schützen, würde ich ein den Tabloiden willkommenes Märchen erfinden, wie etwa du hättest mich bedroht, hättest mich geschlechtlich zu belästigen versucht, hättest mir Schmiergelder angeboten den glänzenden Gerechtigkeitstalar des Herrn Richter zu schwärzen, zu beschmutzen oder anderweitig zu besudeln, und dafür würdest du mit Gefängnis bestraft. Ich aber würde promoviert und belohnt.” Im Verlauf dieser spannenden Unterhaltung zwischen Charlotte und ihrem neuen Polizistenfreund hatte der Verkehr sich gelichtet, und es war Chuck gelungen seinen grüngestreiften Polizeiwagen in die unterirdische Garage des Regierungszentrums zu steuern, und sie im Phalanx der anderen ununterscheidbaren grüngestreiften Polizeiautos abzustellen. “Wir sind angekommen,” bestätigte Chuck die unverkennbare Tatsache. “Komm, dort ist der Fahrstuhl ins oberste Stockwerk. Ich werde dich begleiten.” “Ich danke dir für die angenehme Fahrt und für die bezaubernde Unterhaltung auf dem Wege. Aber dass du mich nach oben begleitest ist überflüssig. Ich werde keine Schwierigkeiten haben mich zurecht zu finden.” “Überflüssig mag es dir erscheinen; mir aber gereicht es zum Vorteil. Den durch den Anschein, dass ich dich dem Herrn Richter eingeliefert habe, bekomme ich zusätzliche Punkte.” Charlotte ließ ihn gewähren, folgte ihm in den Fahrstuhl. Im obersten Stockwerk, hieß Chuck, jetzt in der strengen Haltung des Polizisten, Charlotte auszusteigen und geleitete sie zu einer Tür ohne dass Charlotte Gelegenheit gehabt hätte das dort befestigte Schild zu lesen. Man hörte ein entferntes Klingeln. Die Tür aber blieb verschlossen. Da wiederholte Chuck seine Bemühungen; ein zweites, ein drittes, ein fünftes Mal drückte er auf den Knopf, aber jedes Klingeln verhallte, ohne dass von jenseits Schritte zu hören gewesen wären. Chuck wurde ungeduldig, und als er sich wandte um einen Bund Schlüssel vom Gürtel zu lösen hatte Charlotte Gelegenheit das Türschild zu lesen: Es bekundete mit nur einem einzigen Wort: Justiz. Nun meinte sie dass er sie zum falschen Ort gebracht, wahrscheinlich an der falschen Etage abgesetzt hatte. Aber Charlotte war ihrer selbst unsicher. Vielleicht war es überhaupt besser an die Justiz als an den Richter Adams ausgeliefert zu werden. Deshalb unterließ sie jeden Einwand. Schließlich, nach mehreren Versuchen hatte Chuck den passenden Schlüssel gefunden und als dieser ins Schloss eingefädelt war, da öffnete sich die Tür wie von selbst. “Hier ist sie,” hörte sie eine Stimme hinter ihr. Aber an wen, und von wem diese Mitteilung ergangen war, und ob es tatsächlich von Chuck gewesen war, dass sie den leichten Schubs bekommen hatte, oder von wem sonst, vielleicht sogar ein Irrtum ihrerseits, hatte sie nicht Gelegenheit sich zu besinnen, denn Chuck, so meinte sie, war zurück getreten, und das Einschappen des Schlosses das sie hörte, besagte dass er sich zurückgezogen, die Tür hinter sich geschlossen, und sie allein gelassen hatte. >> Viertes Kapitel - 3390 << Der Ort an dem Charlotte sich jetzt befand war unbestimmt. Ein Flur, ein Gang, ein Korridor war es nicht, dazu war er zu weit; aber eigentlich war es auch kein Zimmer, denn in beide der Seitenwände waren Türen eingelassen, deren Zahl Charlotte im Stegreif nicht zu bestimmen vermochte, geschweige denn dass sie die Namen der Personen die dort wohnten, oder die Bezeichnungen der Ämter die dort verwaltet wurden, hätte lesen können. Es ist kaum erstaunlich, dass Charlotte sich scheute an auch nur eine einzige der geschlossenen Türen zu klopfen, geschweige denn eine Klinke zu prüfen um zu ermitteln ob sie verschlossen sei. Am entlegenen Ende aber, schien der Platz nicht nur sich zu erweitern, sondern licht zu werden. Dort war er mit vielen breiten und hohen Fenstern versehen, vor denen abwechselnd Schreibtisch mit Bildschirm und Tastatur und ein anheimelndes Gefüge kleiner Sessel um einen niedrigen Teetisch gruppiert standen. Charlotte setzte sich in einen der Sessel an einen Platz der ihr einen weiten Ausblick gewährte auf die funkelnden bunten Lichter der Stadt die sich tief unter ihr erstreckte. Sie fühlte sich ermüdet, verständicher Weise von den Anstrengungen und Mühen des Tages, vielleicht auch von der langen Weile des zunehmenden Wartens, und schließlich von dem ewigen unablässigen Funkeln weit unten zu ihren Füßen. Merkwürdig, dass es ihr überhaupt nicht einfiel an den Richter zu denken. Sie schloss die Augen, und mochte eingeschlafen sein. Für wie lange hätte sie nicht zu sagen vermocht; wurde dann aber plötzlich gewahr jetzt aufmerksam zu sein. Ein Rascheln war es das sie geweckt hatte. Es stammte von dem Besen mit dem eine Reinemachefrau den Estrich fegte. Die gab kein Zeichen Charlotte bemerkt zu haben. Als sie mit ihren Sanierungstätigkeiten zufrieden war, setzte sich die Putzfrau in den Sessel gegenüber, wo Charlotte erst aus dem Fenster geblickt, dann nachgedacht, geschlafen und geträumt hatte, und schließlich erwacht war. Jetzt hörte sie die Stimme der Frau. “Was willst du denn hier?” Und ohne zu überlegen hatte Charlotte geantwortet, “Den Richter Adams. Ich suche den Richter Adams. Der hat mir befohlen mich heute Abend um acht Uhr hier einzustellen.” “Das ist dein Pech,” sagte die Frau mitleidlos. Ihre Stimme entbehrte jeglichen Klang des Gefühls. “Heute abend wird der Richter Adams bestraft. Da musst du morgen wiederkommen.” Es war aber Charlotte unmöglich, der teilnahmslosen Stimme auch nur das geringste Vertrauen zu schenken. Und was vermochte diese Frau deren niedriges Amt es war, die Fußböden zu säubern, überhaupt von den Vorgängen in der großen Welt zu auszusagen? “Die Sache ist nicht so einfach,” protestierte Charlotte, “denn der Richter hat die Macht meinen Bekannten...” und hier unterbrach Charlotte ihre Rede, denn sie war im Begriff gewesen zu sagen, "meinen Bekannten Maximilian Katenus", und dann wäre es ja sie, Charlotte, gewesen, deren Verrat an Katenus ihn ins Unglück gestürzt hätte. Gott sei Dank aber, war es ihr im letzten Moment gelungen, das Geheimnis zu bewahren. Doch umsonst. Denn die Reinemachefrau war völlig im Bilde. Sie wusste alles. “Du meintest Maximilian Katenus, und du hast im letzten Augenblick dessen Namen verschluckt um seine Anwesenheit im Döhringhaus in der Linnaeusstraße geheim zu halten. Deine Bemühungen aber sind sämtlich umsonst, denn man weiß alles, und der Galgen an dem er übermorgen erhängt wird, soll morgen früh aufgerichtet werden.” “Ich muss aber unbedingt zum Richter Adams, und sofort,” sagte Charlotte, jetzt flehend. “Ich will ja alles tun um ihn zu retten.” “Um wen zu retten,” erwiderte die Reinemachefrau, “den Katenus oder den Richter Adams?” “Wovon oder wovor wäre denn der Richter Adams zu retten,” forderte Charlotte, entschlossen sich von dieser Putzfrau nicht weiter ins Bockshorn jagen zu lassen. “Vor Bestrafung seiner Amtsversäumnis, vor der Entsetzung vom Amt.” “Ja wieso denn, aus welchen Gründen will man ihn denn entlassen,” forderte Charlotte, und befand sich jetzt plötzlich unerwartet als des Richters Anwältin. “Das weißt du besser als ich,” sagte die Putzfrau. “Du meinst, weil er als Richter zu streng und nicht nachsichtig genug war,” entgegnete Charlotte. “Du willst mich für dumm verkaufen, du kleine Gans. Denn du bist es gewesen, in die er sich vergafft hat, der er versprochen hat, als quid pro quo, dem Katenus die Bestrafung aufzuschieben, wenn nicht gar zu erlassen.” “Drum ist es umso wichtiger dass ich ihn heute Abend noch spreche, denn, ehrlich gesagt, und entschuldige die Beleidigung, aber zu ihm, zum Richter Adams, habe ich ein weit größeres Vertrauen, als zu dir.” “Das ist dein doppeltes Pech,” sagte die Reinemachefrau, “aber ich hab noch viel zu viel reine zu machen um mit dir zu plaudern. Mach was du willst. Mir bist du nicht im Wege. Bleib hier sitzen bis dir die Fußnägel in den Boden wachsen. Das wäre nicht das erste Mal. Das ist auch schon einmal vorgekommen. Auf Wiedersehen.” Der Abgang der Reinemachefrau gab Charlotte die Gelegenheit jedenfalls erst einmal den Versuch zu machen sich zu sammeln. Über eines war sie sich unerschütterlich im Klaren, dass es Unfug, dass es Wahnsinn war der Putzfrau zu glauben, vielleicht schon Wahnsinn sie überhaupt angehört zu haben. Nun begann Charlotte auch an dem was der Polizist Chuck ihr über Adams erzählt hatte zu zweifeln. Eigentlich, so entschied sie jetzt, könnte sie sich auf keinen als den Richter Adams selber verlassen. Sie beschloss, dass Chuck sie in der falschen Etage abgesetzt hatte, ob irrtümlich oder absichtlich, wusste sie nicht, machte aber letzten Endes auch keinen Unterschied. Zu entscheiden hatte sie nur, wie lange sie hier sitzen bleiben sollte, und auf irgend ein Geschehen warten, und wohin sie sich wenden sollte wenn nichts geschah. Charlotte aber brauchte nicht lange zu warten. Vielleicht war sie eingeschlafen. Möglicherweise träumte sie. Jetzt aber war sie, jenseits jeglichen Zweifels, wach. Denn vor ihr, den Blick auf die in der Tiefe glitzernde Stadt unterbrechend, mit düsterem Blick, stand Lemuel Adams, ohne den Kasten Pralinen die er selbst zu verzehren pflegte, und ohne einen Rosenstrauß. “Wir haben keine Wahl,” begann er, “Wir müssen unsre Pläne ändern,” und als Charlotte aus Verlegenheit fortfuhr zu schweigen, fügte Adams erklärend hinzu: “Anneliese hat sich’s anders überlegt, und hat mir befohlen in ihr Haus zurückzukehren. Nicht unverständlicher Weise hat sie mir streng verboten dich mitzubringen, und ebenso hat sie es dir verboten, dich dort aus eigenem Anlass einzustellen.” “Und aus welcher Quelle schöpft Anneliese ihre Macht über dich?” So fragte jetzt Charlotte in dem Versuch die gesellschaftliche und psychische Lage in der Adams sich befand zu ergründen. “Ach,” sagte er, “Anneliese und die fünf Regierungsräte stecken nun mal unter einer Decke. Die tun alles was Anneliese ihnen befiehlt.” “Und was hast du mit den Regierungsräten zu tun?” fragte erwidernd Charlotte. “Alles,” erklärte Adams, “Leider ist es so. Die Regierungsräte sind die Schattenregierung dieses Staats. Nein, sie sind unsere wirkliche, unsere einzige Regierung. Die Abgeordneten, die Beamten, und auch die Richter sind lediglich Attrappen, sind Kulissen mit denen vorgetäuscht wird, dass der Wille des Volks in gerechter und ordentlicher Weise zur Geltung kommt. Aber alles nur zum Schein. Und ich, ich bin von ihnen unmittelbar und bedingungslos abhängig.” “Also doch,” sagte Charlotte, dann schwieg sie, denn sie erinnerte die Drohungen Chucks was ihr, Charlotte, passieren möchte, wenn sie die Wahrheiten die Chuck ihr anvertraut hatte, der Öffentlichkeit preisgab. “Ich vermute,” fuhr Charlotte fort, “Chuck hat mich in die falsche Etage gewiesen.” “Ja, warum er das getan hat, so offensichtlich gegen besseren Wissen, das muss wohl ein himmlisches Geheimnis bleiben. Chuck ist ein unzuverlässiger Kerl. Hätte nicht Mathilde, die Putzfrau mir gesagt, dass du hier auf mich wartetest, hätten wir uns verpasst. Als ich hörte, du wärst hier, bin ich sofort gekommen. Doch ist es in seiner Art ein trauriger Besuch, denn es ist Zeit uns von einander zu verabschieden.” “Aber Katenus,” flehte Charlotte, “was soll denn aus Katenus werden?” “Gut, dass du mich an ihn erinnerst. Habe ich recht, dass du zur Zeit unbeschäftigt bist? Dein Pensum in der Aletheia ist doch abgelaufen. So solltest du bereit sein eine neue Stelle anzutreten, und die will ich dir besorgen.” “Was hast du im Sinn?” fragte Charlotte. “Die Regierungkammer, die ich dir beschrieben habe, bedarf eine zuverlässige Prokuristin, und ist bis jetzt noch nicht im Stande gewesen, eine für diesen wichtigen Posten geeignete Dame zu ermitteln. Deine Universität, die Aletheia, steht bei der Regierungskammer in hohen Ehren, denn beide Anwälte und einer der Geschäftsleute in der Regierungskammer gehören zum Aletheia Vorstand, und sämtliche Regierungskammermitglieder sind mit der Aletheia vertraut weil sie dort als Präzeptoren wirken. Wahrscheinlich bist du schon einigen von ihnen, wenn nicht gar allen, bekannt. Mit deinem erstklassigen Zeugnis von der Aletheia, mit deiner Erfahrung, mit deiner Klugheit, und mit deinem feinsinnigen Verständnis, bist du hervorragend geeignet den Ansprüchen dieser Stelle gerecht zu werden. Für diese Anstellung bin ich zuständig. Ich werde dafür sorgen, dass du diese Position bekommst. Du kannst dich auf mich verlassen. Und jetzt bestelle ich Chuck, dass er dich in die Linnaeusstraße fährt. Morgen um zehn Uhr wird er dich dort abholen, damit du hier um elf Uhr mit deiner neuen Betätigung beginnst. Dann brauchst du dir über Katenus keine Sorgen mehr zu machen, denn sein Schicksal wird hinfort in deinen Händen liegen. Und mich, dessen bin ich gleichfalls sicher, wirst du ebenso wie Katenus beschützen, denn du und ich, wir lieben einander so inniglich wie es zwei Menschen überhaupt möglich ist sich gegenseitig zu lieben.” Mit diesen Worten umschlang der schieläugige Richter Adams seine geliebte Aletheiaabsolventin mit beiden Armen, drückte sie und ihre beiden Brüste fest an sich, und saugte sich mit seinen Lippen fest an ihren Mund. Dann ergriff er sein Telephon und bestellte Chuck sie noch am heutigen Abend in die Linnaeusstraße zurück zu fahren. >> Fünftes Kapitel - 3585 << Es war sehr spät als der grüngestreifte Polizeiwagen vorm Döhringhause hielt, und Charlotte schließlich den Fuß auf den gepflasterten Pfad vom Bürgersteig zur Veranda setzte. Weil er sie an diesem Abend nicht mehr erwartete, hatte Joachim das Außenlicht abgeschaltet. Auch in der Eingangshalle herrschte das Dunkel. Es machte den Schlüssel mit seinem eckigen Griff so wie auch das Loch in das er gehörte unsichtbar. Dennoch gelang Charlotte ihn einzufädeln, und als sie den Schlüssel gedreht hatte, schob sie die aufgeschlossene Tür sehr langsam zurück um nach Möglichkeit das verratende Quietschen zu vermeiden. Nirgends war Licht. Die Eingangshalle war dunkel wie auch die Treppe nach oben. Doch war Charlotte wohl vertraut mit dem Weg, auf dem sie sich so oft des Nachts, besorgt weder Joachim noch Jonathan zu stören, in ihr Zimmer geschlichen hatte. So auch jetzt. Nach dem sie die Schlafzimmertür lautlos hinter sich geschlossen hatte, ging sie zum Doppelbett das sie mit Joachim teilte, beugte sich über den schafenden Geliebten, und flüsterte ihm ins Ohr. “Joachim, ich bin’s. Ich bin deine Charlotte. Ich bin zurück.” Dann entkleidete sie sich, und legte sich neben ihren Geliebten ins Bett. Mit ihrer linken, ergriff sie mit leichtem Druck Joachims rechte Hand, und meinte die Erwiederung ihres Grußes mit ähnlichem leichten Druck zu spüren. Bald war sie eingeschlafen. Als sie vom Morgengrauen und vielleicht auch von Ungeduld geweckt worden war, vermochte Charlotte kaum abzuwarten Joachim von ihrem Besuch in der Regierungskanzlei, den sie als überaus erfolgreich betrachtete, Bericht zu erstatten. Er war noch im Schlaf verfangen als Charlotte ihm zu erzählen begann, und war verwirrt, weil er ihre frühe Rückkehr am Abend zuvor nicht erwartet hatte. “Du bist schon hier?” fragte er ungläubig, “Ich meinte du hättest die Nacht bei den Beamten verbracht.” “Du bist nicht froh mich wieder hier zu haben?” fragte sie, “Möchtest vielleicht dass ich gleich wieder fort gehe.” “Ach rede nicht solche Dummheiten. Ich fühle dich so gern neben mir. Ich bin so froh, dass du wieder da bist.” “Ja,” sagte Charlotte, “aber der Ausflug war wirklich der Mühe wert. Ich kann mir kein besseres Ergebnis vorstellen.” Als aber Joachim dann nach Einzelheiten fragte, wehrte Charlotte ihn ab. “Ich weiß selbst nicht genau was werden wird. Der Richter Adams der selbst zu Zeit in gesellschaftliche Verwirrungen die nichts mit mir zu tun haben verstrickt scheint, hat mir eine Stelle als Prokuristin bei der Regierungskommission versprochen, und wie ich ihn kenne, kann ich mich auf ihn verlassen.” “Aber was heißt Prokuristin?” fragte Joachim. “Ich hab das Wort verschiedentlich gehört, ohne zu wissen was ich mir dabei denken soll.” “Das Wort besagt dass der oder diejenige welche die Stelle der Prokura bekleidet, berechtigt ist im Namen des Betriebs, also in diesem Falle, im Namen der Regierungskommission, zu handeln, und das, sollte ich meinen, besagt ein Maß von Macht das genügen sollte, Katenus und Elly und uns alle zu schützen. Aber lass uns jetzt nicht weiter darüber reden, denn, weißt du, ich bin abergläubisch, und du kennst doch das Sprichwort, ‘Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.’” Joachim fragte nicht weiter, aber Charlottens Zuversicht steckte ihn an. Er war glücklich, dass Charlotte deren Einfluss in die Döhringhausfamilie besonders von Jonathan, so viele Monate - , nein jahrelang, als störend und anstößig wenn nicht gar widerwärtig empfunden worden war, sich schließlich bewährt hatte, und dies in einem wahrhaftig unvorhersehbarem Maße. Die Feststellung von Katenus, Charlotte sei eine Heilige, hatte Joachim nicht überhört. Jetzt konnte er sie sich nicht aus dem Gemüt schlagen. An diesem Morgen war Charlotte wieder die erste in der Küche und bereitete das Frühstück für die ganze Familie, wie vormals. Als auch Mengs, Katenus und Elly erschienen waren, und sie gemeinsam am Esszimmertisch saßen, sagte Charlotte mit gedämpfter Feierlichkeit, "Ich möchte diese Gelegenheit wahrnehmen, Euch allen zu erklären, dass mir die Stelle einer Prokuristin bei der Reichsregierungsbehörde angeboten ist, dass ich beabsichtige diese Stellung anzunehmen, und dass ich voraussichtlich an jedem Werktage, das heißt jede Woche von Montag bis Freitag einbeschlossen, zwischen etwa elf Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags in den Regierungskanzleien in der Stadt tätig sein werde. Voraussichtlich wird mir der zweimal tägliche und nicht unbeschwerliche Weg mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, mit dem elektrischen Autobus zum Universitätsplatz und von dort mit der Untergrundbahn in die Innenstadt am Morgen, und nachmittags wieder zurück, erspart bleiben, denn vorläufig hat man einen Polizisten, namens Chuck, beauftragt mich hier vom Döhringhaus in einem grüngestreiften Polizeiwagen um zehn Uhr abzuholen, und mich dann um etwa sechs Uhr hier wieder abzuliefern. Chuck hat die Gewohnheit mit einem Stoß seiner Sirene seine Ankunft anzumelden, und gleichfalls mit einem Stoß seiner Sirene seine Abfahrt zu feiern. Ich erzähle all dies, damit ihr wisst, dass ihr, wenn der grüngestreifte Polizeiwagen erscheint und wenn die Sirene aufkreischt, Euch nicht zu fürchten habt, weil in diesem Falle jedenfalls, uns eine wohlgesinnte Polizei begegnet." "Und was sagt unser treuer Rechtsberater Moritz Schwiegel zu diesen Neuigkeiten?" fragte Katenus. "Das weiß ich nicht," antwortete Charlotte, "Bis jetzt hatte ich keine Gelegenheit sie ihm mitzuteilen. Darüber hinaus," fügte Charlotte hinzu, "will ich es gesagt haben, dass ich voraussehe, dass meine Stellung es mir ermöglichen wird, die Freiheit die uns allen gebührt aufs Nachhaltigste zu schützen." "Da sind wir dir zu viel Dank verpflichtet," meinte Jonathan, und Katenus sagte ergänzend, "Das gilt für uns allesamt." “Und doch,” fügte Charlotte hinzu, Joachim und ich stimmen überein, ‘Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.’” Diese Aussagen wurden durch ein langes Schweigen besiegelt, von dem es unmöglich war zu bestimmen ob es sie in Frage stellte oder ob es deren Gültigkeit bestätigte, ein Schweigen endlich unterbrochen nur von dem Gekreisch der soeben angekündigten und dennoch unerwarteten Sirene, von dem es unverkennbar war, dass es, was immer sonst es bedeuten möchte, das Gleichmaß und die Ruhe in diesem Hause zu zerrütten drohte. Charlotte war aufgesprungen, hatte Joachims Hand ergriffen und sie für einen Augenblick zum Abschied fest umklammert, denn in dieser Öffentlichkeit ihre Liebe mit eine Kuss zu bekunden, scheute sie sich. Nur drei kristallne Worte gelang es ihr über die Lippen zu bringen. "Ich muss fort," hatte sie gesagt, aber jegliches Echo war ausgeblieben. Draußen im grüngestreiften Polizeiauto erwartete sie Chuck. Obgleich ihn des Richter Adams amtliche Sorge um Charlottens Bequemlichkeit als übertrieben anmutete, war er es dennoch zufrieden ihr nachzukommen, denn die ihm Anvertrauten zu chauffieren war seinem Wesen um manches mehr zusagend, als sie festzunehmen. Auch machte es ihm Spaß ein Auto mit dem kreisenden blauen Licht, und der seinen Fingern so gefügigen Sirene, durch die von anspruchsloserem Volk gestauten Straßen zu fädeln. Vorgestern noch war Charlotte seine Gefangene gewesen. Heute war sie seine Vorgesetzte. Ich will nicht behaupten, dass ihn diesen jähen Schwenkungen des Geschicks bedrohlich anmuteten, aber dass sie Spuren in seinem Gemüt hinterließen, war nicht zu leugnen. Das sich fügen in unvoraussehbare Lebenswechsel war ihm fast zur Gewohnheit geworden. Oftmals, wenn die Sonne ihn aus nächtlichem Schlaf geweckt hatte, sang er vor sich hin, “Morgenrot, Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod.” Selbstverständlicher noch als der schnelle Aufstieg schien ihm der schnelle Abstieg; Abfall war das vielsinnige Wort das er vermied, obgleich es sich ihm aufdrängte. Seine Aufgabe war ihm unmissverständlich vom Richter Adams anbefohlen worden. Er hatte voraussichtlich jeden Werktag, die junge Frau vom Döhringhaus in der Universitätsstadt abzuholen um sie in die Innenstadt zur Reichsregierungskanzlei zu fahren, und sie vom Parkhaus ins Prokurazimmer zu begleiten, und dort nicht später als elf Uhr morgens mit ihr aufzutreten. Einzig unbestimmt war ihm, wie er sie anreden sollte. Die Schwellenfrage, des Duzens, Sie oder Du, verschwand von selbst sobald sie sich stellte. Es war Du, nichts als und immer nur Du. Und wieder einmal entgleiste Chucks Denken, wie von einer falsch gestellten Weiche abgelenkt, und er sang zu sich selber, ganz leise, so dass es ihr unmöglich sein sollte, ihn zu verstehen, Du, Du liegst mir im Herzen, du, du liegst mir im Sinn. Charlottes geübtes, empfindliches Ohr aber hörte es doch. Da hupte hinter ihnen unbotmäßig ein ungestüm zur Arbeit eilend Verspäteter, und Chuck spähte vergebens nach einer Ausweichsstelle, um dem störrischen Nachfolger einen Strafzettel wegen Rücksichtslosem Autofahren zu verpassen. Chuck nahm es aber zugleich als Mahnung sich auf sein eigenes Fahren zu besinnen. Er schaltete das Blaulicht an, und presste den Sirenenknopf am Steuerrad. Es muss unbestimmt bleiben, ob zu schreiben wäre, jetzt, bald, nach geraumer Zeit, oder schließlich, denn es gibt Umstände in den großen Verwandlungen des Lebens wo das Ausmaß des Erlebens der dahinfliehenden Zeit einen eigenen, besonderen Sinn zuschneidert. Dies war ein solcher Fall. Das Viele das Chuck durchs Gemüt zog und die Erlebniswelt in welche Charlotte sich während der Fahrt einlebte waren in beiderseitigem Schweigen verhüllt geblieben. Chuck hatte den Wagen im Parkhaus neben den anderen grüngestreiften endgültig zum Stehen gebracht. Er sagte nichts weiter, als "Hier sind wir." Es war das dritte Mal, dass Charlotte sich von Chuck mit dem Schnellfahrzug in die beamtlichen Höhen schleudern ließ, kaum Zeit genug zu erwägen ob er sie auch diesmal versehens oder absichtlich an den falschen Ort beförderte. Schon hatte der Fahrstuhl angehalten, und die blanken Schiebetüren hatten sich aus dem Weg gezogen. An der entlegenen Seite der korridorartigen Vorhalle war, wie in den anderen Etagen, ein Gefüge von Türen deren Aufschriften wahrzunehmen, Charlotte keine Gelegenheit hatte. Nur von der einen in welche Chuck sie einließ, gelang es ihr das Schild zu entziffern. Es war Oberprokura beschriftet. Dort hatte Chuck Charlotte ohne Abschiedsgruß entlassen. Das Zimmer war, allenfalls von Menschen, leer, aber mit Aktenschränken, Schreibtischen und elektronischen Rechneranlagen reichlich ausgestattet. An der Rückseite der Eingangstür befestigt fand Charlotte eine gerahmte Tafel mit der Überschrift, Warnung, und darunter die Legenden: “ense petit placidam sub libertate quietem.” “Das Lesen und Vervielfältigen von unter Vertrauenschutz stehenden Akten ist Unbefugten bei hohen Geld- und Gefängnisstrafen verboten.“ Darunter war ein Katalog der geheimen Vertrauenssachen angeschlagen nebst den Ziffern der Aktenschränke, Fächern und Karteien wo sie abgelegt waren. Charlotte hatte die Anweisungen auf der gerahmten Tafel mehrere Mal gelesen, ohne dass sie daraus klug geworden wäre. Sie fragte sich in welche der verschiedenen Schränke in diesem Zimmer unter Vertrauensschutz stehende Akten abgelegt sein möchten, ob diese als "Geheim" oder "Vertraulich" markiert wären, und wenn nicht, wie sie denn als solche zu erkennen wären. Sie überlegte kurz ob es ihr erlaubt wäre die Schränke wahllos oder gar systematisch einen nach dem anderen auf ihren Inhalt zu durchsuchen, oder ob schon dies ein Übertreten der Verordnungen sein möchte, ein Zugriff der mit der Drohung hoher Geld- und Gefängnisstrafen untersagt war. Auch schien es verwunderlich, dass ungeachtet der wesentlichen Betätigungen die vorgeblich in diesem Raume stattfanden, kein Vorgesetzter, kein Beamter, nicht einmal eine Sekretärin zugegen war. Und sie, Charlotte, wenn man dem Richter Adams glauben sollte, war als Bevollmächtigte, als Prokuristin, sogar als Oberprokuristin dieses Betriebs, was immer er sein mochte, bestellt. Sollte diese erhabene Stellung nicht genügen sie zu bevollmächtigen, wenn nicht gar verpflichten, diese Aktenschränke zu durchsuchen, um mit deren Inhalten restlos vertraut zu werden? Charlotte war sich dieser Gedankenfolge unbeirrt sicher, doch mit dem Vorbehalt den sie unter vielem anderen in der Aletheia gelernt hatte, dass die Behörden sich an keine Vorschriften, wie klar und eindeutig auch immer, auch nicht an die eigenen, und vornehmlich nicht an diese, gebunden betrachten. Es war nicht vorauszusagen, wen und wofür sie bestrafen würden. Hinzu kam die Müdigkeit. Jetzt spürte Charlotte wie wenig sie in den jüngst vergangenen Tagen geschlafen hatte. Sie sehnte sich nach Ruhe und setzte sich in einen Sessel vorm Fenster um sich zu erholen. Mit ihren Blicken suchte sie in ferner Tiefe die Stadt die fast völlig im Nebel versunken war. Nach nur geringer Zeit war Charlotte eingeschlafen. Sie wachte auf und hörte das lispelnde Streichen eines Besens. Eine Stimme hatte sie geweckt. Es war die Reinemachefrau die sie gebeten hatte, "Würdest du so gut sein, deine Beine etwas zurückzuziehen, damit ich vor dem Fenster fegen kann." Jetzt hörte Charlotte dasselbe Gesuch ein zweites Mal. War es ein Echo in ihrem Gemüt, oder hatte die Frau ihre Bitte wiederholt? Noch im Halbschlaf zog Charlotte ihre Füße der Frau aus dem Wege. Schließlich erwachte sie völlig und sagte, "Entschuldigen Sie bitte, ich habe ihren Namen vergessen." "Was du vergessen hast," sagte die Reinemachefrau, "ist nicht mein Name, sondern die Tatsache, dass ich dir meinen Namen noch garnicht mitgeteilt hatte. Ich heiße Mathilde. Wenn wir uns nun einmal bei Namen nennen, so muss es beiderseitig geschehen. Und du, wie heißt denn du?” “Ich bin Charlotte, Charlotte Graupe,” wiederholte Charlotte vervollständigend. “Bald aber werde ich Charlotte Magus heißen, denn ich bin verliebt, fast bin ich verlobt.” Daraufhin sagte Mathilde, die Reinemachefrau, “Das kann ich mir vorstellen. Joachim Magus ist ein schöner Name.” “Aber woher weißt du seinen Namen? Es war ein Fehler von mir ihn überhaupt zu erwähnen. Bitte unterlasse es was ich dir erzählt habe dem Richter Adams gegenüber zu wiederholen. Denn es würde ihm missfallen, dass es nicht er ist, in den ich verliebt bin. Und wenn er zornig würde...” An dieser Stelle unterbrach Charlotte ihre Rede, denn plötzlich erinnerte sie ihr Versprechen an Elly und Katenus deren Namen, und nicht einmal die Anwesenheit von fremden Besuchern im Döhringhaus zu erwähnen. “Ach, Charlotte,” so wurde die Stille jetzt von Mathilde durchbrochen, “Du schweigst so plötzlich, weil dich die Angst überwältigt mit deinem Plaudern deine Freunde, oder vielmehr die Freunde deines Geliebten Joachim Magus zu verraten. Die heißen Maximilian Katenus und Elly Solmsen, und wer sie sind und wo sie sich jetzt aufhalten ist den Behörden wohl bekannt. Denn die Behörden wissen alles.” “Du sagst,” wiederholte Charlotte, "'Die Behörden wissen alles.' Das finde ich unglaublich. Das finde ich unmöglich. Wie könnten denn die Behörden alles wissen?” “Ach,” sagte Mathilde, “im siebzehnten Jahrhundert da glaubten die Menschen es gäbe einen Gott der alles wüsste, der alles vermöchte, und darüber hinaus beschlossen hätte, alles in dieser von ihm geschaffenen Welt zum besten zu lenken.” “Und das alles redest du so vor dich hin, als ob du es glaubtest, als ob es wahr wäre,” sagte Charlotte. “Auf was ich glaube, kommt es nicht an,” erwiderte Mathilde. “Worauf es ankommt, ist das Seiende, das Bestehende, das Wirkliche. Die Gewalt welche einst den vielen Göttern, oder dem einzigen Gott zugeschrieben wurde, die haben heutzutage die Behörden übernommen, diese Macht wird heutzutage von den Behörden ausgeübt. Denn die Götter hat man abgeschaft, und wo keine Götter sind, walten Gespenster. Die Gesellschaft, aber, der Staat, ist heutzutage das Paradies, der Himmel, und manchmal scheint es auch die Hölle, wo wir Menschen leben dürfen oder müssen, wo wir belohnt oder bestraft werden. Es sind die neuzeitlichen Kommunikationsmittel, die Radiotelephone, die elektronischen Rechner, die Fernsehkameras, das Internet, die es den Behörden ermöglichen allwissend zu sein.” “Mein Gott,” sagte Charlotte, “woher du das alles weißt. Du redest ja, Mathilde, als wärst du eine Gelehrte.” “Und wie begründest du deine Überzeugung, dass ich keine Gelehrte bin?” forderte Mathilde. “Ja, aber bist du nicht eine Reinemachefrau?” erwiderte Charlotte. “Genau,” sagte Mathilde, “dass bin ich. Aber welche Voreingenommenheiten versperren dir die Einsicht, dass eine gelehrte Reinemachefrau einen Widerspruch besagen sollte, wo es doch einst eines göttlichen Reinemachers bedurfte um die Äugiasställe zu desinfizieren?” Charlotte war sprachlos. Schließlich fragte sie, “Gibt es vielleicht auch hier etwas zu desinfizieren?” “Ach, du unschuldiges Kind, hast dein Abitur von der Aletheia bekommen, und weißt dennoch nicht, dass es die ganze Welt ist, welche der Desinfizierung bedarf.” “Aber sind dies nicht, wo wir uns befinden, die Kanzleien der Reichsoberregierungsbehörde?” fragte Charlotte. “Genau, genau,” sagte Mathilde. “Mein liebes unschuldiges Kind, je höher du steigst, umso unausweichlicher ist die notwendige Säuberung.” “Bis in den Himmel!” erklärte Charlotte, und war es zufrieden Mathilde endlich in der Spitzfindigkeitskunst übertroffen zu haben. Mathilde aber war nicht so leicht zu überwinden. “Bekanntlich,” antwortete sie, “hat ja Michael, als des Herrn Sauberkeitsanwalt, den schmutzigen unliebsamen Widersacher Satan auf die Erde verabschiedet, wo es jetzt unsere, deine und meine Aufgabe ist, uns mit ihm auseinanderzusetzen. Ich, wie du siehst, hab schon damit angefangen. Ich bin Reinemachefrau geworden. Jetzt bist du an der Reihe.” “Also bitte erklär mir,” begann Charlotte, “was ich zu tun habe, was man hier von mir erwartet. Der Richter Adams hat mich zur Oberprokuristin bestellt. Ich sollte meinen das wäre ein verantwortungsvolles Amt, und man erwartete von mir die vielen verschiedenen Aktenschränke in diesem Zimmer zu inspizieren und mich mit ihren Inhalten vertraut zu machen.” “Das stimmt,” sagte Mathilde, “und es stimmt auch wieder nicht. Denn es ist Pflicht und Vorrecht der Reichsregierungskommission jederzeit die notwendigen Gesetze zu erlassen, und die überflüssigen Gesetze sofort zu tilgen. Die notwendigen Gesetze aber werden überflüssig so geschwinde, dass einem schwindlig wird indem die Gesetze sich von heute auf morgen verändern und man nie wissen kann was am jetzigen Zeitpunkt von einem verlangt wird.” “Und was hätte das mit mir zu tun?” fragte Charlotte. “Das hat alles mit dir zu tun,” antwortete die Reinemachefrau, “denn obgleich du soeben angekommen bist, ist dir nur eine kurze Zeit gegönnt, denn das Leben ist kurz und die Gelegenheit ist flüchtig. Ich bin im Verlauf meiner Amtszeit schon vielen Oberprokuristinnen begegnet. Derer Bleiben hier ist kurz, wie das der Eintagsfliegen.” “Was du mir da erzählst,” sagte Charlotte, “hat mit mir nichts zu tun. Denn eine Eintagsfliege bin ich nicht. Meine Aufgabe verpflichtet mich hier auf unabsehbare Zeit anwesend zu bleiben.” “Genau, so wie die Eintagsfliegen,” sagte Mathilde. “Deren ewiges Leben geht daraus hervor, dass täglich sterbend, sie sich täglich erneuern. Vielleicht hast du es in dir, täglich als ein neues Mädchen zu erscheinen.” “Ich will es versuchen”, sagte Charlotte ohne bedacht zu haben, was sie meinte. Nach einer langen Pause fuhr Charlotte fort: "Was du mir da erzählt hast, sind lediglich belanglose Redereien. Das Bündige, worauf es ankommt, sind diese vielen Aktenschränke für deren Inhalte mir die Verantwortung übergeben ist. Wenn ich es unterlasse mit ihrem Inhalt vertraut zu werden, mache ich mich schuldig." "Da hast du recht," sagte Mathilde, "Wisse aber dass wenn du mit ihrem Inhalt vertraut geworden bist, du dich gleichfalls schuldig gemacht hast.” “Dann wäre es ja unmöglich der Schuld zu entgehen,” protestierte Charlotte entrüstet. “Da hast du recht." "Es sollte mir also egal sein," sagte Charlotte. Ihre Neugier hatte sie überwältigt, und sie fing an die metallnen Schubfächer aufzuziehen, eins nach dem anderen, denn das erste war leer, und gleichfalls das zweite. Schließlich, nachdem sie viele Schubfächer in verschiedenen Aktenschränken aufgezogen und entdeckt hatte dass alle leer waren, sagte Charlotte zu Mathilde, "Scheinbar ist es die Absicht der Reichsregierungskommission die Oberprokuristin an der Nase herumzuführen.” “So kann man es auch sehen,” sagte Mathilde. “Siehst du es denn anders?” fragte Charlotte. “Ja, das auch. Da gibt es dann verschiedene Gesichtspunkte, eigentlich sehr viele. Und wenn man das Erleben von einem nach dem anderen dieser Gesichtspunkte betrachtet, dann entwickelt sich nach und nach ein anderes, und ja, eigentlich ein großartiges Bild.” “Das musst du mir zeigen.” “An der Schwelle liegt die Schuld, welche sich daraus ergibt, dass du in Betreff auf das Zurkenntnisnehmen der Akten unfehlbar im Unrecht bist.” “Wie kann ich aber im Unrecht sein? Meinem Verständnis gemäß ergäbe sich das Unrecht aus der Zurkenntnisnahme mir untersagter vertraulicher Akten. Wie ist das möglich, wo es überhaupt keine Akten gibt,” erklärte Charlotte. “Du übersiehst dabei mens rea.” war Mathildens Antwort, “Schon der Gedanke verbotene vertrauliche Akten zu lesen, ist beschuldigend.” “Aber wie vermögen Akten vertraulich sein, wenn sie gar nicht existieren?” “Du machtest den Versuch in der Annahme, dass die Akten existierten, und der ledige Versuch bedingt die Schuld.” Mathilde machte eine Pause. Dann, als Charlotte nichts weiter sagte, fuhr Mathilde fort. “Im Unrecht zu sein vor der Behörde hat dann aber auch seine günstige, vorteilhafte Seite.” “Wie meinst du das?” fragte Charlotte, und bekam zur Antwort, “Es haftet eine hohe und tiefe, eine große und majestätische Erbaulichkeit an dem Gedanken vor der Reichsregierungsbehörde unvermeidlich und stets im Unrecht zu sein, besonders wenn man tatsächlich unschuldig, will sagen, nicht im Unrecht, sondern im Recht ist.” “Wenn ich das verstehen soll,” sagte Charlotte, “dann musst du mir viel mehr von der Reichsregierungsbehörde erzählen, damit ich mir eine Vorstellung machen kann, wen ich mir gegenüber habe, mit wem ich es zu tun habe, demgegenüber es erbaulich wäre, im Unrecht zu sein.” “Liebe Charlotte," sagte jetzt Mathilde mit dem Gebaren enger Intimität, “Ich bin nichts als eine unschuldige, oder sollte ich es bekennen, eine schuldige Reinemachefrau. Die Frage die du an mich stellst schneidet ein tiefschürfendes Thema an, auf einem Gebiet wo ich nicht zuständig bin. Da soll uns ein Sachverständiger zur Hilfe kommen.” Mit diesen Worten, zog Mathilde eine zugkräftige Hundepfeife aus ihrer Bluse, und erteilte dieser vier kurze doch heftige Luftstöße mit ihren Lippen. “Was machst du denn da?” fragte Charlotte. “Ich pfeife unserem Klempner, der zugleich auch unser Theologe ist.” “Die Töne kann doch aber kein Mensch hören, die du eben mit deiner Zauberpfeife gepfiffen hast.” “Nur dass du sie nicht hören kannst, heißt nicht, dass nicht andere, deren Ohren auf diese Töne abgestimmt sein möchten, nicht darauf reagieren sollten." KK 6. Kapitel KK << 3982 >> Kaum war dieses Päan ans Nichts Mathildens Mund entgangen, dass sich lautlos eine der Seitentüren aufschob und hindurch ein Mann in Klempneruniform ins Oberprokuristenzimmer trat. Der schritt stark gebeugt, scheinbar weil der Werkzeugkoffer in seiner linken Hand ein schwerer war. Er fragte, “Womit kann ich dienlich sein?” “Dies Mal, nichts Klempnerisches," antwortete Mathilde, "Nur eine Theologenfrage, Hans. Aber herzlichen Dank, dass du so schnell gekommen bist.” Hans beugte sich noch weiter nach links, bis sein Werkzeugkoffer den Boden berührte, wo er ihn niedersetzte. Dann, von seiner schweren Last befreit, richtete Hans sich kerzengerade, blickte umher und fragte: “Kann man sich denn hier nirgends hinsetzen?” Dabei ließ Charlotte ihre Blicke von Hans zu Mathilde schweifen als läge ihr die selbe Frage im Sinn. Die Umstände hatten, wegen Charlottens Unerfahrung, Mathilde zur Wirtin der Oberprokuristenstelle gekürt, und die sagte nun mit einem Anflug Grandezza, “Selbstverständlich kann man sich hier hinsetzen. Überall kann man sich hier hinsetzen. Nehmen wir alle drei, ein jeder in einem Armsessel vor den großen Fenstern mit Blick auf die neblige Stadt dort unten, Platz.” Auch Charlotte war es zufrieden. Dabei dachte sie bei sich, “Was wenn der Richter Adams uns bei dieser Theologenkonferenz überrascht, oder gar die fünf Mitglieder der Reichsoberregierungsbehörde.” Sagen aber tat sie nichts. Es war Hans, der Klempner-Theologe, dessen Stimme die Stille durchbrach. “Also weswegen habt ihr mich denn hierher gepfiffen. Ich hätte wahrlich besseres zu tun als meine Zeit mit Plaudern zu vergeuden.” Gegen diesen Angriff verteidigte sich Mathilde, “Meine neue Freundin, hier, wenn ich mich recht besinne, heißt sie Charlotte Graupe, mit aber großem Begehren Charlotte Magus zu werden, hatte ich mit der Behauptung überrascht, es sei ein erbaulicher Gedanke, dass wir in unserer Beziehung zur Reichsoberregierungsbehörde, etwa wie zu Gott, uns stets im Unrecht befänden. Und als mich Charlotte fragte, was ich denn mit dieser Behauptung besagen wollte, wurde mir klar, dass ich ihr keine Antwort zu geben vermochte, weil ich nur gefaselt hatte. In meiner Verlegenheit, hab ich die Zauberpfeife aus meiner Bluse entfischt, und habe dann, so wie wenn ich um Hilfe rufe weil ein Abfluss verstopft ist, vier Mal gepfiffen. Und darauf hin bist du pflichtgemäß erschienen.” Mathildens Erklärung schien Hans zufrieden gestellt zu haben. Sein Abstecher hier ins Büro der Oberprokuristin schien ihm nun doch sinnvoll und der Mühe wert. Tatsächlich hatte ihn das Zitat zu dessen Exegese Mathilde ihn aufforderte jahrelang beschäftigt. Er war immer wieder, bei den verschiedensten Gelegenheiten daran erinnert worden, hatte darüber nachgedacht, hatte seinem Geist ein Bröckchen Verständnis nach dem anderen zugelegt, ohne jedoch zu einem endgültigen Beschluss gelangt zu sein. Er erkannte das Zitat als eine Abwandlung der Überschrift einer Predigt die im zweiten Teil des Buches Entweder-Oder des dänischen Dichters Søren Kierkegaard steht. Das war ein Buch das Hans sehr schätzte und dessen ursprünglichen dänischen Text, er stets in seinem Arbeitskoffer mit sich trug. So stand er jetzt aus seinem Lehnsessel auf, holte sein Gepäck und fand das benannte Buch und darin die Predigt die er suchte, und las, aber im Stillen: Det opbyggelige, der ligger in den tanke, at mod god have vi altid uret. Es widerstrebte ihm mit vorgetäuschter Kenntnis des Dänischen zu prahlen, deshalb übersetzte er schlicht, "Der erbauliche Gedanke, dass wir in unserer Beziehung zu Gott, uns stets im Unrecht befinden, stammt von Kierkegaard, der veröffentlichte im zweiten Teil von Entweder Oder eine Predigt mit dem Titel: 'Das Erbauliche, das in dem Gedanken liegt, dass wir uns Gott gegenüber stets im Unrecht befinden.' Wenn ich diesen geheimnisdräuenden Satz bedenke, dann stellt sich mir als erste und sehr wesentliche, die Frage ob ich mir diese "Wir", diese Vielen die sich gegen Gott stets im Unrecht befinden, als eine geschlossene Gesellschaft vorstellen muss, oder als eine Gruppe von getrennten Einzelnen von denen jedes einzelne Mitglied das Unrecht in welchem es sich als Einzelnes Gott gegenüber entdeckt, als erbaulich empfinden sollte. Das wäre gewiss eine radikale Widerrufung der herkömmlichen Religionslehren denen gemäß alle Menschen sündig wurden, weil ihre Ureltern die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntis pflückten, und somit einer Ursünde verfielen. Damit schiene die Überlieferung auf den Sündenfall als auf das ursprüngliche vererbte Herdenerlebnis zu weisen." Hans machte eine Pause, die sich auf eine so lange Zeit ausdehnte, dass beide Mathilde und Charlotte sich im Stillen fragten, wann sie denn enden würde. Hingegen Hans, dem Klempner-Theologen, schien diese sich hinziehende Stille unbedenklich. Schließlich wurde Charlotte ungeduldig. Mit zunehmender Empörung die in einen Zornanfall zu münden drohte, protestierte sie: “Würden Sie mir bitte offenbaren, was all die theologischen Ein- oder An-sichten die Sie uns anbieten, mit Klempnerei zu tun haben?” “Da stellen Sie eine Frage,” erwiderte Hans mit einen Anflug von Überlegenheit wenn nicht gar Hochmut, “die darauf hin deutet, dass Sie in der Klempnerei eine Anfängerin sind nicht weniger als in der Theologie." "Da haben Sie recht, Herr Pastor Klempner," erwiderte Charlotte, "denn ich habe mich in der Aletheia dem Studium der Kochkunst gewidmet." Hier stockte Charlotte, und wusste selbst nicht, ob wegen Erstaunen über die Unverschämtheit oder ob wegen Verlegenheit über die auswegslose Unwahrhaftigkeit in der sie sich verstrickt hatte. Hans, aber, der jahrelang über den scheinbaren Widerspruch seiner beiden Berufungen nachgesonnen hatte, war entzückt von der Gelegenheit seine Gedanken zwei so klugen und beteiligten Frauen auseinanderzusetzen. Momentan kam er sich vor wie Gottfried Wilhelm Leibniz im Salon der Fürstin Sophia von Hannover und ja, ihrer Tochter, Sophie Charlotte, der künftigen sechzehn Jahre alten oder jungen Preußenkönigin. “Die Klempnerei und die Gotteslehre,” begann Hans, als stünde er auf der Kanzel der Kreuzkirche in Hannover, “sind verbunden durch das Wasser, Wasser des Trunks als Voraussetzung des vergänglichen Lebens und Wasser der Taufe als Instrument des ewigen Lebens, aber auch, es darf nicht verschwiegen werden, Wasser darin die Menschen seit Noahs Zeiten ersaufen, Wasser also auch als Einladung ins Meer des Todes. Die Schichtenströmung, des Wassers, sein laminares wirbelfreies Fließen, gleicht des Lebens schnellem Ablauf in Ruhe und Frieden, indessen des Lebens Unfälle, seine Krankheiten, Aufregungen, Störungen, Ärgernisse, Empörungen, Feindseligkeiten, Zerstrittenheiten und Verzweiflungen den Wirbeln, den Strudeln ähneln, darin der Lebensstrom sich zuweilen auflöst und verliert. Wie oftmals der Wasserstrom in Tropfen zersprüht, und wie die Tropfen infolge der Oberflächenspannung sich wiederum zum Strom zusammenfügen möchten, erinnert das nicht an die Weise in der die Gesellschaft sich in einzelne Seelen teilt, in abgetrennte Individuuen die sich dann wiederum bei Gelegenheit in eine neue Gemeinschaft zusammenschließen?" Jetzt herrschte Stille, denn weder Mathilde noch Charlotte war zu einer Antwort bereit. Also fuhr Hans fort: "Das größte Geheimnis aber ist der ewig Verstecken spielende Gott, der jeden Namen verschmäht und dennoch sagt, ich heiße 'Ich bin, der ich bin', und anderen Ortes erklärt, ich heiße 'Ich werde sein, der ich sein werde.'” Nach dieser Ausführung schwieg der Klempner Theologe Hans, öffnete seinen Werkzeugkasten und entnahm ihm eine umfängliche Papierrolle die er aufwickelte und zu lesen began aber im Stillen, ohne ihren Inhalt seinen beiden Hörern mitzuteilen, als bedürfe er sich der Triftigkeit des Textes zu versichern: 13 And Moses said unto God, Behold, when I come unto the children of Israel, and shall say to them, The God of your fathers hath sent me unto you; and they shall say to me, What is his name? what shall I say unto them? 14 And God said unto Moses, I Am That I Am: and he said, Thus shalt thou say unto the children of Israel, I Am hath sent me unto you. (Exodus 3) 13 καὶ εἶπε Μωυσῆς πρὸς τὸν Θεόν· ἰδοὺ ἐγὼ ἐξελεύσομαι πρὸς τοὺς υἱοὺς ᾿Ισραήλ, καὶ ἐρῶ πρὸς αὐτούς· ὁ Θεὸς τῶν πατέρων ἡμῶν ἀπέσταλκέ με πρὸς ὑμᾶς. ἐρωτήσουσί με· τί ὄνομα αὐτῷ; τί ἐρῶ πρὸς αὐτούς; 14 καὶ εἶπεν ὁ Θεὸς πρὸς Μωυσῆν λέγων· ἐγώ εἰμι ὁ ὤν. καὶ εἶπεν· οὕτως ἐρεῖς τοῖς υἱοῖς ᾿Ισραήλ· ὁ ὢν ἀπέσταλκέ με πρὸς ὑμᾶς. 13 ait Moses ad Deum ecce ego vadam ad filios Israhel et dicam eis Deus patrum vestrorum misit me ad vos si dixerunt mihi quod est nomen eius quid dicam eis 14 dixit Deus ad Mosem ego sum qui sum ait sic dices filiis Israhel qui est misit me ad vos 13 Mose sprach zu Gott: Siehe, wenn ich zu den Israeliten komme und spreche zu ihnen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt!, und sie mir sagen werden: Wie ist sein Name? was soll ich ihnen sagen? 14 Gott sprach zu Mose: Ich werde sein, der ich sein werde. Und sprach: So sollst du zu den Israeliten sagen: »Ich werde sein«, der hat mich zu euch gesandt. 13 Mose sprach zu Gott /Sihe / wenn ich zu den kindern Jsrael kome / vnd spreche zu jnen / Der Gott ewer Veter hat mich zu euch gesand / Vnd sie mir sagen werden / wie heisst sein Name? Was sol ich jnen sagen? 14 Gott sprach zu Mose / Jch werde sein der ich sein werde. Vnd sprach / Also soltu zu den kindern Jsrael sagen / Jch werds sein / der hat mich zu euch gesand. Die Stille im Oberprokurazimmer ausgelöst von der schweigsamen Lektüre Hans des Klempner-Theologens, erschöpfte Charlottens Geduld. “Wenn’s so gewichtig ist,” sagte sie, “lies es uns doch vor, laut so dass auch ich dich verstehen kann, oder meinst du ich wäre zu dumm dazu.” “Es sind wegen meiner Beschränkungen, nicht deiner, weswegen ich im Stillen lese” antwortete Pastor Klempner, “Denn es sind zwei Verse der Bibel, Nr. 13 und 14 des dritten Kapitels im zweiten Buch Mose die ich lese und die ich verstehen möchte weil sie mir so bedeutsam und zugleich so geheimnisvoll sind und die ich deshalb in vier verschiedenen Sprachen lese, im Griechischen, Lateinischen, Englischen und Deutschen. Dabei schäme ich mich vor euch weil ich zu protzen scheine, insofern ich weder die griechischen noch die lateinischen Worte auszusprechen vermag. In deutscher Übersetzung heißen sie: 13 Mose sprach zu Gott: Siehe, wenn ich zu den Israeliten komme und spreche zu ihnen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt!, und sie mir sagen werden: Wie ist sein Name? was soll ich ihnen sagen? 14 Gott sprach zu Mose: Ich werde sein, der ich sein werde. Und sprach: So sollst du zu den Israeliten sagen: »Ich werde sein«, der hat mich zu euch gesandt. Charlotte schien zunehmend aufgeregt. “Bitte erklär mir,” sagte sie, “was hat das mit den Vorrechten und Pflichten einer Oberprokuristin zu tun? Denn darauf, und auf nichts anderes kommt es hier an.” Hans, der Klempner-Theologe fuhr fort als hätte er Charlottes Einwände nicht gehört. “Ein mehr großartiges Spiel mit Worten vermöchte ich mir nicht vorzustellen. Das große Geheimnis dieses Rätsels ist die Art und Weise in welcher das Innen und das Außen im Gottesbegriff verschmolzen sind. Denn Gott lebt zugleich im Innersten des Menschen, das weiß jeder der auch nur eine Ahnung von der Religion hat; aber weil auch das Allgemeine, das Äußere, dem einzelnen Menschen und den vielen Menschen die Wirklichkeit bedeutet, scheint es unvermeidbar dass Gott auch als ein außerhalb des Einzelnen wirkendes Wesen vorgestellt wird, vielleicht nicht in Wolken thronend, wie kindliche Vorstellung es sich ausmalt, aber umso zwingender als die bekannte Behauptung welche Spinoza in den Worten ‘Deus sive Natura’ zum Ausdruck brachte. Gott, so behaupte ich," sagte jetzt Hans der Klempner, wie von der Kanzel der Kreuzkirche, "ist die Vorstellung eines allgemeinen subjektiven Wesens das die Inwendigkeiten, die Subjektivitäten, der vielen verschiedenen einzelnen Menschen vereinigt, und diese Menschen in geheimnisvoller Weise mit einander verbindet. Demgemäß ist Gott ein Widerspruch, eine mögliche Unmöglichkeit; oder vielleicht genauer: eine unmögliche Möglichkeit." “Da hast du uns von dem jüdischen Gotte berichtet,” sagte Charlotte, “und mir jedenfalls in sehr eindrucksvoller Weise. Nun bitte zeig, wie wir den christlichen Erlöser verstehen sollen.” “Da ist nicht viel zu erzählen oder zu erklären,” sagte Hans der Klempner-Theologe. “Ließ was geschrieben steht und nimm es wörtlich. Vorerst das Versprechen, dass ein Erlöser kommen wird. Das ist eine Vorhersage, eine Prophezeihung die zerbricht und im Brechen die Welt erleuchtet, weil die Zukunft die Gegenwart ist, und als solche, ewig gegenwärtig, und demgemäß die Zukunft in jeder Zeit als Gegenwart erscheint. Denn jede Zeit ist jetzt; und was jeder Zeit zu geschehen vermag, das geschieht jetzt. So ist das Neue Testament die notwendige, unvermeidliche Erfüllung des Alten Testaments.” “Da hörst du dich an wie ein Evangelist,” bemerkte Charlotte. “Vielleicht,” sagte Hans, “aber die Botschaft ist, dass die beiden, das Alte und das Neue Testament in einander verschmelzen und ein einziges Phänomen geistigen Daseins darstellen.” “Und die Geschichte Jesu?” fragte Charlotte, “wie vereinbarst du sie?” “Eben so,” sagte Hans, “dass ich sie deute wie sie erzählt wird, einfach und wörtlich nehme ich sie.” “Also bitte erzähl sie uns ein weiteres Mal,” bat Charlotte. “Die Geschichte Jesu, ganz schlicht und einfach, ist die Geschichte des Kindes einer allein erziehenden Mutter, wie man heutzutage sagen würde, eines vaterlosen Knabens der sich dringend nach einem Vater sehnt, und der in seiner Sehnsucht, da er nun einmal in einer rabbinerischen Phantastenwelt auferzogen wird, sich und seiner Mitwelt einredet, der vermisste Vater sei kein anderer als der unsichtbare namenlose Gott. Er war ein vaterloser Sohn der behauptete sein Vater sei der große Gott, und er sei eben der einzige Sohn dieses großen Gottes. So redete er sich und seiner Welt sein Prophetentum ein. Dass er gekreuzigt wurde, war Ausdruck einer post-traumatischen Belastungsstörung der damaligen Bevölkerung. Das Trauma das die Menschen belastete, war die Brutalität der furchterregenden Gegenwart. Die Böschungen der Römerstraßen waren mit gekreuzigten, gequälten sterbenden Menschen bestückt um das Volk zum Gehorsam zu terrorisieren indem sie ihm die Angst vor dem Kreuzestod einflößten, und dies in einem solchen Maß und mit solchem Erfolg, dass die Menge ein Opfer begehrte womit sie den sie eigens drohenden Tod am Kreuz von sich selber abzuwenden vermöchte. Ein solches Opfer fanden sie dann in dem vaterlosen Propheten Jesus, der behauptet hatte, und fortfuhr zu behaupten, dass Gott sein Vater sei; eine Phantasie die es ihm möglich machte sich kreuzigen zu lassen, in der Zuversicht dass dieser Vater ihn im letzten Augenblick retten würde, ein Wahn der ihn beseligte bis er am Ende seinen Fehler gewahrte mit der erbärmlichsten aller Klagen, ‘Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?’ Jesus wurde gekreuzigt weil er so eindeutig und unverkennbar, ein und für alle Mal außerhalb des Geistes der Gesellschaft lebte.” “Die Psychopathologie der posttraumatischen Belastungsstörung,” sagte Hans, “wird weithin unterschätzt und übersehen. Es ist naheliegend den Lebenslauf von uns Menschen überhaupt als fortwährendes Verletztwerden, als Trauma zu deuten. Wenn man dies tut, dann kann man nicht umhin die seelischen Störungen der einzelnen Mitglieder der Gesellschaftsmenge, so wie auch die Verirrungen der ganzen Gesellschaft, als posttraumatische Belastungsstörungen zu erklären.” So jedenfalls tat es Hans. Der Klempner-Theologe fasste nun seine Ausführungen zusammen. “Das gesamte Christentum,” sagte er, “lässt sich am bündigsten als eine monumentale posttraumatische Belastungsstörung verstehen, erstens in seinen Wurzeln als Reaktion auf die historischen Leiden des jüdischen Volkes. Die Vertreibung aus Eden, der Streit zwischen Kain und Abel, die Sintflut, das Opfer auf dem Moriahberg, der Zwist zwischen Jakob und Esau, der Verkauf Josephs durch seine Brüder, die Knechtschaft in Ägypten, die Wanderung durch die Wüste, die Leiden welche sich in den Klagelieder des Psalmisten, in den Klagen Hiobs und der Propheten spiegeln, die Zerstörungen des Tempels, ja, und auch die Verfolgungen des Volks Gottes bis in die Gegenwart." “Dann aber, ganz besonders die Geschichte die in den Evangelien erzählt wird,” sagte Hans, “deute ich als posttraumatische Belastungsstörung. Jesus, Sohn der allein erziehenden Maria, verzweifelt in Angesicht seiner Vaterlosigkeit, erdichtet sich in seiner Not einen himmlischen Vater. So machte ihn die Belastung der irdischen Vaterlosigkeit zum Propheten. Als Prophet lebte er außerhalb der Gesellschaft, und als Außenstehender taugte er zum Opfer am Kreuz. Sein Leiden und sein Sterben sollten dienen den Tod den er erlitt von seinen Mitmenschen abzuwenden.” “Die Kreuzigung war auch in Bezug auf das Volk, das mit zunehmendem Eifer ‘Kreuzige ihn’ schrie, Ausdruck einer posttraumatischen Belastungsstörung. Das Volk das den Propheten zum Opfer am Kreuz bestimmte, litt seinerseits an Angst vorm gekreuzigt werden. Die Gesellschaft war von der herrschenden Brutalität und Unmenschlichkeit verwundet, so dass ein jedes ihrer Mitglieder Grund hatte, allenfalls im Unterbewusstsein, den Tod am Kreuze zu befürchten. Näher betrachtet wirkt und funktioniert die Gesellschaft überhaupt durch Zwang, durch Strafe, durch Paideia, durch Disziplin, wodurch sie ihre Mitglieder zur Gleichförmigkeit und Übereinstimmung zwingt. Dieser Zwang der einerseits das Gesellschaftsleben ermöglicht, wirkt andererseits unter vielen Umständen traumatisch, und das Leben der einzelnen Gesellschaftsmitglieder muss im Allgemeinen als von posttraumatischer Belastungsstörung gestaltet betrachtet werden." "Wie soll ich die Last des Lebens bezeichnen? Ist sie Alltagsverschleiß, tägliche, normale, übliche, gewöhnliche Beeinträchtigung des Menschendaseins? Ist sie eine unvermeidbare, krankhafte Abnutzung der Seele? Oder sind Müdigkeit, wenn nicht gar Erschöpfung und Schlaf nach den Mühen des Tags, nützliche, notwendige Einrichtungen der Natur, die Geist und Körper befähigen sich zu erholen? Ist es nicht wünschenswert und ersprießlich, dass der lange Tag in jeder Nacht zur Ruhe kommt, sei sie mondhell oder von Sternen gesprenkelt oder bewölkt und dunkel? Ist es nicht erbaulich, dass Sommer und Winter einander regelmäßig ablösen? Wäre es nicht ein Irrtum die unvermeidbaren Tagesmühen als Verwundung zu bezeichnen, und dementsprechend zu vermuten, die Belastungen die sie nach sich ziehen seien vermeidbar?” Hans fuhr fort, “Man muss die vielen verschiedenen Lebenslagen und Lebensumstände in Betracht ziehen eh man entscheidet was natürlich oder was unnatürlich ist, was normal oder nicht normal, gesund oder krankhaft, physiologisch oder pathologisch sein möchte. Mag sein, dass diese Entscheidungen von den unterschiedlichen körperlichen und geistigen Beschaffenheiten verschiedener einzelner Menschen abhängen.” Nach einer langen Pause antwortete Charlotte, “In ihrer Redelust, Herr Klempner-Theologe, sind sie vom Thema abgewichen. Sie waren im Begriff uns zu erklären wieso es erbaulich wäre im Unrecht zu sein gegenüber dem Gott auf dessen historische Hinweise sie uns reichlich aufmerksam gemacht haben. Bitte lassen Sie uns nicht länger warten.” Hans aber beeilte sich nicht. Er ahnte dass er sich auf der Schwelle einer neuen und möglicherweise bedeutsamen Einsicht befand. “Seit mehr als zwei tausend Jahren” fuhr er fort, “herrscht die Ansicht, die vermeintliche Einsicht, dass das Göttliche und das Gerechte übereinstimmen. Gott erscheint als der endgültig gerechte Richter, und so entsprießt des Menschen Seligkeit der Übereinstimmung der Gerechtigkeit des Einzelnen mit der Gerechtigkeit seines Gottes. Nun soll diese scheinbar erbauliche Beziehung von Mensch und Gott als täuschend erkannt werden. Der Mensch soll es nunmehr als seine Seligkeit erleben, dass er gegen seinen Gott im Unrecht ist. Wie wäre das zu verstehen? Es gibt vier Möglichkeiten,” hörte Hans sich sagen, und war nun, indem seine Worte im Oberprokuristensaal widerhallten, gewiss dass er nicht träumte, sondern dass er wach war. “Und was wären diese vier Möglichkeiten?” fragte Mathilde. Sie war erleichtert, dass das Gespräch nun wieder aufs Neue in Gang gekommen war, und wollte es ihrerseits unterstützen. “Ja, die erste Möglichkeit,” begann Hans, und in Anbetracht der Gewichtigkeit des Themas, wählte er seine Worte mit großer Bedachtsamkeit, “ist dass die vermeintliche Gerechtigkeit Gottes ein Missverständnis ist, entweder weil es so etwas wie Gerechtigkeit überhaupt nicht gibt, oder aber weil die Gerechtigkeit insofern es sie gibt, eben unbedingt unmittelbar von Gott abhängig ist. Dann wäre was Gerechtigkeit in jedem besonderen Falle sein möchte so unvorhersehbar wie der Wille Gottes.” “Die zweite Möglichkeit,” so fuhr Hans fort, “wäre dass es zwar Gerechtigkeit gibt, sowie dass es auch einen gerechten Gott gibt, dass aber die Menschen, wie von einer Erbsünde befallen, unfähig sind an dieser Gerechtigkeit teilzunehmen, oder sie auch nur zu erkennen, geschweige denn sie zu verstehen.” “Die dritte Möglichkeit ist, dass es zwar Gerechtigkeit gibt, auch einen gerechten Gott, und auch Menschen die der Gerechtigkeit anfällig sind, dass es aber am Mitteilungsvermögen, ins Besondere, an der Sprache, hapert, Zureichendes über diese Verhältnisse auszusagen, weshalb die Verhältnisse von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit im Schatten von Unverständnis verborgen bleiben.” “Und die vierte Möglichkeit,” fragte Charlotte, “was wäre dann die vierte Möglichkeit?” “Ja, die vierte Möglichkeit,” begann Hans, der jetzt mit besonderer Vorsicht sprach, “die vierte Möglichkeit betrifft unser beschränktes Wissen vom Wesen Gottes.” “Du möchtest also die Möglichkeit in Erwägung ziehen, dass Gott überhaupt nicht existiert, dass es keinen Gott mehr gibt, weil Gott so sterblich ist wie die Menschen die an ihn glauben, und dass dieser sterbliche Gott nun schließlich gestorben ist, was es uns jetzt erst recht ermöglicht über ihn herzuziehen.” “Das alles hast du gesagt,” erwiderte Hans an Charlotte, “das waren, das sind, und das bleiben deine Worte, nicht meine.” “O was für ein Feigling du bist,” schalt Charlotte, “Ich hatte mir vorgestellt, ein Klempner, der sich mit dem Fortspülen und Abfließen vom allermenschlichsten Unrat berufsmäßig zu beschäftigen hat, müsste ein tapferer Mann sein.” “Die Antwort auf die Tapferkeitsfrage,” sagte Hans, jetzt mit einem Anflug von Stolz, "muss ich dir überlassen. Meinerseits habe ich nur hinzu zu fügen, dass ich die Existenz Gottes als eine transzendentale Sache betrachte, völlig außerhalb des Bereichs meiner Kompetenz, dass ich jedoch aus meiner Perspektive den Gottesbegriff, das Gotteserlebnis, als einen Schnittpunkt individueller Ichbewusstheiten, als einen Knotenpunkt menschlicher Subjektivitäten, betrachten muss.” “Das was du da sagst,” bemängelte Charlotte, “schwebt sehr hoch. Ich begreife es nicht, und wenn ich du wünscht, dass ich es verstehen soll, musst du es mir erklären,” fügte sie hinzu, und indem Charlotte sprach, milderte sich der Ton ihrer Worte. “Du hast von Subjektivität geredet,” fuhr sie fort, “als die Erklärung für das Sein Gottes. Würdest du mir bitte sagen, was ich mir unter Subjektivität vorstellen soll, und was Subjektivität mit Gott und mit dem Göttlichen zu tun haben sollte?” “Das, finde ich, sind sehr triftige Fragen. Glaubst du, dass du über genug Geduld verfügst, meine Antwort anzuhören?” “Das muss sich herausstellen,” sagte Charlotte. “Wenn es zu langwierig oder zu langweilig wird, lasse ich es dich wissen. Normaler Weise würde ich einfach aufstehen und fortlaufen, aber dass ist mir hier unmöglich, denn letzten Endes bin ich ja hier als Oberprokuristin berufsmäßig beschäftigt, wobei ich bemerken möchte, dass mir bis jetzt noch nicht mitgeteilt worden ist, mit wieviel Geld meine Bemühungen vergütet werden sollen.” “Vergib und erlaube mir, zum Eingang, als Einführung den vielleicht ungebührlich persönlichen Hinweis, dass deine Anstellung hier als Oberprokuristin auf die du dich beziehst, vorerst, bis jetzt, und wie mir scheint ausschließlich, eine semantische Verfügung, ein Spiel mit Worten ist, ein Floh den dir irgendjemand ins Ohr gesetzt hat.” “Es war der Justizminister, der ehrwürdige Herr Richter Adams,” unterbrach Charlotte, und wusste selbst nicht wieso und warum sie in diese Extravaganz ausgeglitten war. Doch Hans ließ sich auch jetzt in seinen Ausführungen nicht stören, und redete ununterbrochen weiter: “Ins Ohr als jene Geisteshöhlung wo der Gedankenfloh wollüstig herumspringt und seine Lebendigkeit und Stichfähigkeit feiert. Genau das ist es was du hier als Oberprokuristin ohne Portfolio tun wirst.” “Da komme ich nicht mit; ich kann dir nicht folgen; bitte erklär dich mir ausführlicher.” “Unsere Wirklichkeiten haben ihren Bestand in Worten und in den tatsächlichen oder möglichen Erlebnissen auf welche die Worte hinweisen oder von denen sie zeugen.” “Was Worte sind,” sagte Charlotte, “damit bin ich hinreichend vertraut. Bitte aber sag mir, was ist ein Erlebnis, oder was sind Erlebnisse, worauf die Worte angeblich hinweisen." "Da hast du eine kluge Frage gestellt,” sagte Hans. “Ach, so redest du immer und schmeichelst mir, wenn du wegen der Antwort auf eine Frage die ich gestellt habe, verlegen bist,” sagte Charlotte. “Erleben,” sagte Hans, jetzt zu einer entscheidenden Antwort entschlossen, “Erleben ist das Aggregat, das Gehäuf der bewussten Gefühle und Gedanken, welche einen jeden von uns Menschen zu einem gegebenen Zeitpunkt, in einem bestimmbaren Augenblick, befällt.” “Du sagst ‘zu einem gegebenen Zeitpunkt’. Mir aber scheint, dass ein gegebener Zeitpunkt, wenn überhaupt, nur in der Vergangenheit, nur im Rückblick, nur im Nachhinein feststellbar ist, und deshalb doch nicht feststellbar, eben weil er als festgestellter Zeitpunkt stets vergangen ist.” “Wieder einmal hast du recht, liebe Charlotte,” sagte Hans. “Zuletzt bleibt uns nichts woran wir uns halten können, als die Sprache. Nichts bleibt uns übrig denn dass wir sie als einen Weiser auf etwas, gegebenen Falls auf das Erleben halten, das, wie wirklich auch immer es uns anmutet, wir dennoch nicht zu erreichen vermögen. Um dergleichen zu bezeichnen, bediene ich mich des Ausdrucks ‘transzendental’.” “Also wenn ich dich recht verstehe,” beschloss Charlotte, “was wir versuchen einander mitzuteilen, ist nichts als Schwafeln, das keine Bedeutung, keine Wirkung hat als mir den Weg zur Anstellung als Oberprokuristin zu erschweren, wenn nicht sogar ganz zu verbauen.” “Da sind wir nun einmal wieder anderer Ansicht, liebe Charlotte,” sagte Hans. “Vergiss bitte nicht, dass wir die Frage bedachten, ob es erbaulich oder unerbaulich sein möchte im Unrecht vor Gott zu sein. Daraus ergibt sich die unmittelbare Frage, ‘Wer ist Gott?’ oder ‘Was ist Gott?’ Als Vorlagen möchten uns unsere Betrachtungen darüber dienen, die sich aus der Frage ergeben, was wir mit dem Ausdruck Erleben meinen.” “Findest du nicht,” fragte Charlotte jetzt in einem Ton von Kooperation wenn nicht sogar von Unterwerfung, “einen Unterschied zwischen deinem Erleben von dir selbst, von deinem Ich, und deinem Erleben vom Göttlichen einerseits, und andererseits von dem unendlich weit entfernten Gott, dem die zeitgenössischen Astrophysiker in ihrer sich mit Lichtgeschwindigkeit ausdehnenden Welt, wahrhaftig keinen Platz mehr gelassen haben?” “Da kann ich nicht mit dir übereinstimmen. Ich würde das Gegenteil behaupten, oder zum mindesten vorschlagen,” sagte Hans. “Das verstehe ich nicht,” war Charlottens Antwort, und Hans fuhr fort, “Siehst du, Charlotte, die moderne Astrophysik scheint zu beweisen, dass für den Gott den wir Menschen uns vorgestellt haben, erst im Paradiesesgarten, dann auf dem Sinaigipfel, auf dem Moriahberg, dann zwischen den Wolken, dass zuletzt sogar schließlich im Weltraum weit hinaus über alle Wolken, Planeten, Sonnen, Sternen und Galaxien, heutzutage kein geheimnisträchtiger Platz mehr ist wo dieser Gott mit uns Verstecken zu spielen vermöchte. Aber das Erleben hat ja, wie der unsichtbare Gott, und, nebenbei bemerkt, das Ich, ebenfalls keine gegenständliche Wirklichkeit im Außen, wie weit ausgedehnt es auch immer vorgestellt wird, und muss als im Unsichtbaren, also im Inneren des Menschen gedacht werden. Das haben die Mystiker schon seit Jahrhunderten wenn nicht gar seit Jahrtausenden vorgeschlagen.” Wieder machte Hans der Klempner-Theologe eine Pause, und verfiel ins Schweigen. Dann beugte er sich zu seiner Werkzeugkiste, öffnete diese und entnahm ihr eine zweite beschriftete Rolle, weniger umfangreich als die erste.” Wieder fing Pastor Klempner an, ohne Erklärung stillschweigend zu lesen. 20 And when he was demanded of the Pharisees, when the kingdom of God should come, he answered them and said, The kingdom of God cometh not with observation: 21 Neither shall they say, Lo here! or, lo there! for, behold, the kingdom of God is within you. Luke 17:20-21 20 DA er aber gefraget ward von den Phariseern /Wenn kompt das reich Gottes? Antwortet er jnen /vnd sprach / Das reich Gottes kompt nicht mit eusserlichen Geberden / 21 Man wird auch nicht sagen /Sihe hie / oder da ist es. Denn sehet / Das reich Gottes ist inwendig in euch. [20] Ἐπερωτηθεὶς δὲ ὑπὸ τῶν Φαρισαίων πότε ἔρχεται ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ ἀπεκρίθη αὐτοῖς καὶ εἶπεν Οὐκ ἔρχεται ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ μετὰ παρατηρήσεως, [21] οὐδὲ ἐροῦσιν Ἰδοὺ ὧδε ἤ Ἐκεῖ: ἰδοὺ γὰρ ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ ἐντὸς ὑμῶν ἐστίν. Schließlich richtete Hans sich auf und fuhr fort zu reden. “Wenn das Reich Gottes ein inneres Erleben sein sollte, so müsste doch gewiss auch Gott selbst inneres Erleben sein. Und warum nicht? Ist denn nicht auch das Ich, das einzige und das Wichtigste worauf es mir ankommen muss, so innerlich wie das Erleben überhaupt? und hat nicht mein Ich nirgends, auch nicht im weitesten Weltall, seinen Ort.” “Weißt du, Hans, du mein verehrter Klempner-Theologe,” sagte jetzt Charlotte mit emphatischer Entschlossenheit, “Ich hab schon längst vermutet du seist verrückt. Jetzt aber bin ich dessen sicher. Es ist mir zwar unmöglich mein Innerestes zu begucken, und weiß nicht, ob dort drinnen irgend ein Licht, wie etwa eine kleine verlorene Taschenlampe, leuchtet, das mein Innerstes erhellen sollte, aber ich weiß sehr wohl, und erlebe es immer wieder, von Abend zu Abend, wie die mir tagsüber sichtbare Welt unsichtbar wird und im Dunkeln verschwindet. Das heißt aber nicht dass ich sie irgendwie verschluckt, aufgefressen oder anderweitig verinnerlicht hätte. Ich wäre dir gern behilflich einen Psychiater zu finden. Damit würden viele Fragen beantwortet.” Auch in Anbetracht dieser aggressiven Rüge blieb Hans unbeirrt: “Ich möchte in diesem Zusammenhang die Ausdrücke 'subjektiv' und 'objektiv' einführen,” sagte er, “vorerst mit dem Hinweis, dass sich im Laufe der Jahrhunderte ihre Bedeutungen gewandelt haben. Einst war das Subject ὑποκείμενον, die Grundfeste, das Unterworfene, das unveränderlich Bleibende, das Unterliegende, welches unseren Wahrnehmungen und Gedanken ihre Verlässlichkeit verbürgt. Indessen war Objekt das Zufällige, das dem Betrachtenden jeweils entgegen, beziehungsweise in die Augen fällt, und als solches weniger verlässlich ist als das unveränderliche Subjekt. Die wissenschaftlichen Entwicklungen in den vergangenen dreihundert Jahren haben auch die Bedeutungen dieser Worte verwandelt. Heutzutage gilt das Objektive als das verlässlich wirkliche Seiende dessen Bestehen, dessen Eigenschaften, und dessen Verlässlichkeit vom Wissenschaftler immer wieder aufs Neue entdeckt und erwiesen werden. Indessen das Subjektive als das auf das Denken und besonders auf das Fühlen des Einzelnen Bezogene, unbestimmt und unbestimmbar erscheint, und somit unzuverlässig. Umso erstaunlicher ist Kierkegaards Fanfahrenstoß, wenn er behauptet, ‘Subjektiviteten er Sandheden,’ die Subjektivität ist die Wahrheit.” “Es scheint mir von beträchtlichem Wert, statt des Versuches eine sachliche Gültigkeit der unterschiedenen Gelände, Subjektivität und Objektivität, zu ermessen, den Blick auf die gesellschaftlichen Eigenschaften der beiden Bereiche zu richten. Wenn das Subjektive, wie mir scheint, dadurch bezeichnet ist, dass es sich auf den Einzelnen bezieht und beschränkt, so schlage ich vor, dass im Gegensatz, das Objektive dadurch bezeichnet sein möchte, dass es die Gesinnung der Gesellschaft, der Vielheit, der Mehrheit, der Gesamtheit der Betroffenen spiegelt und beherrscht.” “Meinst du," fragte Charlotte erleuternd, “dass die Gültigkeit des Objektiven daher rührt, dass es gesellschaftlich ist, oder dass die Gesellschaftlichkeit des Objektiven daher rührt, dass es gültig ist?” “Deine Frage vermag ich in der Form wie du sie stellst nicht zu beantworten,” sagte Hans, “denn du setzt eine unbedingte Gültigkeit voraus. Ich bin nicht bereit die unbedingte Gültigkeit eines ‘objektiven’ Satzes zu konstatieren. Wenn wir uns einigen können, dass wir es nicht mit einer unbedingten, sondern mit einer scheinbaren Gültigkeit zu tun haben, dann möchte ich der erste sein, zu behaupten, dass diese scheinbare Gültigkeit ein Ausdruck des Herdengeistes ist, und dass sie auf der Gesellschaftlichkeit der Menschen beruht.” So etwa Hans, der Klempner-Theologe. “Was heißt ‘scheinbare’ Gültigkeit? Ich sollte meinen,” wendete Charlotte ein, “eine Behauptung wäre entweder gültig oder sie wäre ungültig. Scheinbare Gültigkeit ist ein Zwitter von dem ich nicht weiß, ob ich es annehmen soll.” “Wenn ich dich recht verstehe,” erwiderte Hans, “dünkt dich der Ausdruck ‘scheinbare Gültigkeit’ über nur scheinbare Gültigkeit zu verfügen. Ach, Charlotte,” fuhr er fort, “‘scheinbare Gültigkeit’ ist ein Ergebnis der Sprache, insofern es Sprache ist welche behauptet oder besagt, dass etwas gültig sei, dieweil doch das Wesen der Sprache der Schein ist.” “Du bedienst dich also der Sprache in dem Versuch mir weiß zu machen,” antwortete Charlotte, “dass die Sprache nur Schein ist. Da widersprichst du dir selber.” “Wenn ich dir nun sage, dass wir uns an die Grenze des Sagbaren gewagt haben, so tue ich dies vielleicht aus dem Zwang über das letzte Wort zu verfügen,” sagte Hans. “Nein,” erwiderte Charlotte, “das letzte Wort soll mir gehören; ich beanspruche es für mich, indem ich behaupte, wir haben die Grenzen des Sagbaren längst hinter uns gelassen, und sind nun weit über sie hinaus.” “Ach, was seid ihr kindisch, euch dermaßen in Worte verstricken zu lassen und über sie zu streiten,” sagte die Reinemachefrau Mathilde, “Stattdessen solltet ihr die Sprache wie einen Besen benutzen um mit ihr sauberzumachen und aufzuräumen. Nach dir, Hans, hatte ich gepfiffen, mit der Absicht meine Freundin Charlotte, die neugebackene Oberprokuristin, über ihr Amt und besonders über ihre neuen Arbeitgeber zu belehren.” “Nun ja,” erwiderte Hans, “und genau das ist es, was ich getan habe. Denn alle Regierungen und alle Gerichte sind Wortswesen, und das Verständnis der Sprache ist der einzige Schlüssel zum bündigen Regieren und zum erträglichen Regiertwerden.” Mathilde schienen Hansens radikalen Exegesen der Religionsgeschichte und der menschlichen Existenz selbstverständlich, vermutlich weil Hans der Klempner-Theologe, sie ihr bei anderer Gelegenheit, vielleicht sogar schon verschiedentlich, mitgeteilt hatte. Charlotte, hingegen, der im Döhringhaus beim geduldigen, oder nicht so geduldigen Zuhören so manche ausgefallenen Theorien und Vermutungen bekannt geworden waren, fand sich tief beeindruckt, vermochte aber dennoch für ihr Verständnis oder Unverständnis keine Worte zu finden. Zuletzt, nach einer langen Pause, wandte sie sich zu Mathilde. “Ich möchte nicht undankbar oder unfreundlich erscheinen, aber ich besinne mich, und ich möchte auch dich daran erinnern, dass mir die Stelle als Oberprokuristin vom Richter Adams angeboten wurde, und dass ich sie angenommen habe, in der Absicht ...” und hier stockte Charlotte denn fast hätte sie das Katenusgeheimnis verraten, und noch dazu in Gegenwart eines dritten, des Klempner-Theologen Hans, von dem sie nicht wissen konnte, ob auch er so wie Mathilde in all die Geheimnisse der Reichsregierungsbehörde eingeweiht war, oder ob er vielleicht neue Kenntnisse über den unbedingt geheimzuhaltenden Besuch im Döhringhaus zum katastrophalem Nachteil all seiner Bewohner an die Behörden verraten möchte. “Hab ich nun alle Fragen zu eurer Befriedigung beantwortet,” sagte Hans, der sich mangelnd jeglicher anderen Vergütung, zumindest zu einem kleinen Knicks und einem höflichen Dankeschön von der reizenden Charlotte berechtigt fühlte. Weil er aber auf seine anzügliche Frage keine Antwort bekam, erhob er sich aus seinem Armsessel zu kerzengrader Länge, ergriff seinen Handwerkskoffer und verließ wortlos das Zimmer. Wie lange Hans, der Klempner-Theologe fort war, ließ sich kaum noch bestimmen, denn weder Mathilde, die übergelehrte und tatsächlich unter dem Tisch Philosophie treibende Reinemachefrau, noch Charlotte Graupe, die duldsame Absolventin der Aletheia Universität der Kochkünste, hatte nach der Uhr geschaut und wäre demgemäß fähig gewesen, die Minute und Stunde von Hansens Abgang in ihr Gedächtnisregister einzutragen. Tatsächlich verfügte Mathilde über keine Art Uhr, und Charlotte verließ sich zur Zeitbestimmung nur auf ihr Radiotelephon womit sie die Zeit zwar auf die Sekunde festzustellen vermochte, das aber in ihrer Jackentasche verborgen blieb, weshalb sie sich dessen nur selten bediente und nur selten der genauen Zeit gewahr wurde. So saß eine jede der beiden neuen Freundinnen in ihrem Sessel vor den hohen Fenstern in der Penthauskanzlei der Reichsregierungskommissionsoberprokura, ob mit den Blicken auf die tief unter ihnen aus dichtem Nebel langsam auftauchende Stadt, oder ob mit schlaftrunkenen und nicht mehr gesichtsfähigen nach innen gewendeten Augen, ließe sich heute jedenfalls nicht mehr feststellen. Schließlich wurde die Stille von Charlottens Stimme durchbrochen. “Was Hans uns erklärt hat, dass sich im Unrecht zu befinden erbaulich sein sollte, geht über mein Verständnis, denn ich habe lange Zeit, ach! es sind der Monate zu viele um sie zu zählen, im Unrecht verbracht, und jedes Mal, wenn ich bedenke, was ich getan habe und wer ich geworden bin, muss ich mich schämen.” “Ja,” antwortete Mathilde, “wenn man über sich und die Welt nachdenkt, und versucht sich zu vergegenwärtigen wer und wo man wirklich ist, dann kann man viel über Angst und Verzweiflung lernen. Dagegen schütze ich mich, indem ich sauber mache und aufräume. Vielleicht solltest auch du das Saubermachen und Aufräumen lernen um dich vor dem Nichts zu schützen.” Darauf sagte Charlotte, “Mein Beruf, meine Berufung, Mathilde, und bitte erlaube mir ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, offen und ehrlich mit dir zu reden, meine Aufgabe ist eine erstklassige sachverständige Prokuristin zu werden.” “Das erkenne ich an,” sagte Mathilde, “und bin entschlossen dir so gut ich kann dabei behilflich zu sein.” “Dann musst du es aber vermeiden mich abzulenken, wie zum Beispiel vor kurzem, als du deine Zauberflöte aus der Bluse zogst um Hans den Klempner-Theologen zu pfeifen.” “Da sind wir anderer Ansicht,” sagte Mathilde, “Hans hat uns an die Bedeutung des Gottes und des Göttlichen erinnert. Es ist unmöglich dieses Thema zu vermeiden. Einerseits, wenn man die herkömmlichen Lehren bejaht, wie etwa, dass Gott am Anfang die Welt geschaffen hat und seitdem fortfährt sie seiner Gesinnung entsprechend, oder nach von ihm entworfenen Gesetzen zu regieren, dass er am Ende der Zeiten ein Gericht veranstalten wird, wo er die guten Menschen, die seine Gebote gehalten haben, mit einem ewigen glücklichen seligen Leben in seinem Paradies belohnt; indessen er die bösen Menschen, die seine Gebote übertreten haben, in einer Hölle die er zu diesem Zwecke eingerichtet hat oder einrichten wird, mit ewigen Qualen bestraft; dann erscheint es mir von großer Bedeutung, dass ich die Gesetze für deren Befolgung wir mit ewiger Seligkeit belohnt werden aufs Zuverlässigste zu erkennen und aufs Genaueste zu befolgen lerne, um mich der versprochenen Seligkeit zu versichern, und den drohenden Höllenqualen zu entgehen. Und dann erscheint es mir auch von fast ebenso großer Bedeutung, die Umstände so zu gestalten, dass meine Gegner sich gegen mich durchzusetzen nur mit den höchsten vorstellbaren Kosten. Ich meine dass sie ihren Sieg über mich mit ihrer Seligkeit bezahlen müssen. Andererseits aber, wenn man diese herkömmlichen Lehren bezweifelt, dann stellt sich die Frage, die ebenso triftig, wenn nicht noch triftiger ist, was es über die Gesellschaft welche von diesen Lehren überzeugt ist, und mehr noch, was ihr leidenschaftlicher Glaube daran über die seelischen Verfassungen der einzelnen Mitgliedern dieser Gesellschaft besagt. Denn du musst einsehen, Charlotte, dass letzten Endes die Bewältigung der Prokura die du dir zum Ziel gesetzt hast, eine Begegnung mit Menschen einbezieht deren Geist und Seele zwar nicht zu richten, aber dennoch durchdringend zu erfassen, Voraussetzung für deinen Erfolg sein muss, wenn es so etwas wie Erfolg überhaupt gibt.” “Ich weiß es nicht,” sagte Charlotte und machte eine Pause. Dann fuhr sie fort: “Ich weiß es nicht, ob ich die Fragen die du mir stellst, beantworten kann.” “Das finde ich ist ein guter Anfang, denn er besagt, dass du die Problematik welche die Fragen darstellen nicht unterschätzt. Mir scheint diese Problematik sich in jedenfalls einem geringen Maße zu erschließen, wenn ich sie in den Bereich der Sprache übersetze.” “Wie meinst du das?” fragte Charlotte, “Kannst du mir ein Beispiel geben?” “Ja, das kann ich. Da ist, zum Beispiel, die Szene an die Hans uns erinnerte, wo der Gott sich in einen brennenden Busch versteckt, und eine namenlose Existenz beansprucht. Während wir das objektive Sein der Dinge an die Namen binden mit denen wir uns gegenseitig auf sie hinweisen, verlangt dieser Gott eine rein subjektive Existenz, in dem er die Benennung mit einem Namen ablehnt und verbietet. So wird ein existentielles Problem in ein semantisches übersetzt und findet in den Ungereimtheiten der Grammatik seinen Ausdruck. Ich muss gestehen,” fuhr Mathilde fort, “Hansens Deutung des Christentums, oder genauer, der christlichen Evangelien als post-traumatische Belastungsstörung dünkt mich als eine Exegese von außerordentlicher Empfindsamkeit, Klugheit und Intelligenz. Sie erklärt, rechtfertigt und beweist sich selbst. Lies sie mehere Mal um dich zu überzeugen.” Plötzlich war Hans zurückgekehrt und hatte von Neuem zu reden begonnen. “Das Wichtigste hab ich vergessen,” sagte er. “Das Wichtigste, zu erkennen, zu verstehen, und niemals zu vergessen, ist der Widerspruch. Da muss ich mich fragen, da frage ich euch, wie unterscheidet sich der Widerspruch von der Lüge? Wie verhält sich der Widerspruch zur Wahrheit? Ist Widerspruch seinem Wesen nach Lüge, dann verwandeln sich die Fragen. Es gibt viele Begriffsbestimmungen der Wahrheit. Wie verhält sich die Lüge zur Wahrheit? Die Erkenntnis der Lüge als Lüge ist wahr. Das ist eine Wahrheit. Es gibt eine Perspektive der Verzweiflung aus der die Lüge als Lüge die einzige Wahrheit ist. Denn die Wahrheit ist das Übereinstimmen der Sprache mit sich selbst. A ist A ist wahr. A ist B ist unwahr. Die Behauptung B wird A ist fragwürdig und verführerisch, denn sie stellt das Sein von B infrage.” “‘Ich bin hat mich gesandt’ ist ein Spiel mit der Sprache, welches besagt dass der welcher mich gesandt hat unwesentlich ist. Vielleicht hat mich keiner gesandt. Die Fragwürdigkeit ist eingebaut, ist der Geschichte eingelagert. Der Geschichte entnehme ich: auf den Höchsten ist kein Verlass. Heute meint er dies, und morgen meint er das. Erst setzt er euch ins Paradies, dann treibt er euch aus dem Paradies hinaus; erst bestimmt er, dass ihr euch vermehren sollt, dann ersäuft er euch wie überflüssige Kätzchen. Erst rettet er euch vor der Hungersnot nach Ägypten, dann rettet er euch von den Ägyptern mittels einer Flucht durch das gespaltene Rote Meer in eine Wüste wo euch das Verhungern droht. Erst verbietet er die Bilder, dann befiehlt er die Bilder als Rettung vor den giftigen Schlangen. Und was das Christentum anbelangt, so ist Golgatha der umgenannte Moriahberg. Erst mordet er seinen Sohn, dann lässt er ihn auferstehen und setzt ihn zu seiner Rechten in den Wolken um zusammen mit ihm auf Ewigkeit die Lebendigen und die Toten zu richten.” “Und das alles, muss ich ergebenst einwenden, das hat doch nichts mit der Oberprokura der Reichsregierungskammer zu tun,” sagte Charlotte mit einem Anflug von Empörung. “Da zeigst du uns, wie viel du noch zu lernen hast,” erwiderte Hans, “wie notwendig es war, dass ich kam, und notwendiger noch, dass ich wiedergekommen bin.” “Es gibt also doch ein zweites Kommen,” sagte Mathilde. KK 7. Kapitel KK << 4793 >> “Solange du die Theologie missverstehst,” begann Hans aufs Neue, und es war unklar an welcher der beiden Frauen er sich wendete, wenn nicht an beide, “solange du dich über die Erschaffung der Welt täuschst und über den Erlösertod, solange musst du dich über alles in der Welt täuschen. Erst wenn du den Sonnenaufgang begreifst, wirst du vermögen die erleuchtete Erde zu erkennen. Der Gott ist der prototypische Herrscher, und der Herrscher ist der prototypische Gott. Es steht geschrieben, Gott habe den Menschen nach seinem eigenen Bilde erschaffen. Ist's möglich, dass das umgekehrte der Fall wäre? Aber Jahwe ist ein eifersüchtiger Gott und kann den Pharaoh, mit dem er sich in gegenseitiger Konkurrenz befindet, nicht leiden.” “Dieselbe Dialektik, dieselbe Täuschung, dieselbe Unwahrheit, welche den Gott, sein Paradies, sein Auserwähltes Volk belastet, bedrückt, verdirbt, und heimsucht, und schließlich auch seinen ‘eingeborenen’ Sohn ermordet, ist letzten Endes menschlich, und befleckt alles Menschliche, auch die Reichsoberregierungskammer, die sich wie alles andere Menschliche, göttlich wähnt, und welche du, wenn du sie manipulieren, kontrollieren, ja wenn du sie beherrschen willst, zuerst zu verstehen gelernt haben musst. Betrachte die Oberprokura zu der du ernannt bist also als ein weiteres Stadium deiner Ausbildung.” Mit diesen Worten hatte sich der Klempner-Theologe verabschiedet. Nun war er zum zweiten Mal gegangen. “Du bist zu ungeduldig,” sagte Mathilde. “In die Aletheia hast du dich einschreiben lassen, weil du eine erstklassige Köchin werden wolltest. Da hast du dich eifrig den Sinnlichkeitsübungen unterzogen, denn als Köchin musstest du eine Geschmacksspezialistin, will sagen, eine Sinnlichkeitsspezialistin werden. Jetzt, als zukünftige Prokuristin, strebst du in noch höhere Regionen, wo bislang jedenfalls, kein weiteres Universitätsstudium, wie etwa in einer Aletheia, erforderlich ist, wo aber dennoch neue Fähigkeiten vorausgesetzt werden, die du dir aneignen musst, und in die es notwendig ist dich gewissenhaft einzuüben. Sei also geduldig, höre meinen Rat, und folge meinen Vorschlägen.” “Das Regieren kommt nicht von selbst,” fuhr Mathilde fort. “Es will gelernt sein. Der Falkner muss die Dressur seines Vogels geistig beherrschen. Der Kutscher muss verstehen wie er seine Pferde nach rechts lenkt und nach links, wie er sie zu schnellerem Trab anspornt, und wie er sie zum Halten zwingt. Der Regent muss wissen wie er seine Untertanen zum Gehorsam erzieht.” “Ich werde aber doch nicht Regent, auch nicht Regentin,” protestierte Charlotte. “Übrigens Regentin ist ein Wort das ich dir um deinen Wortschatz zu bereichern schenken möchte. Ich werde, sobald du dich entgegenkommend erweist, Prokuristin, genauer Oberprokuristin werden.” “Dass du behauptest eine Prokuristin sei nicht als eine Regentin zu betrachten, zeigt, dass du noch nicht weißt wovon du redest. Aber Karl wird es dich lehren. Jetzt pfeife ich auf meiner Hundepfeide, und dann wird Karl sofort erscheinen.” Und eh Charlotte Gelegenheit hatte Mathilde um Einhalt zu ersuchen, waren Mathildes drei starke Pfiffe, lang-kurz-lang, verstrichen. Charlotte hatte nichts als flüchtige unbestimmte Töne hören können. “Also erklär mir,” forderte Charlotte, “wer es ist nach dem du da gepfiffen hast.” “Ich habe Lang-kurz-lang gepfiffen. Das ist das K Symbol im Morsealphabet. K ist für Karl.” “Und wer ist Karl und was weiß Karl über die Tätigkeit einer Prokuristin?” “Karl ist Regierungsberater. Sein Nachname ist Folterer, denn Foltern ist seine Spezialität. Er behauptet der Zwang wäre das unabdingbare Prinzip des Regierens, und die Folter wäre das ursprünglichste, bündigste Instrument des Regenten womit er den Untertan zum unerlässlichen Gehorsam zwingt. Aber Karl ist nicht nur Folterconnaisseur; auch in anderen Branchen der Regierungskunst kennt er sich aus." “Was fällt dir ein?” sagte Charlotte. Sie war empört. “Ich will mit Foltern nichts zu tun haben.” “Wenn du erst Prokuristin bist, wirst du dem Foltern nicht entgehen können, nicht nur als Folterin, wenn du mir erlaubst, um mich bei der Frauenfreiheitsbrigade beliebt zu machen, ein neues Frauenwort zu münzen, sondern auch als Gefolterte.” Inzwischen war Karl erschienen, und beanspruchte ohne zu zögern des Sachverständigen Vorrecht des Besserwissens. “Das Foltern und das Gefoltert werden ist nicht nur die endgültige Regierung über den Menschen mittels des Quälens des Körpers, wie es sich, ohne dabei auch nur einen Augenblick Schlaf zu verlieren, die Verfasser und die Nutznießer der Theresiana vorstellen; es gibt auch ein Quälen der Seele wie du es in der Aletheia erlebt hast, um die geistige Quälerei die in Kant- und Heideggerseminaren und in den Vorlesungen über Quantenmechanik wie sie auf den Universitäten praktiziert werden, nicht unerwähnt zu lassen." “Von der Theresiana hab ich noch nie gehört,” erwiderte Charlotte. “In der Aletheia aber, hab ich neun Monate verbracht. Die Bezeichnung dessen was dort geschieht mit dem Wort Folter, möchte ich bestreiten. Wer einsichtig ist und ehrlich, wird zugeben, dass die Schülerinnen in der Aletheia als Belohnung für die zugegeben anspruchsvollen Übungen die von ihnen verlangt werden, abgesehen vom Schutz vor der Sittlichkeitspolizei, verschiedene andere Vergünstigungen genießen. Die Folter der kantschen Philosophie und der Quantenmechanik die du erwähnst ist mir erspart geblieben, weil ich zu dumm war - wenn nicht zu klug - um mich je mit ihr eingelassen zu haben.” “Scheinbar bist du auch klug genug zu verstehen was ich meine, wenn ich darauf hinweise, dass es die Absicht der Regierung ist, auf die Untertanen Zwang auszuüben. Mit wieviel Schmerz das verbunden sein möchte, was solcher Schmerz ist, und wie der Mensch durch den Schmerz den er übersteht, verwandelt wird, ist ein weiteres, ein weites Feld.” “Das unmittelbare Thema aber finde ich,” erklärte Charlotte, die sich vorkam wie aus einem Traum wenn nicht aus einem Albdruck zu erwachen, “ist der Missbrauch der Sprache, will sagen der Missbrauch des Geistes, den du dir erlaubst, wenn du das Foltern in so leichtfertiger und verantwortungsloser Weise zitierst, als wäre es etwas Alltägliches. Ich betrachte das Foltern als etwas so Entsetzliches, dass ich mich schäme, das Wort überhaupt in den Mund zu nehmen.” “Das kommt davon, liebe Charlotte,” sagte Karl, “dass die Vorstellung, auch du möchtest vielleicht einst gefoltert werden, bei dir eine Angst auslöst, die so unerträglich ist, dass du sie verdrängen musst. Oder vielleicht ist's auch der verwandte Gedanke, dass es auch dir nicht unmöglich wäre, eine Folterin zu werden, der dich quält. Vorstellungen die mit so gewichtigen Gefühlen behaftet sind, sei es von Angst, von Furcht oder von Scham, entziehen sich unserem Verständnis, und somit jeglicher Analyse und jeglicher Beschreibung. Erinnere und vergiss es nicht, mit welch leidenschaftlicher Genugtuung, ohne auch nur eine Spur des Mitleids, der größte Dichter des Mittelalters, Dante Alighieri, die Qualen der Hölle besungen hat, jener Hölle welche er als die Folterkammer des liebevollen Gottes deutete, umso entsetzlicher weil die Qualen dort, nicht zwecks Erpressung von Geheimnissen oder Zugeständnissen, sondern um ihrer selbst willen, zugefügt wurden; in ihrer Weise, l'art pour l'art, la peine pour la peine, le tourment pour le tourment, la torture pour la torture. Es ist anzunehmen dass sich der Urheber der Qualen an den Schmerzen die er seinen Opfern zufügte, erfreute, weil er sich tatsächlich an ihnen erbaute.” “Du übersiehst,” fügte Mathilde hinzu, "dass Dante die Höllenqualen als Strafe für die Vergehen der Bösewichter zitierte; es schienen ihm notwendige Maßnahmen um deren Missetaten zu vergüten, und um eine Welt welche die Übeltäter fast bis zum Kentern entstellt hatten, aufs Neue zu richten und wiederherzustellen, und somit die Vollkommenheit dieser, der denkbar besten aller möglichen Welten, zu gewährleisten.” Ohne sich von Mathildes Gelehrsamkeit ablenken zu lassen, fuhr Karl fort, “Die Tatsache ist, dass so weit wir die Vergangenheit zu erforschen vermögen, die Anwendung von Gewalt, um vom Foltern abzusehen, den Regierenden durchweg unerlässlich schien. Lediglich mit den Instrumenten der Liebe und Nachsicht zu regieren, ist keinem Herrscher je gelungen.” "Ich hab’ dich hergepfiffen,” fuhr Mathilde fort, “nicht um Charlotte mit den Grausamkeiten des Folterns zu ängstigen, sondern um sie mit den Vorgängen unsrer gegenwärtig waltenden Reichsregierungskammer bekannt zu machen, und es ihr zu ermöglichen so bald wie möglich ihre Tätigkeit als Oberprokuristin anzutreten.” “Nominell”, begann Karl, “besteht die Reichsregierungskammer aus drei Geschäftsmitgliedern: dem Vorsitzenden Herrn Schenkmir, und neben ihm, Herrn Durstig und Herrn Freundlich. Hinzu gehören zwei weitere Rechtsmitglieder, Herr Theresian und Fräulein Gleich. Die technische Leitung wird von Herrn Zehplus gehandhabt. Der Justizminister ist seine Ehrwürden, Herr Richter Lemuel Adams.” “Mit dem Richter Adams,” erwiderte Charlotte, “bin nun ja hinlänglich vertraut. Vermutlich werde ich auch meinen anderen Vorgesetzen bei Gelegenheit vorgestellt.” “Nein,” sagte Mathilde, “da hegst du eine verkehrte Vorstellung. Ausgerechnet um dich eines Besseren zu belehren, hab ich ja Karl herbeigepfiffen. Der verfügt über den tiefsten Einblick in die Reichsregierungskammer. Er versteht die Lage am gründlichsten.” “Und das sollte heißen?" fragte Charlotte. "Die fünf zuständigen Reichsregierungskammermitglieder sind nur Attrappen.” war Karls umgehende Antwort, “Sie sind Schauspieler deren Funktion es ist ...” “Natürlich,” unterbrach Charlotte, “eine Rolle zu spielen, da sie Schauspieler sind.” “Auch in diesem Punkt,” sagte Karl, “muss ich dich leider verbessern; denn die Aufgabe der besagten Fünf ist nicht eine Rolle zu spielen, sondern lediglich zu scheinen, sich so zu betragen, als ob sie es täten.” “Das geht mir zu weit,” sagte Charlotte, “da komme ich nicht mit.” “Das genau ist die Absicht der Reichsregierungskammer. Keiner kommt mit, alle sind sie getäuscht.” “Wer sind ‘sie alle’ die getäuscht sind?” fragte Charlotte. “Die ungezählten Menschen, die ungenannten Gesellschaftmitglieder, die Bürger, die Wähler sind es, die man beabsichigt zu täuschen, und die getäuscht werden, weil sie getäuscht sein wollen.” “Und warum wollen sie getäuscht sein?” fragte Charlotte. “Weil die Täuschung sie zufrieden stellt und gar glücklich macht. Die Täuschung ist ihnen eine Lebensbedigung in deren Abwesenheit sie sterben müssten.” “Und worin sind sie getäuscht?” fuhr Charlotte fort. “In allem,” gab Karl zur Antwort. “Du meinst die Wahlen sind betrügerisch?” “Das auch, aber in einem weit tieferen Sinne als du es dir vorzustellen vermagst.” “Wie kannst du wissen, was ich mir vorzustellen vermag?” “Zugegeben, zu wissen vermag ich es nicht. Es zu vermuten aber vermag ich nicht zu vermeiden.” Hier schob sich Mathilde in die Auseinandersetzung. “Ihr streitet ja wie ungezogene Kinder.” Sie wandte sich zu Karl, “Nun erklär doch schlicht und einfach, worin die Bevölkerung sich täuscht.” “Sie täuschen sich, indem sie meinen, dass ihre Worte Wirklichkeit stiften, dass ihrer Sprache Wahrheit anhaftet.” “Und was hat das mit Regierung zu tun? Das beantworte bitte als Regierungssachverständiger,” verlangte Charlotte. “Im Grunde täuschen sie sich mit der Voraussetzung, dass sie ihre Wünsche, ihre Bedürfnisse, ihre Entscheidungen, in Worten zum Ausdruck bringen können. Was sie mit der Sprache beschreiben, was sie mit Worten beanspruchen, wird ihnen zum trügerischen Ersatz für die Wirklichkeit. Der Inbegriff ihres Missverstehens ist die politische Wahl, wo ein jeder meint es wäre möglich die eigenen Absichten mit den Absichten der Mitmenschen zu verschmilzen, um eine errechenbare Stimmenmehrzahl festzustellen, und sich in Zusammenwirkung mit den vielen anderen Menschen, Vertreter zu wählen, welche die eigenen an seine vielen Mitmenschen angepassten Wünsche zum Ausdruck bringen und verwirklichen werden, und sich somit eine gemeinsame Regierung zu beschaffen. Die Volkswahl ist der Inbegriff des Herdengeistes. Diese vom Volk erwählten Vertreter erscheinen nun als die Reichsregierungskommissare, denen der Einzelne sich zu unterwerfen hat, weil sie vom Volk gewählt sind. Welche eine Unmöglichkeit! Welch ein Unsinn!” “Dass die herkömmliche Politik, wie du sagst, ein Unsinn ist, gebe ich dir zu,” sagte Charlotte, “aber was rätst du, soll man an seine Stelle setzen? Bist du der Ansicht, dass die Regierung unsinnig ist in einem Maße, dass überhaupt keine Regierung besser wäre, als jede die sich ausmalen lässt.” “Vorerst,” antwortete Karl, “erlaube mir dich für deine Scharfsinnigkeit, für dein Verständnis zu loben.” “Das ist überflüssig,” unterbrach ihn Charlotte, “denn ich bin in hohem Maße mit mir selber zufrieden.” Doch Karl fuhr fort, als hätte er sie nicht gehört: “Ich weiß keine endgültige Antwort, ich kenne keine Lösung. Aber ich beobachte, dass ausgeklügelte, erzwungene vermeintliche Lösungen unhaltbar, dass sie widersinnig sind, insofern als sie statt die Problematik zu beseitigen, diese vervielfältigen, indem sie das eigentliche Problem mit scheinbaren Lösungen verdecken und es in ihnen verstecken.” “Was soll ich tun?” fragte Charlotte, “Oder vielleicht grundlegender, was soll ich denken?” Eine Stille befiel den geräumigen Oberprokurasaal mit den vielen leeren Dokumentenschränken. Die Prokuristenkandidatin und ihren beiden Berater schwiegen. Schließlich durchbrach Karl das Schweigen. “Eine Lösung vermag auch ich nicht anzubieten, obgleich ich mich als Sachverständiger gemeldet habe. Ich möchte dir aber die Situation wie ich sie sehe, beschreiben. Eine Lösung will sich nicht ausklügeln lassen. Aber wenn wir Glück haben, wird sie dann und wann von selbst erscheinen.” “Da wäre ein wenig Hilfe von dir nicht unangebracht,” bat Charlotte. Karl überlegte. Dann sagte er, “Ich glaube der unmittelbarste Zugriff auf diese Problematik ist die Erläuterung der Sprache durch die wir uns verständigen und auf deren Verlässlichkeit wir bauen.” “Mit diesen Plattitüden kommst du nicht weiter,” erwiderte Charlotte, und fuhr fort: “An diesen Plattitüden wirst du, wenn du nicht vorsichtig bist, zugrunde gehen,” hatte sie gesagt, war selbst von ihrer Kühnheit erstaunt, und fuhr fort: “Bitte, gib mir ein Beispiel.” “Vermeintlich beabsichtigt man dich Oberprokuristin zu ernennen. Da sollte man meinen es gäbe dir untergeordnete Prokuristen oder Prokuristinnen. Die aber gibt es nicht.” “Dann muss ich eben alles allein machen. Das traue ich mir zu. Das kann ich auch.” “Nein, liebe Charlotte,” sagte Karl mit einem Ton und Anflug von Fürsorge und Mitleid. “Erinnere was ich dir eben zu erklären versuchte. Du kannst nichts glauben, kannst dich auf nichts verlassen. Auch nicht darauf dass man dich zur Oberprokuristin ernannt hat, auch nicht auf die scheinbar selbstverständliche Annahme, dass es überhaupt ein solches Amt, eine Prokura gibt.” “Aber nun frage ich dich, Karl, wenn keine geschriebenes, wenn kein gesprochenes Wort glaubwürdig ist, warum sollte ich dann ausgerechnet dir meinen Glauben schenken? Ich tue was ich will. Wenn es, wie du behauptest keine Prokura gibt, dann erfinde ich sie, dann entdecke ich, dann behaupte ich sie. Ich werde mich so betragen als ob ich die Oberprokuristin wäre, selbst wenn du behauptest das es so etwas überhaupt nicht gibt. Wenn kein anderer es tut, werde ich selber mich zur Oberprokuristin machen, bis alle Leute glauben und zu erkennen meinen dass ich eine solche bin. Und wenn dann einer ankommt, so wie etwa du, und behauptet dass es keine Prokura gibt, dann werde ich dastehen und lebendiger Beweis sein, dass er im Unrecht ist, weil ich ihm zum Trotze Oberprokuristin geworden bin." Das war Charlottens Erwiderung. “Du bist ein sehr kluges Mädchen,” sagte Karl. “Du hast mich vorzüglich verstanden, und hast die Absicht ausgesprochen meinem Rat entsprechend zu handeln. Und indem ich dir gratuliere, empfehle ich mich.” Als Charlotte die Augen aufschlug, und im Zimmer umherblickte, war Karl verschwunden. “Ach,” sagte sie, “Er ist schon weg. Ich hätte sogern ihn noch wegen diesem und jenem befragt.” “Auch dazu wirst du noch Gelegenheit haben,” sagte Mathilde, “denn Karl kommt wieder. Er ist im Grunde ein Schauspieler der vom unerwarteten Auftritt nicht weniger als vom unerwarteten Abgang Genugtuung schöpft. Mach dir betreffs deiner Fragen an ihn Notizen, damit du dich im gelegenen Augenblick an sie zu erinnern vermagst.” “Tatsächlich,” klagte Charlotte, “hat Karl das Wesentliche weswegen du ihn herbeigepfiffen, verschwiegen.” “Wieso?” fragte Mathilde. “Ja, war es denn nicht die Absicht, dass er mich wegen der Ausübung des Oberprokuristinnenamtes unterweisen sollte?” “Das hat er auch getan,” erwiderte Mathilde, “und ich finde in der bündigsten Weise.” “Er hat aber garnichts getan. Mit nicht einem einzigen Wort hat er mir gesagt, was ich zu tun habe, was von mir erwartet wird.” “Genau,” sagte Mathilde, “Ist es dir nicht eingefallen, dass er vielleicht es unterlassen hat dich deiner Aufgaben zu belehren, weil es keine solchen Aufgaben gibt, es sei denn als Vorzeigekind für die Regierungsordnung zu dienen?” “Wie muss ich mich schließlich als Vorzeigekind benehmen?” “Das sei dir überlassen. Deine ledigliche Aufgabe ist zu scheinen.” “Also gut. Ich pflichte dir bei. Nun aber bitte zeig mir den Raum, das Gemach, die Kammer, wo die Herren und die Dame Reichsregierungs ..., wie heißen sie?” “Ein jeder Name den du für sie aussuchst, wird passen.” “Also zeig mir die Kammer. Du bist doch die zuständige Reinemachefrau, und als solche musst du über Zugang verfügen, musst die Schlüssel haben.” “Wie kannst du wissen ob ich vielleicht nicht nur die Vorzeigereinemachefrau bin? Tatsächlich aber gibt es keine Schlüssel, denn die Reichsregierungskammer, wenn sie überhaupt existiert, ist nie verschlossen.” Mit diesen Worten drückte Mathilde die Klinke einer der verschiedenen in die Wand gelassenen Türen, die sich wie von unsichtbarer Schwerkraft gezogen, lautlos öffnete. Charlotte schritt ohne Bedenken und ohne Aufforderung von Seiten Mathildes durch die Tür in die leere Reichsregierungskammer. Kaum war sie eingetreten, dass sie stutzte, sich wendete, und sich mit gedrehtem Kopf bestätigte, dass die Tür durch welche sie soeben eingetreten, noch offen war. Vergebens versuchte sie auszurechnen, wie viele Tage vergangen sein möchten, seit Georg auf des Richter Adams Befehl sie in das kleine Nebenzimmer in der Aletheia eingesperrt hatte, um dem Richter die Gelegenheit zu bieten sie überall wo es drauf ankam zu betasten und zu streicheln. Warum sollte ähnliches nicht auch hier geschehen. Und weh getan hatte es eigentlich auch nicht. Aber demütigend war es dennoch, und nicht nur gewesen, sondern war es noch immer. Einer Wiederholung vorzubeugen, bewegte Charlotte sich mit schnellen, entschlossenen Schritten zur der Tür durch welche sie eingetreten war. Mitten im Türrahmen blieb sie stehen und stemmte sich mit beiden Armen gegen seine Laibungen, als ob gesonnen sich selbst zu schützen und Mathilden den Einlass zu verwehren, wobei es ihr entgangen war, dass Mathilde sich schon jenseits der Tür, inmitten der Reichssregierungskammer befand, und, als um zu beweisen, dass sie mehr als eine Vorzeigereinemachefrau war, begonnen hatte von dem großen runden Konferenztisch mit den Namensschildern der fünf abwesenden Reichsregierungskommissaren den ebenfalls abwesenden Staub zu wischen. Da unterbrach Mathilde ihre Tätigkeit, richtete ihre Augen auf Charlottens in den Türrahmen gestemmte Gestalt, und sagte abschätzig, “Du hast wohl Bedenken, ich möchte dich hier einschließen wie Georg es in der Aletheia gemacht hat, um dem Richter Adams die Gelegenheit zu geben dich hier und dort und da zu befühlen. Da brauchst du wirklich keine Angst zu haben, denn Adams sitzt seit zwei Stunden im Gefängnis.” “Wie kommt denn das? Was hat er getan? Was ist geschehen?” Charlotte war bestürzt. Die Fragen fuhren ihr so ungebändigt aus dem Munde, dass sie von der Möglichkeit beschlichen wurde, ob sie nicht vielleicht doch in den alternden Mann verliebt war. Doch zur Entfaltung dieses Gedankens gab Mathilde ihr keine Gelegenheit, denn deren Geschichte schien unaufhaltsam. “Es war seine Frau die den Richter Adams angezeigt hat, denn er hatte sie in die Irrenanstalt einliefern lassen, um in seinem, nein, in ihrem Hause ein freies Feld für Tändeleien mit einer anderen zu haben.” Mathilde hielt ein und überlegte. Dann sagte sie: “Vielleicht weißt du etwas davon?” Charlotte antwortete: “Du scheinst aber wirklich, auch ohne meine Beiträge, alles zu wissen.” Mathilde ließ diese milde Rüge unbeachtet und fuhr fort. “Die Frau Richter, sie heißt Anneliese Stark, hat nie ihres Mannes Namen angenommen. Sie hat beide, ihren Mann und dessen junge Freundin, aus ihrem Hause geschmissen, denn das Haus war ihr Eigentum; sie hatte niemals einen Anteil an ihren Ehemann verschenkt. Angezeigt hat Anneliese ihren Mann nicht wegen des Ehebruchs, denn ich vermute sie wollte ihren Mann sowieso loswerden, sondern wegen seiner wiederholten Anflüge sich mit ihr zu versöhnen. Sie hat ihn verklagt weil er verschiedene Male gegen ihren Willen versucht haben soll sie zu umarmen und auf die Stirn zu küssen.” “Aber die beiden waren doch verheiratet,” wendete Charlotte ein. “Das macht nichts,” sagte Mathilde, “Vielmehr, es macht alles noch viel schlimmer.” “Das verstehe ich nun aber garnicht,” sagte Charlotte. “Dann wird es höchste Zeit, dass du zu verstehen lernst, jedenfalls wenn es dein Ernst ist, die Stelle als Oberprokuristin die man dir angeboten hat, anzunehmen.” “Was hat das dann aber mit mir zu tun?” fragte Charlotte. “Alles, alles hat es mit dir zu tun, denn als Oberprokuristin ist der Richter dir untergeben, und da es ihm, sogar in diesem Staat, verwehrt ist sich selbst zu richten, das heißt, in diesem Falle, sich selber frei zu sprechen, so wird ein solcher Freispruch als Oberprokuristin dein Vorrecht, vorausgesetzt natürlich dass du bereit bist die Stelle anzunehmen, und dass das Angebot das man dir machte, nicht zurückgezogen wird.” Jetzt fühlte Charlotte sich vollkommen durcheinander und stemmte sich umso fester in den Türrahmen. “Es ist alles so überraschend,” sagte sie, “fast scheint es mir zu viel. Ich brauche Zeit mir alles zu überlegen. Die habe ich doch, oder nicht?” Auf ihre Frage war längere Zeit ohne eine Antwort, waren vielleicht mehrere Minuten vergangen, allenfalls ohne eine Antwort die Charlotte vernommen, es sei denn, dass Charlotte diese Antwort denn doch gehört aber schon wieder verdrängt wenn nicht vergessen hatte. In ihrer Ungewissheit wiederholte Charlotte die Frage, laut und eindeutig, "Ich brauche Zeit mir alles zu überlegen. Die habe ich doch, oder nicht?” und dieses Mal eichte sie ihr Gemüt aufs genaueste die Ankunft einer Antwort zu registrieren. So wartete sie mit abgestimmten Ohren, und wartete dann noch länger auf Antwort und je länger sie wartete, desto unverkennbar war es, dass sie keine Antwort gehört, und demgemäß keine Antwort bekommen hatte. Noch immer stand sie im Türrahmen mit dem Blick ins Oberprokurazimmer gerichtet; dabei war ihr Rücken dem Reichsoberregierungskabinett gekehrt wo sie zuletzt Mathilde beim Staubwischen der Oberfläche des glänzenden Oberregierungskonferenztisches beobachtet hatte. Da sich aber auf dieser Fläche auch nicht der geringste Hauch von Staub befunden hatte, musste Mathilde ihre Reinigung längst beendet haben. Und als Mathilde immer noch nicht antwortete, wiederholte Charlotte ihre Frage ein drittes Mal: "Ich brauche Zeit mir alles zu überlegen. Die habe ich doch, oder nicht?” Sie bekam aber auf ihre Frage auch dies dritte Mal keine Antwort. Schließlich wurde sie von der Vorstellung bewältigt, dass Mathilde fort war, aber wie und wohin hätte sie nicht zu sagen vermocht. Es blieb Charlotte also nichts übrig als die in den Türrahmen verkrampften Glieder zu entspannen, und sich zu wenden. Nun lag ihr das Reichsregierungskabinett von einer Ecke zur anderen, von der Fensterwand rechts zu den in die linke Wand eingelassenen Türen, völlig in Sicht. Auf der runden Tischfläche vermochte Charlotte auch jetzt nicht den geringsten Hauch von Staub wahrzunehmen. Was aber tatsächlich dort lag war die Hundepfeife mit welcher Mathilde erst Hans und dann Karl herbeigepfiffen hatte. Vermutlich war als Mathilde sich zu Reinigung über den Tisch gebeugt hatte, die Zauberpfeife ihr aus der Bluse gefallen, oder, nein, wahrscheinlicher noch, Mathilde hatte die Hundepfeife absichtlich dort hingelegt. Vermutlich hatte Mathilde die Hundepfeife Charlotte vermacht, hatte sie ihr als Geschenk einer erfahrenen Reinemachefrau an eine künftige Reinemachefrau zurückgelassen. Jetzt erinnerte Charlotte eindringlich, wie Mathilde sie gewiesen hatte aufzuräumen, sauber zu machen, sich im Reinemachen zu üben, und schließlich selbst eine Reinemachefrau zu werden. Charlotte blickte umher. Tatsächlich war es das erste Mal seit Chuck der Polizist sie vor mehreren Stunden hier abgeliefert hatte, dass sie sich allein befand. Dies war kein Grund zur Klage. Die Unterweisungen von Hans, dem Klempner-Theologen, und Karl dem Regierungsberater, - oder dem Regierungssachverständigen - waren zureichend anstrengend gewesen. Charlotte hatte guten Grund und bedurfte keiner Entschuldigung sich auszuruhen. Aber auf welchem Stuhle? Da stand der runde Tisch, blank und poliert, bar jeglichen Staubflöckchens, mit einem Stuhl für einen jeden der fünf Oberregierungsbeamten. Keinen davon durfte sie in Beschlag legen, denn sie musste voraussetzen, dass demnächst alle fünf der Reichsregierungskammermitglieder zusammen erscheinen würden, und ein jeder würde seinen Platz beanspruchen. Zugleich aber fand sie es unbedingt notwendig, dass auch sie selber, Charlotte Graupe, als Oberprokuristin an diesem Tisch ihren eigenen Platz haben sollte. Um dies zu bewerkstelligen war es lediglich nötig die fünf Stühle etwas näher aneinander zu rücken, und einen der im Umkreis stehenden Stühle, die tatsächlich von den am Tische sich befindenden ununterscheidbar waren, hinzuzuziehen. So würde aus einem Pentagon ein Hexagon, aus einem fünfzackigen Stern, ein sechszackiger werden, nichts geringeres als ein Davidstern. Und wenn auch nur einer der Reichsregierungskammermitglieder, oder gar alle fünf, an einem sechszackigen Davidstern Anstoß nämen, so sagte jetzt Charlotte so laut dass sie es alle, wäre auch nur ein Einziger anwesend gewesen, hätten hören können. "Wo ich Oberprokuristin bin, gibt es keinen Antisemitismus. In meinem Staate soll jeder nach seiner eigenen Façon selig werden." Charlotte hob einen der umherstehenden Stühle und setzte ihn mit großer Vorsicht, um das Parkett nicht zu verkratzen, in die Lücke die sie geschaffen hatte. Mit den Augen schätzte sie die gleichmäßige Verteilung, und war mit ihren Bemühungen zufrieden. Sie setzte sich auf den Stuhl welchen sie herangezogen hatte, bedachte die Tatsache, das der Stuhl an jeder Spitze dieses Sechsecks als der Oberste gelten möchte, einbeschlossen des Stuhles auf welchen sie selber saß; und besonders dieser. Es war eine Einsicht welche sie so sehr befriedigte, dass sie einschlief. Sie träumte. Sie träumte, dass Karl zurückgekehrt wäre und ihr nicht als Regierungssachverständiger sondern als Regierungsvertreter gegenüber säße, und dass er zurückgekommen wäre um mit ihr zusammen zu regieren. Karl aber sagte nichts. Er schwieg eine so beträchtliche Zeit, dass Charlotte sich ihm ins Gesicht blickte um festzustellen, ob er vielleicht eingeschlafen war. Als die Blicke der beiden sich trafen, wusste Charlotte, dass sie erwacht war, und als sie hörte wie Karl zu reden begann, war sie dessen sicher. "Das Wichtigste," sagte er, "hätte ich fast vergessen." "Und was wäre das?" fragte Charlotte. "Die Sprache," sagte Karl, "die Sprache." "Aber wie kannst Du sagen, du hättest die Sprache vergessen. Ist nicht die Tatsache, dass du sprichst, das bündigste Zeugnis, dass die Sprache dir gegenwärtig ist?" "Ach, ich hätte sagte sollen, die Bedeutung der Sprache. Ich meine entdeckt zu haben, dass wir die Sprache grundsätzlich falsch verstehen." "Das musst du mir erklären." "Vorerst bedenke wie flüchtig und veränderlich das Denken, das Fühlen und das Bewusstsein eines jeden Einzelnen von uns ist. Die Sprache verleiht dem Geist des Einzelnen eine Bestimmtheit die er anderweitig entbehrt. Sie tut dies in doppelter Weise: vorerst weil sie im Gedächtnis haftet. Das Wort das ich heute ausspreche erinnere ich, halte ich in meinem Gemüt, als dasselbe das es gestern, das es vor einer Woche, vor einem Jahre war. Zugegeben, das Leben, das Erleben, verwandelt sich im Verlauf der Zeit, und machmal sehr schnell. Aber insoweit es an die Sprache gebunden ist, besonders wenn es von der Sprache hervorgerufen wird, erscheint das Erleben als beständig, eben weil die Sprache beständig ist. Wegen dieser Beständigkeit, wegen dieser Verlässlichkeit, ist die Sprache der Maßstab des Wahren. Vielleicht sollte ich meine Ausführungen verallgemeinern und statt nur von Sprache, von Symbolik berichten, und somit die Mathematik neben der Sprache als zweiten Pfeiler der Beständigkeit einbeschließen. Das Wichtige ist zu erkennen, dass Beständigkeit und Wahrheit in unserem Dasein nicht an sich bestehen, sondern erst von der Symbolik geschaffen werden, und somit auf das Erleben: a) welches von der Sprache hervorgerufen wird, und b) auf welches mit der Sprache hingewiesen wird, einen täuschenden Schein von Beständigkeit, Gültigkeit und Wahrheit werfen." Indessen fuhr Charlotte fort zu schweigen. Es musste unbestimmt bleiben, ob sie überhaupt zuhörte. Karl aber fuhr fort, “Es gilt, und es ist von erheblicher Notwendigkeit, zwischen der Gültigkeit, um den Ausdruck Wirklichkeit zu vermeiden, zwischen der Gültigkeit der Sprache und der Gültigkeit des Erlebens zu unterscheiden. Die Gültigkeit der Sprache ist zwar auch individuell, ist aber ihrem Ursprung und Wesen nach eine gesellschaftliche Erscheinung, indessen die Gültigkeit des Erlebens eine ausschließlich individuelle Erscheinung ist, welche sich nicht bestimmen lässt, geschweige denn dass sie sich erhalten oder gar mitteilen ließe.” Zuletzt entgegnete Charlotte, "Ich meine dich zu verstehen," sagte sie, "bis auf ein Wort das mir entgeht." "Und das wäre?" fragte Karl. "Der Ausdruck 'Erleben'. Das ist ein Wort dessen du dich immer und immer wieder bedienst. Du heißt zwar nicht Konrad Duden, trotzdem, bitte, gib mir eine Begriffsbestimmung.” “Die Tatsache, dass dich ausgerechnet das Wort 'Erleben' bekümmert, besagt dass du bei deinem Unverständnis dem Verständnis nahe bist, denn Erleben ist ein Wort welches hinweist auf die Einzigartigkeit der Wahrnehmungen eines jeden Menschen als Einzelnen unterschieden von den gemeinschaftlichen Welten die ihn umgeben und in denen er waltet. Es ist genau diese Einzigartigkeit welche die Sprache aufzuheben bestrebt, und - dies ist das Wichtige das du lernen musst, - dass bei diesem Bestreben die Sprache teils Erfolg und teils Versagen erntet." "Und was," fragte Charlotte, "haben diese deine vermeintlichen Einsichten, mit dem Amt der Oberprokuristin das ich im Begriff bin anzutreten, zu tun?” “Sie weisen auf die Vieldeutigkeit der Sprache," sagte Karl, “und so sind sie der Schlüssel zur erfolgreichen Verwaltung deines Amtes. Die Vieldeutigkeit der Sprache liegt nicht nur den Gesetzen, den Regierungen, sondern sie liegt tatsächlich allen zwischenmenschlichen Beziehungen zugrunde.” "Also wirklich," sagte Charlotte, "aber nur dir zu Liebe will ich zugeben, will ich sogar behaupten, dass ich dich verstehe, wobei die Wahrheit ist, dass ich nicht festzustellen vermag, ob du den gröbsten Unsinn plapperst oder die höchste Weisheit verkündest, ob du also ein schmieriger intellektueller Hochstapler bist oder ein fast übermenschlicher Prophet." Karl ließ diese rühmende Abschätzung schweigend über sich ergehen. Dann sagte er, "Meinst du, dass zwischen den beiden ein Unterschied besteht?" "Weißt du," sagte jetzt Charlotte, "ich glaube du willst mich für dumm verkaufen, oder du bist verrückt." "Wieso die Alternative?" fragte Karl, "Meinst du wirklich dass sie notwendig ist?" "Ich habe genug, nein, ich habe schon viel zu viel von deinen miserablen Redereien gehört. Erklär mir bitte, was meine Amtspflichten als Oberprokuristin sind und wie ich sie zu erfüllen vermag." "Du widersprichst dir,” sagte Karl. “Du erzählst in ein und demselben Atemzug von meinen miserablen Redereien und bittest um Erläuterung, wo doch meine Worte von Anfang an ausdrücklich dazu abgestimmt sind dich aufzuklären.” “Meine Geduld ist zu Ende,” sagte Charlotte und ergriff die Hundepfeife die vor ihr auf dem runden Oberkammergerichtstisch lag. "Wenigstens zeig mir, wie diese Zauberflöte benutzt wird; denn offensichtlich ist, dass ohne ihr Lockruf in diesen heil’gen Hallen nichts geschehen wird. Hier sehe ich zwei Schieber. Wie muss ich sie einstellen, um alle fünf Regierungsmitlieder einzuberufen?” “Leider,” sagte Karl, “vermag ich dir nicht behilflich zu sein, denn obwohl man mich von Zeit zu Zeit mittels dieses Instrumentes zu Rat zieht, hab ich nie Gelegenheit gehabt mich dessen zu bedienen.” Charlotte war sichtlich verärgert. Sie sandte Karl einen zornigen Blick, setzte die Hundpfeife welche sie vor kurzem aufgegriffen hatte an ihre Lippen und blies aufs Heftigste. Ein schrilles, helles Kreischen widerhallte von den Wänden der Oberregierungskammer, so laut, dass Charlotte zuckte, und vor Schrecken den Mund aufsperrte, so dass die Hundezauberflöte auf den Tisch an dem Charlotte saß niederfiel und an zu rollen fing. Doch gelang es Charlotte das mysteriöse Instrument als es sich der Tischkante von wo es fast zu Boden gefallen wäre näherte, mit zitternder Hand aufzufangen. “Das war aber laut,” sagte Charlotte als wäre es ihr ein Bedürfnis von Karl Genehmigung für ihr ungestümes Vorgehen zu erheischen. Der aber sagte nur, “Das kommt davon.” Wie als Antwort auf diese Erklärung sammelten sich in Charlottes Gemüt die Fragen, was es denn sei, das komme, wovon und wohin es gehe. Doch eh diese Unbestimmtheiten sich im Ausdruck befestigten, öffnete sich an der entlegenen Wand die mittlere der sieben Türen und in die Oberregierungskammer schob sich eine männliche Gestalt von außerordentlicher Erscheinung, denn zwischen zwei großen weitabstehenden Ohren wölbte sich eine hohe, breite, kugelförmige Glatze. Bis auf die flachen fast wie gestriegelten hellroten Augenbrauen, war kein einziges Haar an diesem Kopfe zu sehen. Der Mann trug einen langen dunkelblauen weit aufgeknöpften Kittel, unter dessen offenem Vorderspalt ein enganliegendes weißes Hemd mit den großen fetten schwarzen Buchstaben IT bedruckt, zu sehen war. "Ich stehe zu Diensten," sagte der Kahlköpfige, "Mein Name ist Jeremias Zehplus. Man hat nach mir gepfiffen. Was soll ich?" Charlotte war verlegen. Tatsächlich hatte sie in ihrem Ärger auf Karl, einfach drauf los gepfiffen ohne die möglichen Folgen ihres Ungestüms zu erwägen. Nun schwieg sie in der Hoffnung, Karl möchte ihr zu Hilfe kommen. Sie hatte mit der Erscheinung der Regierungsräte und der Regierungsrätinnen gerechnet, nicht mit dem Auftritt dieses Menschen mit seinem enganliegendem IT Hemd. Aber nach einer beträchtlichen Wartezeit wurde es klar, dass Karl nicht gesonnen war sich einzumischen. Schließlich hatte Charlotte sich gesammelt und erklärte mit fester, entschlossener Stimme: “Ich bin die neue Oberprokuristin. Ich heiße Charlotte Graupe. Ich beabsichtigte mit dem Pfiff aus der Hundepfeife die ich hier auf dem Tisch fand, meine Vorgesetzten, die Reichsregierungskammer Minister von meiner Bereitschaft meine Arbeit anzutreten in Kenntnis zu setzen.” “Das tut man aber doch nicht mittels einer Hundepfeife,” beanstandete Jeremias Zehplus. Charlotte aber ließ sich nicht unterbrechen, und fuhr fort, “Scheinbar aber habe ich aus dem falschen Loch geblasen. Ich möchte es vermeiden sie zu beleidigen, und kann doch nicht umhin festzustellen, dass Sie nicht wie ein Minister der Reichsregierungskammer aussehen.” “Sie meinen weil ich Kahlköpfiger, eh ich ihrem Pfiff nachkam, mir keine Perücke aufsetzte. Das war eine Rücksichtnahme von mir, weil ich Sie nicht unnötig warten lassen wollte, denn keiner der vielen verschiedenen Oberprokuristen und Oberprokuristinnen die ich in meinem Beruf kennen gelernt habe, verfügten über ein auch nur geringes Maß Geduld. Alles von ihnen Verlangte musste sofort geschehen. Nein, genauer, musste eigentlich schon am Tage zuvor, also gestern, geschehen sein.” So etwa erklärte sich Herr Jeremias Zehplus. “Sie erwähnten ihren Beruf,” begann Charlotte zufrieden und erleichtert endlich einen gehörigen Ansatzpunkt für ihre Erkundigung ermittelt zu haben. “Ist es mir erlaubt nach diesem Beruf zu fragen, worin er besteht und wie er sich zu den Begebenheiten in der Reichsregierungskammer verhält?” Und Zehplus antwortete: “Die Reichsregierungskammer nach der sie Fragen ist gewissermaßen ein Vorzeigebegriff. Dass es sich bei dieser Kammer um keine Räumlichkeit, um kein Zimmer handelt wo sich ein Mensch aufhält, wo jemand isst, oder schläft oder badet, sollte überhaupt keiner Erwähnung bedürfen, aber auch die Vorstellung, dass es um vier oder fünf Personen geht, die etwa an diesem runden Tisch sitzen, mit einander verhandeln, ist eine Täuschung. Die Namen der Minister dienen lediglich dazu eine Vorstellung zu erwecken, den Schein, dass Regeln, Bestimmungen, Gesetze, von intelligenten, gefühlvollen Menschen gemacht werden.” “Und ist das nicht der Fall?” fragte Charlotte, woraufhin Zehplus antwortete, “Nur wenn Sie die elektronischen Geräte die ich bediene und verwalte als gefühlvolle intelligente Menschen wahrhaben wollen.” Daraufhin drängte Charlotte: “Bitte erklären Sie weiter. Ich verstehe Sie nicht.” “Seit einiger Zeit, die Monate reihen sich an und sind zu Jahren geworden, aber allzulange ist es noch nicht her, da wurde hier im Lande eine Wahl mit dem Versprechen gewonnen, die Regierung zu digitalisieren. Dies zu verwirklichen, hat man mich geheuert, und an dieser Aufgabe habe ich nun längere Zeit gearbeitet, und sie ist immer noch nicht vollendet.” “Bitte erklären Sie, Herr Jeremias Zehplus,” sagte Charlotte, und sie nannte um die Wichtigkeit ihres Anliegens zu betonen, den vollständigen Namen des Herbeigepfiffenen, “Was besagt, was bedeutet die Digitalisierung einer Regierung?” Bis jetzt hatte Karl sich Charlottens Austausch mit Zehplus schweigend angehört. Nun aber überschlich ihn Neid und Eifersucht, dass die reizende junge Frau den Ausführungen des kahlköpfigen Rechnerprogrammentwicklers mehr Bedeutung zumaß und mehr Interesse widmete als seinen, Karls, eigenen mehr tiefsinnigen und weitreichenden Überlegungen, welche zum Verstädnis der existentiellen und gesellschaftlichen Rechnertechnikgrundlagen unentbehrlich waren. Zugleich aber wurde Karls Denken durch Neid und Eifersucht gelähmt. Nichts schien ihm übrig zu bleiben als in seinem schweigsamen Zuhören fortzufahren. Dann aber plötzlich und unerwartet kamen ihm Gedanken die sein Gemüt wie Blitze erleuchteten. Nun hatte auch er etwas zu sagen. “Wir leben in einer sogenannten Demokratie,” brach es aus Karl heraus, “Das heißt unter der Regierung des Volkes, will sagen mit anderen Worten, die Vorstellungen der vielen einzelnen Menschen die sich herdenartig zusammen fügen bestimmen das Schalten und Walten der demokratisch gewählten Regierung. Nun frage ich mich aber, und ich frage Sie, müssen nicht in tieferem Sinne alle Regierungen dem Volkswillen genüge tun? Auch die Regierung der Reichen, die Plutokratie, der vermeintlich Besten, die Aristokratie, des einzelnen Königs, die Monarchie, sogar die Regierung des Tyrannen, des Gewaltherrschers, und gerade dessen Schreckensherrschaft, welche die Zustimmung des Volkes durch Macht, durch Grauen und Angst erzwingt, beweist die Abhängigkeit des Herrschers von seinen Untertanen. Vorgestellt dass dieser so grausig wäre, all seine Untertanen zu töten, dann würde trotz all seiner Macht, oder vielleicht sogar wegen all seiner Macht, sein Herrschertum erlischen. Denn wer Herscher zu bleiben gedenkt, vermag seine Untertanen nicht zu entbehren. Das ist das große Grundgesetz allen Regierens.” Offensichtlich war Karl mit seinem Reden so sehr zufrieden, dass er keine Anstalten machte aufzuhören, wurde aber an dieser Stelle von Zehplus, der eifrig zugehört hatte, unterbrochen. “Entschuldigen Sie bitte mein Herr, dass ich Sie nicht mit Namen anreden kann, da ich diesen nicht kenne.” Hier wurde Zehplus seinerseits unterbrochen. “Ich heiße Karl. Dass muss genügen.” Und Zehplus fuhr fort, “Also Karl, deine Ausführungen sind wunderbar prägnant. Sie weisen direkt und unmittelbar zu der elektrotechnischen Aufgabe die man mir anvertraut hat.” “Und das wäre?” forderte Karl, der nun entschlossen war sich nicht ein zweites Mal aus dem Gespräch ausschalten zu lassen. “Das wäre?” “Genau, das wäre die Bevölkerung, die Wähler, fügsam und biegsam zu machen, damit sie dem Herrscher gehorchen, ihm unterwürfig und dienstbar sind.” “Aber elektronische Technik hat damit nichts zu tun,” wendete Karl ein. Doch es war zu spät, denn Jeremias hatte den Wortstreit gewonnen und erklärte triumphierend, “Elektronische Technik hat alles damit zu tun, denn die elektronische Technik ist heutzutage das unübertroffene Instrument womit die Menschen sich die lange Weile vertreiben. Und ach, du weißt ja, lange Weile ist eine traurige Sache worunter die meisten Menschen häufig am schwersten leiden. Es möchte scheinen, dass die lange Weile unheilbar ist, und sich nur durch andauernde Bemühungen beschwichtigen lässt.” “Ihre Ausführungen, Herr Zehplus,” sagte Karl indem er sich ergab, “finde ich sehr überzeugend.” “Ach, nenne mich einfach Jeremias, das genügt” sagte dieser durch das unerwartete Lob besänftigt. “Die Schwellenaufgabe die sich mir bietet, ist erst einmal festzustellen, was es sein möchte das die Wähler am dringlichsten beschäftigt.” “Aber wie kannst du das erfahren? Du kannst doch nicht einem jeden von ihnen deine Fragen stellen, und wenn du es könntest, würden sie dich verstehen? Und wenn sie dich verstünden, würden sie dir offen und freiwillig antworten?” “Ach,” antwortete Zehplus, “aus deinen Fragen ergibt sich, dass du betreffs des gegenwärtigen Standes der Internetkultur nicht auf dem Laufenden bist. Scheinbar sind dir die sogenannten Social Media unbekannt. Das sind gesellschaftliche Mitteilungsinstrumente, elektronische Netze von millionen Menschen die sich fortwährend in kurzen gestümmelten Phrasen und Sätzen mit einander unterhalten. Diese vermeintlich privaten, vertraulichen Botschaften abzuhören, zu dokumentieren und zu bewerten ist eine meiner wesentlichsten Aufgaben.” “Jetzt beginne ich zu verstehen wozu man dich angestellt hat. Aber findest du es nicht ungehörig, wenn nicht sogar widerrechtlich, die vermeintlich vertraulichen Gedankenaustausche in dieser Weise zu kompromittieren?” “Das fragst du mich, den Techniker, der du dich selbst als Regierungssachverständigen vorstellst? Ich hab wenn nicht von dir, dann von deinesgleichen gelernt, dass die Gesetze nichts sind als Schaustellungen, als Propaganda im eigentlichen Sinne, eingerichtet um wohlhabenden Mandanten von spitzfindigen Rechtsanwälten Vorteile über ihre weniger reichen Mitmenschen auszuklügeln. Darüber hinaus, solltest ja du es am besten wissen, dass Handlungen die sich nicht ermitteln lassen straflos bleiben müssen, was immer die Gesetze vorgeben. Die Rechnerprogramme die ich geschrieben habe und deren Nutzung und Anwendung ich überwache, sind geeignet die Meinungen, die Bedürfnisse, die Wünsche, die Ängste und die Besorgnisse von Millionen von Menschen vom Internet abzurahmen, und mittels Algorithmen sogennanter künstlicher Intelligenz in glaubwürdige Versprechen zu übersetzen, welche dann die denkbar nachhaltigste Wirkung auf die Wähler haben. Ob diese Versprechen erfüllt werden, oder auch nur erfüllbar sind, tut nichts zur Sache.” “Wenn diese Versprechen die du den Menschen elektronisch übermittelst nicht erfüllt werden, was wäre dann ihr Sinn?” Es war Charlotte die ihre Stimme aufs Neue ins Gespräch einfädelte. Scheinbar hatte sie zugehört und doch nicht geschlafen. “Der Zweck ist doch selbstverständlich,” sagte Karl. Er war entschlossen dies Gespräch nun nicht länger an Zehplus preiszugeben. “Der Zweck ist die Gefühle der Wähler für den bevorzugten Kandidaten zu gewinnen.” “Aber Versprechen die nicht erfüllt werden können, von denen man im voraus weiß dass sie nicht erfüllt werden, sind doch irreführend, sind unwahrhaftig, sind betrügerisch,” protestierte Charlotte. “Ach, liebes gutes Kind,” erklärte Karl, “sie sind nicht unwahrhaftiger, nicht betrügerischer als die Sprache selbst. Und dies ist ja der wesentliche Punkt den du begreifen must um als Oberprokuristin zu wirken, dass die Sprache ihrem Wesen nach täuschend, verführerisch, betrügerisch ist. Was man als Wahrheit bezeichnet ist die geistige Übereinstimmung der Verständnisse oder Missverständnisse der Beteiligten, eine Übereinstimmung welche einen Pegel von Intelligenz voraussetzt der bei der Öffentlichkeit, bei den Wählern, nicht vorhanden ist. Daher ist es unvermeidlich dass alle Mitteilung an die Öffentlichkeit ein Täuschen ist.” Daraufhin sagte Jeremias Zehplus, “Es ist von ganzem Herzen, dass ich dir danke, lieber Karl, dass du mich von der Schmach und der Schande des Lügens entlastet hast. Denn ich bin kein Lügner und will kein Lügner werden. Mein eigentlicher, gern würde ich sagen, aber das darf ich nicht, mein einziger, Gedankenaustausch ist mit meinen elektronischen Rechnern, und zwischen uns waltet die unbedingte, unlegierte Wahrheit. Zwischen den Rechnern und mir besteht ein ungetrübtes unerschütterliches Einverständnis, das sich durch jede folgerichtige Ausführung eines Programms aufs Neue bestätigt.” “Das will ich dir glauben,” sagte Charlotte, “aber bitte erkläre unter welchen Gesichtspunkten ihr, du und deine Rechner, die verschiedenen möglichen Abwandlungen der Vorstellungen und Wünsche der Wähler in Versprechungen umarbeitet.” “Auch diese Mühen sind der künstlichen Intelligenz der Rechner überlassen. Denn siehst du, nein, entschuldigt, denn seht ihr, die Rechner verfügen über ein weites Feld von Informationen, nicht nur über die wirtschaftlichen, körperlichen, und wenn ich es sagen darf, die geschlechtlichen Bedürfnisse, Wünsche, und ja, sogar auch Phantasieen der Wähler, um einzelne Minister und Ministerinnen unerwähnt zu lassen, sondern auch über die Anliegen und Geldangebote der wirtschaftlichen Interessenvertreter, der Lobbyisten, welche die Regierungsentscheidungen, nein, nicht beeinflussen sollen, sondern welche sie tatsächlich bestimmen. Der Vollständigkeit und Wahrheit halber sollte ich hinzufügen, dass die Rechner auch über detaillierte umständliche ausführliche Eingaben verfügen betreffs der geistigen, körperlichen, und darf ich es sagen, sexuellen Fähigkeiten der Aletheia Studentinnen, Auskünfte die den Präzeptoren, also den Ministern denen die Kochkunstschülerinnen zur Sinnlichkeitsentwicklung untergeben sind, übermittelt werden. KK 8. Kapitel KK Es besorgen meine Rechnerprogramme,” so beschloss Zehplus seine Ausführungen, “nicht nur die Wahlen und Wiederwahlen der Minister, sondern auch das Bestreiten ihrer finanziellen, gesellschaftlichen, und um es vorsichtig auszudrücken, körperlichen und seelischen, menschlichen Bedürfnisse.” Hier hielt Zehplus inne, nicht weil er mit seiner Präsentation zu Ende war, sondern weil er von Charlottens offensichtlich zunehmender Unruhe abgelenkt wurde. Ohne einen förmlichen Abschluss, unterbrach er seine Rede. In der Stille welche demzufolge eintrat, entbehrte Charlotte den Rahmen, jegliches Gerüst für ihre Gedanken und Gefühle. Sie zerfloss in Tränen die alsbald in lautes Schluchzen mündeten. “Was ist es denn, liebe Charlotte, das dich so traurig stimmt?” Es war die Stimme des Richters Adams, der unbeachtet in einem entlegenen Türrahmen erschienen war, begleitet an seiner rechten Seite von dem Polizisten Chuck, und an seiner linken, von der Polizistin Liese. Es war nicht offensichtlich ob diese ihn als seine Ehrengarde oder als seine Wärter begleitet hatten. Charlotte nahm von den unbemerkten Ankömmlingen keine Notiz. Es war unbestimmt ob sie deren Anwesenheit überhaupt bemerkt hatte. Nichtsdestoweniger hatte sich ihr Schluchzen gelegt, und ihre Tränen waren vertrocknet. Karl spürte die große Unordnung und schwieg. Jeremias Zehplus war bestürzt über das Unglück das seine Darstellung offensichtlich ausgelöst hatte, ohne zu wissen warum und wieso. “Habe ich etwas falsch gesagt?” fragte er. Inzwischen hatte Charlotte sich beruhigt, hatte ihre Fassung wiedergefunden. Der Vorgang war ihr geläufig. Das war so ihre Art. Erst weinte sie unkontrollierbar, dann, wie von selbst, versiegten die Tränen, und es war ihr als hätte sie verbrauchte Seelenhüllen abgestreift und ein altes echtes darunter liegendes Ich aufgedeckt. Jetzt war Charlotte ein wenig stutzig, man möchte sagen, wegen der Unbestimmtheit bis zu welcher Schicht ihr Weinen und Schluchzen besagte Seelenhüllen abgestreift hatte, ob das Gemüt nur von der oberflächlichsten, jüngsten Schicht der von Jeremias Zehplus angedeuteten Erlebnissen bereinigt worden war, oder ob auch tiefer und weiter zurück, andere Erlebnisse geläutert worden waren. Sie dachte an etwa Karl den Regierungssachverständigen, an Hans dem Klempner-Theologen, an Mathilde die Reinemachefrau und unter dem Tisch Geheimphilosophin, an den Richter Adams, den Rosen und Pralinen stiftenden Bewerber den sie in der Aletheia kennen gelernt hatte, an Moritz Schwiegel den keuschen Bewunderer dessen Ehrlichkeit als Anwalt ein Wunder war, an Katenus und Elly, die tragischen Inselflüchtlinge die sie Joachims Willen halber, nein, Joachims Liebe halber, beschützen musste und wollte. Die Gedankenfuge hatte sie nun zu Joachim selbst geleitet, als den Polarstern nach welchem und auf welchen hin sich ihr gesamter Lebenslauf richtete. Ach, schon das Bedenken dieser Fülle, die bei weitem unvollständig bleiben musste, war erschöpfend, aber Charlotte spürte aus diesen Gedanken das Quellen neuer Kraft. Ein zweiter Ausbruch von Tränen erschien weiter entfernt denn je. Jetzt galt es zu handeln, das versprochene Amt der Oberprokuristin aufzugreifen, und, wenn es ihr trotz des Versprechens vorenthalten würde, das Oberprokuristinnenamt eigenmütig zu beanspruchen. Unmittelbares Ziel war Katenus und Elly, Joachim und sich selber, und auch den ihr so unsympathischen Jonathan Mengs, vor der Zerstörungswut und Rache der Behörden zu schützen. Um wirksam zu sein, musste sie sich mit Zehplus verständigen, denn wenn ihr durch dessen Ausführungen eines klar geworden, so war es, dass er, nein, dass seine Programmausrüstung, seine Software, das einzige Tor war durch welches der Schutz den sie ihnen allen besorgen wollte erreichbar war, und dass Zehplus den Schlüssel besaß dies Tor zu öffnen. Die triftige Schwellenfrage drängte sich Charlotten auf: welche Informationen über Joachim, über die Katenus, über sich selbst, waren in Jeremias Datenbank gespeichert? In das Verschweigen von Katenusens und Ellys Namen hatte Charlotte sich so gewissenhaft eingeübt, dass nach ihnen zu fragen, ihr überhaupt nicht in den Sinn kam, und dieses Widerstreben die Inselflüchtlinge auch den geringsten Gefahren auszusetzen erstreckte sich zu Charlottens Erstaunen auch auf Joachim. Aber es war ihr klar, dass, da trotz ihres inständigen Hundepfeifens, niemand erschienen war, bereit ihr die neue Stellung zu übertragen, sie selbst mit der Beanspruchung ihres neu erworbenen Amtes irgendwo würde beginnen müssen. Unter diesen Umständen, schien ihr nichts sicherer und selbstverständlicher als mit der Anfrage nach den gespeicherten Daten über sich selbst den Anfang zu machen. Jetzt galt es als erste Aufgabe in der Ausübung ihres Oberprokuristinnenamtes ihre Autorität gegenüber Jeremias Zehplus zu behaupten. “Herr Zehplus,” sagte sie, “in meiner Amtsstellung als Oberprokuristin, bitte ich Sie als ein Angestellter der Oberregierungskammer mich mit gewissen Daten aus ihrer Rechnerkartei, die ich der Ausübung meines Amtes halber benötige, vertraut zu machen.” Und indem diese Worte mühelos und ungezwungen über ihre Lippen flossen, spürte Charlotte Zufriedenheit, Zuversicht und Stolz, dass sie in der Lage sein würde, ihren amtlichen Pflichten nachzukommen, so wie auch den moralischen Obliegenheiten Katenus und Elly und die gesamte Döhringhausfamilie zu schützen. Die Antwort von Jeremias Zehplus erfolgte gleichfalls in sachlichem und zugleich verbindlichem Ton. Er sagte, "Selbstverständlich werde ich den Anweisungen der Frau Oberprokuristin Folge leisten, betrachte mich aber genötigt ihro Gnaden darauf hinzuweisen, dass dergleichen veröffentlichenden Mitteilungen den Regeln gemäß privatim oder gar privatissimum zu erfolgen haben oder allenfalls in Gegenwart nur der Oberreichskammerminister.” Charlotte antwortete, jetzt mit der Sicherheit der erfahrenen Regentin die sie sich so oft phantasierend eingebildet hatte zu sein, “Herr Zehplus, ehrerbietende Bezeugungen, wie etwa ihro Gnaden, sind überflüssig, reden sie mich bitte lediglich als Frau Graupe, nein, als Frau Magus, an.” “Also, Frau Magus,” setzte Zehplus an, “darf ich sie bitten mich in mein Rechnerlaboratorium zu begleiten, wo ich ihnen die erbetenen Karteien zur Verfügung stellen werde.” “Der Abtritt ins Rechnerlaboratorium ist überflüssig, Herr Zehplus,” sagte Frau Magus. “Laut Artikel 15b, Absatz 3, des Reichsgesetzbuches ernenne ich in unerreichbarer Abwesenheit der Reichsregierungsminister, alle hier augenblicklich anwesenden Personen, mit Ausnahme ihrer selbst, Herr Zehplus, nämlich Frau Mathilde Reinemacherin, Herrn Karl Politiksachverständigen, Herrn Chuck Polizist, Frau Liese Polizistin, und Herrn Lemuel Adams sowie auch mich selber Charlotte Magus, Vorsitzende, als nachfolgende amtierende Reichsregierungsminister beziehungsweise Reichsregierungsministerinnen, mit Amtszeit von 24 Monaten, und enthebe somit die abwesenden Reichsregierungsminister unwiderruflich ihrer Ämter, aufgrund der Tatsache, dass diese auch bei wiederholtem Vorladen mittels der offiziellen Hundepfeife es unterlassen haben sich pünktlich einzustellen. Zudem, in Anbetracht der Anwesenheit sämtlicher neu ernannter Reichsregierungsminister erkläre ich die erste Plenarsitzung der neuen Reichsregierungskammer hiermit eröffnet.” “Als als die erste meiner Amtshandlungen bestimme ich, dass alle ernannten Reichsregierungskammerminister und Reichsregierungskammerministerinnen, welche es unterlassen, erstens ihrer Ernennung zuzustimmen, und zweitens zu versprechen, sämtlichen künftigen von mir vorgeschlagenen Gesetzesentwürfen und Bestimmungen vorbehaltlos beizupflichten nicht nur rückwirkend aus ihren ministeriellen Amtern enthoben sind, sondern einem umfassen Verbot unterliegen sich jemals an einem rechtlichen, regierungsbezogenen oder auch nur ehrenamtlichen Unternehmen jeglicher Art zu beteiligen.” All dieses hatte Charlotte wie in Extase ununterbrochen und unaufhaltsam kundgegeben. “In Vorbereitung für meine Amtsübernahme,” fuhr Charlotte jetzt fort, “hat mich der Theologe Hans Klempner auf die Aussage eines dänischen Schriftstellers, dessen Name ich vergessen habe, aufmerksam gemacht, dass es vorstellbarer Weise erbaulich sein möchte für einen Menschen wie ein jeder von uns es ist, im Unrecht gegen seinen Herrgott zu sein. Weil ich mir aber bewusst bin, dass jede irdische Regierung im Lichte - oder im Schatten - jener göttlichen Herrschaft gedeiht oder versagt, hab ich mich von Hans Klempner überzeugen lassen, dass dies gewichtige Thema auch betreffs des Wirkens unserer Reichsregierungskammer einschlägig ist. Ich frage Euch also ob es für die Bürger die uns untertan sind, erbaulich sein möchte sich allzeit gegen uns im Unrecht zu befinden, und wie ich mir die Folgen eines solchen Verhältnisses oder Missverhältnisses vorstellen sollte. Was meinen Sie, Herr Karl Folterer. Sie sind Regierungssachverständiger.” “Ich meine,” sagte Karl mit fester Stimme. Er hatte mit den anderen sich zugegen befindenden Reichsregierungskammerministern seinen gehörigen Platz an dem runden Tisch, der tatsächlich ausziehbar, und mit der Einlage eines längeren Mittelstücks zu einem großen Oval erweitert worden war, eingenommen. “Ich meine dass dies eine theologische Frage ist für deren Beantwortung ich mich nicht zuständig betrachte. Mein Vorschlag ist, den Theologen Hans Klempner zu Rate zu ziehen.” Gesagt, getan, oder fast; denn als Charlotte im Begriff war die von Mathilde übernommene Hundepfeife an die Lippen zu setzen, umstreifte ihr Blick ein letztes Mal den Umkreis der Reichsregierungkammer mit dem Gedanken, dass der Theologe Hans Klempner, der doch offensichtlich in dem Klang seiner eigenen Stimme so beträchtliche Genugtuung fand, vielleicht wie der Richter Adams mit seiner Polizistengarde auf eigenen Antrieb, von selbst, zurückgekommen war. Und dies ergab sich tatsächlich als der Fall, denn der Theologe Hans Klempner stand in einem Türrahmen, zwar nicht in demselben, doch in der Nähe der Tür wo der Richter mit seiner Garde erschienen war, und erwartungsvoll auf die neugekürte Oberprokuristin blickte und nicht ohne Ungeduld wartete von dieser an den erweiterten Konferenztisch geladen zu werden. Diese Einladung erfolgte nun unverzüglich, denn Frau Oberprokuristin Magus erkannte ihn sofort und war erleichtert der Zuflucht zu der unmanierlichen Hundepfeife enthoben zu sein. Nun begrüßte sie den wohlbekannten Fremdling mit gemessen freundlichen Worten. “Herzlich willkommen, geehrter Herr Kollege,” sagte sie, “So eben war ich im Begriff nach ihnen zu pfeifen, als ich sie noch rechtzeitig erblickte. Kommen Sie bitte, nehmen Sie an unserer Beratungstafel Platz, und weisen Sie uns den Weg aus der Verlegenheit in welcher wir uns befinden.” “Ich besinne mich,” fuhr Charlotte fort, “Sie stellten uns vormals die Frage, ob im Unrecht gegen die Behörde zu sein, etwas Ähnliches hieße wie im Unrecht gegen Gott zu sein? Wir sind zwar nicht Gott, aber da wir nun einmal als Behörde wirken, ist das Thema welches Sie aufwarfen, von großem Interesse für uns.” “Ich danke ihnen,” sagte jetzt Hans, “für die Gelegenheit meine Erklärungen, und somit meine Gedanken, über dies bedeutsame Thema fortzuführen. Denn um mein eigenes Denken zu erweitern bedarf ich der Möglichkeit darüber zu sprechen. Meine Gedanken allein vor mir selber auszubreiten ist manchmal unbefriedigend und schwierig. Das Denken gelingt mir am besten, wenn ich aufgefordert werde einen Vortrag zu geben und mich vor einer Versammlung zu erklären, wie etwa jetzt.” “Die Beziehung eines Einzelnen zu seinem Gott,” sagte der Theologe Hans Klempner, “ist vergleichbar mit seiner Beziehung zu seiner Regierung, insofern es sich in beiden Verhältnissen um eine hierarchische Trennung handelt. Zwischen dem Untertan und seiner Regierung ist eine unbedingte Kluft welche nicht nur mit der Kluft zwischen dem Gläubigen und seinem Gott vergleichbar ist, sondern welche genauer und tiefer betrachtet nur durch das Verständnis der Gottesbeziehung begreifbar wird. Ich weiß meine Nebeneinanderstellung von weltlicher und himmlischer Regierung wird bei euch Verwunderung in solchem Maße stiften, dass ihr euch fragen mögt, ob ihr nicht vielleicht doch einen Wahnsinnigen an euern ovalen Beratungstisch zugezogen habt, oder ob ihr euch nicht vielleicht doch in einer Anstalt befindet wo die Unterscheidung zwischen Vernunft und Irrsinn verloren gegangen ist. Das ist in der Tat eine sehr wichtige Frage auf die ich zurückkommen möchte, wenn ihr mir die Gelegenheit gebt, eine Frage welche ich doch jedoch vorerst zurückstellen will, um dem Vergleich der irdischen mit der himmlischen Regierung gerecht zu werden." "Dieser Mensch verfügt ja über eine Redekunst die mich eifersüchtig macht," sagte Chuck, aber nur halblaut, wie zu sich selbst, und fuhr fort, "Er legt es mir nahe mich zu fragen ob ich nicht als Polizist meinen Beruf verfehlt habe, um nicht statt dessen, als Klempner, gelernt zu haben mich in einem ebenso geschmeidigen Redefluss ergehen zu lassen wie jener." Mit diesen Worten hatte Chuck in ungehöriger Weise versucht, Hansens Rede zu unterbrechen, aber vergebens, denn Hans, der Klempner-Theologe ließ sich nicht stören und fuhr fort: "Die Anerkennung des Gottes als einen allmächtigen, allwissenden, und ersehnter Weise auch wohlwollenden, wenn nicht gar liebevollen Herrscher, ist eine uralte Geschichte. Die Vorstellung dass der Regent, wenn nicht tatsächlich Gott, so dennoch gottähnlich sei, ist gleichfalls uralt, wenn auch heutzutage durch den Fimmel dass wegen der demokratisch gewählten Regierung der wir uns fügen der Staat etwas anderes ist, beträchtlich verschleiert. Man besinne sich nur auf die Legenden, auf die Mythen von den ägyptischen Pharaonen. Und dann bedenke man wie in neueren Zeiten die Könige sich als Herrscher von Gottes Gnaden, rulers by the grace of God, bezeichneten. Entscheidend finde ich den absoluten qualitativen Unterschied von Herrscher und Beherrschten, von sovereign and subject, von Fürst und Untertan. Denn insofern er sich als beherrscht beträgt, erlaubt der Untertan die Verlegung einen Teil seines Ichs, einen Teil seines Geists in das Seelengefüge des Herrschers. Das ist der kritische Punkt; auf ihn kommt es an. Demzufolge deute ich die Erbaulichkeit die sich daraus ergibt im Unrecht gegen den Herrscher zu sein, sei er nun himmlisch oder irdisch, eine Selbstbehauptung des untertänigen Ichs, seiner Ganzheit, seiner Kraft, seiner Integrität. Das ist es, liebe Charlotte, das du als Herrscherin die du nun einmal geworden bist, begreifen und bewältigen must." Hans, der Theologe und Klempner war in einen unaufhaltsamen Redefluss abgeglitten. Er fuhr fort, "Im Unrecht gegen Gott zu sein schien dem dänischen Denker erbaulich aus einem anderen Grunde, nämlich weil im Unrecht vor Gott zu sein, die große seelische Kluft zwischen Mensch und Gott erweitert und somit Gottes Macht und Herrlichkeit erweist und erhöht. Indessen gegen die Behörde im Unrecht zu sein dient kaum einem ähnlichen Ergebnis, erhöht die Herrlichkeit der Behörde, die nichts ist als Einbildung, nichts als Vorzeigeregierung, in keiner Weise. Im Unrecht gegen die Behörde zu sein, besagt etwas ganz anderes. Es stellt die Weichen zur Auflösung der Gesellschaft, es besagt des Einzelnen Loslösung von ihr, und bestätigt somit die Macht und Herrlichkeit und Unabhängigkeit seines Ich. Die Gleichstellung von Gott und König, von himmlischer und weltlicher Regierung ist ein großes, schicksalsträchtiges Thema, das wir obgleich wir es nicht zu entwirren vermögen, dennoch in frommer Demut bedenken müssen. Wenn es Gott gibt, dann erscheint er mit dem Kaiser in einem Spiegelbild. Wenn der himmlische Gott heilig ist, wäre dann nicht vielleicht der irdische Gott, etwa der weltliche Herrscher, der Kaiser, sein Gegenteil, will sagen ein Teufel. So etwa hat Martin Luther den Papst verurteilt." Es war als ob Karl Folterer bei diesen Ausführungen, die Hans der Klempner-Theologe in sachlichster Art verlautbarte, von einem Traum erwachte. “Ich weiß nicht ob es mir möglich sein wird, ehrwürdiger Theologe Hans Klempner, dir das Ausmaß meines Dankes für deine Erklärungen zu bezeugen, denn endlich hast du mir wenn nicht die transzendentale dennoch die theologische, oder sollte ich sagen, die demonologische Grundlage für meine Bemühungen in der Regierungswissenschaft beschert. Ich bin, wie ich vorhin der ehrwürdigen Oberprokuristin, Frau Charlotte Graupe-Magus, oder sollte ich sie als Frau Magus-Graupe anreden, mitteilte, ein Regierungssachverständiger, mit besonderem Nachdruck auf die Folter als unentbehrliches Instrument des Regierens. Es ist ein öffentliches Geheimnis, dass die Folter als die Erfindung des Teufels, das Instrument der Hölle ist. Meine Studien, meine Forschungen, meine Untersuchungen über die Folter haben bis jetzt die umfassenden kosmischen theologischen Rahmen und Gerüste entbehrt, weswegen es mir nicht gelingen wollte sie in das leibnizische Schema der besten aller möglichen Welten einzufügen. Jetzt, wo Sie mir den Kaiser als Spiegelung Gottes, und das Erdreich als Spiegelung des Himmelreichs gezeigt haben, wie auch den Verkehrsatlas sozusagen, in dem die Straßen angezeigt sind auf welchen Vergil seinen Schüler Dante Alighieri in die Unterwelt begleitete, erst jetzt hab ich ein zureichendes Verständnis für die Bedeutung der Folter bekommen.” "Denn die Gesellschaft in Gestalt der Behörde zwingt sich dem Einzelnen mittels des Gesetzes, mittels der Sprache auf. Die Behörde beansprucht die Sprache und die Sprachenwelt des Einzelnen eindeutig und endgültig zu bestimmen, und noch dazu im Rückblick, als in der Erinnerung befestigt, wo doch tatsächlich diese Sprachenwelt ihrem Wesen gemäß, flüssig, unbestimmt und unbestimmbar ist. So must du, Charlotte," sagte Karl, "die Lüge, die Unwahrheit so wie sie in der Aletheia eingeübt und ausgeübt wurde, in deinem neuen hohen Amt auf die Spitze getrieben verstehen. Nur der, welcher sich erfolgreich der Oberregierungskammer widersetzt, nur wem es gelingt vor den Gerichten ungerecht zu sein, vermag sich wirklich als frei zu betrachten." Jetzt mischte sich Hans aufs Neue ins Gespräch. Er sagte, "Gott ist wahrlich ein zwitter Wesen, außer- und oberhalb der Gesellschaft, diese unerbittlich regierend und kontrollierend, zugleich aber ist das Gotteserlebnis die inwendigste Kraft des Einzelnen im Kern, im Zentrum auch des Zusammenlebens der Menschen und dieses letzthin ermöglichend. Und ähnlich verhält es sich mit der Regierung, welche äußerlich dem Zusammenleben der Menschen unentbehrlich ist, und dann wiederum im Innersten des Menschen sein Tun und Lassen, seine Handlungen, und sein Wesen bestimmt. Von Alters her betrachteten sich die Könige als von den Göttern nur bedingt unterscheidbar; neuerdings verwechseln sich die Regierungen mit dem Herrgott, wie etwa im Bereich Klimawandlung, Umweltschutz, Gesundheitsbewahrung, Covidprophylaxe und anderweitige Todesverhütung, und betragen sich als seien sie die Hüter der spinozistischen Gott-Natur, deus sive natura. In und mit ihrem gesellschaftlichen Zusammenwirken, beanspruchen die Menschen die Mängel der Gott-Natur zu beheben wenn nicht diese Gott-Natur überhaupt zu ersetzen." Schließlich mischte sich auch Richter Lemuel Adams ins Gespräch. Der saß zwischen seinen beiden Polizeibegleitern, Chuck an seiner Linken und Liese an seiner Rechten, ob als Ehrengarde oder als WärterInnen blieb unbestimmt. Adams hatte folgendes zu sagen: "Den Ausführungen von Hans dem Klempner-Theologen und Karl Folterer dem Regierungssachverständigen zu horchen fand auch ich befriedigend und aufschlussreich. In den vielen Jahren meines richterlichen Amtierens war es meine schwere schicksalshafte Aufgabe den freien, ungebundenen Seelen welche sich zuweilen im Unrecht vor unseren Behörden befanden und die Unversehrtheit unserer Gesellschaft zu gefährden schienen, welche die Ruhe und Eintracht unseres Zusammenlebens zu stören drohten, ihre Freiheit zu nehmen und sie in Kerker und Gefängnisse und Käfige einsperren zu lassen, wo sie dann die besten wenn nicht gar die sämtlichen restlichen Jahre ihrer Leben verschmachten mussten. Und all dies in dem Bewusstsein, dass ich mir selber keineswegs als ein schuldloser Mensch erscheinen kann, insofern ich weiß, dass ich selber vieles getan, nein, verbrochen habe, wofür ich andere verurteile und bestrafe, und nicht nur gedanklich, theoretisch, sondern praktisch, beruflich, amtlich, öffentlich, offiziell. Das ist ein Umstand wodurch ich zu der Einsicht gekommen bin, dass es im Wesen des Menschen liegt vor dem Gericht im Unrecht zu sein, und somit als Richter, vor sich selbst." An dieser Stelle wurde Richter Adams von Hans Klempner unterbrochen. “Entschuldigen Sie mich bitte, Herr Richter, dass ich ihre Rede störe,” sagte er. “Ich tue dies aus Anerkennung und Dankbarkeit, weil Sie mit ihren Ausführungen mein Verstehen erweitert, ergänzt haben. Ich möchte sagen, vervollständigt, aber das darf ich nicht. Der Prophet Jesaja hat es unmissverständlich ausgesprochen, dass der von den Menschen Verachtete und Verfolgte, der Verbrecher also, dennoch, wenn nicht besonders deswegen, als der vor Gott Gerechte erkannt werden muss. Nun frage ich mich, und ich frage Sie, Herr Richter, wie kann das sein? Und was heißt es vor Gott im Recht oder im Unrecht zu sein?” Da antwortete der Richter Adams, “Es tut mir leid, dass ich über die Antwort auf ihre Frage nicht verfüge. Es ist eine theologische Frage die Sie mir stellen, und der Theologe, das sind Sie. Sie selber müssen ihre Frage beantworten.” Es entstand eine Stille, denn Adams wusste nichts weiteres zu sagen, und offenbar vermochten auch weder Chuck noch Liese Licht auf den scheinbar unlöslichen Gedankenknoten zu werfen. Charlottes Erinnerungen aber führten sie immer wieder in die Aletheia zurück. Viel Zeit verging bis sie etwas sagte. Schließlich äußerte sie ihren Beschluss, “Wir brauchen einen Philosophen,” sagte sie und fragte, "Wer unter uns ist Philosoph oder ist bereit so zu tun, als ob er es wäre?" Wieder begab sich Stille. Dann ertönte die Stimme der Reinemachefrau Mathilde, die auch an diesem nun ovalen Konferenztisch einen Stuhl gefunden, bis jetzt aber geschwiegen hatte. Nun sagte sie, “Liebe Charlotte, meine Freundin, das bist du doch gewiss, bitte nimm's mir nicht übel, dass ich dich korrigiere. Statt nach Philosophen zu fragen, hättest du besser getan, nach Philosophinnen zu suchen. Ich will zwar, trotz meiner Brüste, mich nicht brüsten eine Philosophin zu sein, habe aber dennoch von Zeit zu Zeit über dieses und jenes nachgedacht, und bin zu einigen Beschlüssen gekommen.” “Vorerst erlaube mir,” sagte Charlotte, “mich für meine Ungezogenheiten zu entschuldigen, nicht nur dass ich irrtümlicher Weise es unterlassen hatte im Allgemeinen nach PhilosophInnen zu fragen, sondern im Besonderen nach dir, die ich reichlich Gelegenheit gehabt habe dich beim Fegen und Staubwischen zu beobachten, und dies gerade unter den Tischen, wo du in so gewissenhafter Weise die philosophischen Brocken entdeckst, um dann die zerbröckelten Gedankenstücke zusammenzufegen und sie mit geschmeidiger Eleganz vom Kehrblech in den bereitstehenden Mülleimer abzuschieben.” “Wie dem auch sei,” antwortete Mathilde, “ich hab euch alle geduldig angehört, und hab über die Fragen die euch beschäftigen gewissenhaft nachgesonnen, und das Ergebnis meines Denkens ist die Überzeugung, dass wir die Wirklichkeit von der wir umgeben sind und in welcher wir leben, nicht zu begreifen vermögen. Es ist eine Wirklichkeit die uns vorübergehend zu erhalten scheint, aber an der wir uns immer und immer wieder stoßen und die uns am Ende als Staub und Asche zu sich assimiliert. Ich besinne mich einer Dichtung in englischer Sprache: All the world's a stage, And all the men and women merely players; They have their exits and their entrances, And one man in his time plays many parts, ... Das finde ich sehr einleuchtend. Dabei erlaube ich mir die Begriffe Theater und Schauspiel, will sagen ins Dichterische zu erweitern. Ich meine dass nicht nur die Gestalten und Personen die auf der Weltbühne erscheinen Schauspieler sind, sondern dass auch ihre Gedanken, ihre Handlungen, sich durch ihr Schauspielertum erklären lassen, und durch nichts anderes. Mir scheint dass jenseits der Bühnenerscheinungen eine weitere quasi-transzendentale Wirklichkeit liegt, welche von der Bühne unsichtbar ist und auch mit Geistes Augen unerkennbar, - und im Theaterraum nicht nur den Augen des Körpers sondern auch den Augen des Geistes unsichtbar ist, eine Wirklichkeit deren Existenz ich anzunehmen gedrungen bin, obgleich sie mir ihrem Wesen nach unkennbar ist. Wir PhilosophInnen beanspruchen zwar diese Wirklichkeit mit unseren Worten erreichen zu können, aber unsere Ansprüche sind leerer Wahn. Tatsächlich ergreifen wir mit unserem Denken und mit unseren Worten nichts Wirkliches. Wir schaffen mit unseren Worten lediglich eine vergebliche, eine falsche Wirklichkeit die in nichts als der Erkenntnis gipfelt, dass sie falsch, vergebens, unecht und täuschend ist. So etwa lautet meine docta ignorantia.” Nach diesen Aussprüchen schwieg Mathilde. “Wenn dem so ist, wie du liebe Mathilde es uns zeigst,” sagte Charlotte, “dann haben all diese hochtrabenden Besprechungen in denen wir uns ergehen, doch überhaupt keinen Sinn. Das ist eine Meinung die ich im Döhringhaus in der Linnaeusstraße ja oft genug ausgeführt habe.” “Was du sagst mag stimmen,” meinte Mathilde, “aber vornehmlich in Beziehung auf das unmögliche Erkennen einer endgültigen, absoluten Wirklichkeit.” “Würdest du uns einen anderen Sinn erklären?” bat Charlotte. “Ich will es versuchen,” war Mathildens Antwort. “Ich verstehe die Sprache als eine Beziehung, als ein Band das uns Menschen wesentlich aneinander knüpft, und uns mit einander zu verständigen dient. Zu diesem Zweck, um die Beziehungen unter uns sinnvoll und bedeutsam zu machen, und letztendlich erst zu ermöglichen, ist die Sprache unerlässlich; und in diesem Sinne, um unser Zusammenwirken sozusagen zu ölen, haben wir keine Alternative als den Sprachenaustausch unter uns zu pflegen, zu berichtigen, zu verbessern, zu verfeinern, zu korrigieren.” “Die Unzuverlässigkeit der Sprache hat weitreichende Konsequenzen. So hab ich zum Beispiel folgendes beobachtet und bedacht: Es ist ein Widerspruch unserer Gemeinschaft, dass sie einen jeden von uns zwingt Stellungen zu behaupten welche weder als wahrhaftig noch als gültig anzuerkennen sind. Die Gesellschaft zwingt uns zu verschiedensten Täuschungen eben darum weil sie dieser Täuschungen bedarf um bestehen zu können, so dass, um es unverhohlen auszusprechen, die Gesellschaft Lügen stiftet, als Lüge besteht und nur als Lüge zu bestehen vermag. Diese Tatsache, diese ‘Wahrheit’, tritt besonders in Rechtsangelegenheiten hervor, welche in so außerordentlichem Maße um Begriffe kreisen und von der Sprache verwaltet werden, und von ihr unbedingt abhängig sind. Hier wird die Notwendigkeit, die Unentbehrlichkeit der Unwahrheit, der Lüge, zu Wahrheit, weil die unlegierte Wahrheit die Menschen als Gesellschaftsmitglieder lebensunfähig macht, und sie von Lüge ungebändigt sich gegenseitig zu zerstören verleiten würde. In dieser Hinsicht möchte sich eine Abwandlung des Wahrheitsbegriffes bewähren, eine Änderung welche den subjektiven und objektiven Funktionen der Sprache und den mit ihr verbundenen Wirkungen Rechnung trägt. Dabei denke ich an die Voraussetzungen der politischen Wahlen und der Regierungen, des Urteilens, des Richtens und des Regierens. Vielleicht sollten wir beschließen: Als wahr muss gelten, was immer die Gesellschaft erhält. Vielleicht ist das der Grund weshalb es dem Einzelnen, nein nicht erbaulich, sondern unvermeidlich und notwendig ist im Unrecht zu sein, vor der Gesellschaft und eben vor dem Gott als der Vorstellung die den Einzelnen in die Gesellschaft bindet.” Darauf antwortete Hans der Theologe, “Frau Mathilde Reinemacherin, was Sie da soeben ausgeführt haben, ist mir von zwingender Überzeugung. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar, und muss es auf unabsehbare Zeit bleiben. Die eine, die wesentlichste Frage aber, die den Kern meiner Spezialität befasst, haben sie unberührt gelassen. Ich selber habe, ganz sicherlich unerlaubter, ungehöriger Weise über die Erbauung geschwafelt die darin liegt sich vor Gott im Unrecht zu befinden. Ihre vorigen Ausführungen haben mich derartig beeindruckt, dass ich Sie nun bitte mir zwei Fragen zu erlauben: Erstens, Wer, wo, und was ist Gott? Und zweitens, was soll ich mir unter dem Begriff Gerechtigkeit vorstellen?” “Ach lieber Herr Theologe, Hans Klempner,” sagte die Reinemachefrau Mathilde, “selbstverständlich ist es, dass Sie die Fragen stellen dürfen. Ich meinerseits, in dem ich den Versuch mache ihre Fragen zu beantworten, möchte Sie schon im voraus bitten mich zu entschuldigen und mir zu vergeben dafür, dass alles was ich sage sich lediglich als Schwafeln erweisen wird.” “Den Schlüssel, Hans, zur Antwort auf deine erste Frage, ‘Wer wo und was ist Gott?’” begann Mathilde die Reinemachefrau, nun erstaunlicher Weise im Begriff die an sie gestellte Frage selbst zu erläutern, “finde ich in der Sprache mittels derer wir Menschen versuchen uns mit einander zu verständigen. Um mit der Frage, ‘Wo ist Gott?’ den Anfang zu versuchen, bemerke ich dass wir verschiedentlich meinen, Gott wandle in einem von ihm eingerichteten Garten, aus dem er uns Menschen vertreiben ließ als wir uns ihm ungehorsam erwiesen, oder Gott wohne auf einem sehr hohen Berge, etwa Horeb oder Sinai genannt, oder Gott verstecke sich zurückgezogen in einem Busch dessen unlöschbares Feuer ihm einen Privatbereich bereitet der seine Einsamkeit gewährleistet und ihn vor unsrer Neugier schützt. Dann wieder sagen wir, Gott sei im Himmel und throne zwischen oder hinter den Wolken, oder aber wir vermuten er lebe außerhalb auch unseres Sonnensystems, und sei gegenwärtig überall in der Natur, oder er sei das Ganze, das All, das Universum. Dann wiederum wird behauptet, Gott existiere, wirke, und sei gegenwärtig vornehmlich, wenn nicht lediglich. im Innersten eines jeden Menschen.” “Diese Überlegungen,” fuhr Mathilde die Reinemachefrau fort, “überzeugen mich dass es vergeblich ist Gott als ein außer- oder übermenschliches, geschweige denn als ein menschenähnliches Wesen, etwa als einen guten großzügigen Gärtner irgendwo an irgend einem benannten Ort aufzusuchen. Man möchte beschließen, dass vielleicht Gott nichts ist als menschliche, nichtige Einbildung. Dagegen aber spricht, dass Menschen überall und in allen Zeiten Gott mit Namen genannt und vermutlich gemeint gefunden zu haben. Oder haben sie ihn, statt gefunden, erfunden?” “Ja, natürlich,” antwortete Hans der Klempner-Theologe, und wusste selbst nicht was er meinte. “Hast du vielleicht eine Erklärung?” “Ja, die habe ich,” erwiderte Mathilde die Reinemachefrau. “Es drängt uns Menschen sich zu Gesellschaften zusammen zu tun. Das heißt uns unter einander und mit einander zu verständigen. Zu diesem Zwecke halten wir lange Reden, schreiben Bücher, malen Bilder, machen Photographieen, erfinden mathemathische Formeln die uns eine gemeinsame symbolische Welt bereiten, und gemeinsame Verständnisse vermitteln. Aber darauf dass unsere Sprache, unsere Mathematik, und unsere Wissenschaft im Allgemeinen, dass nichts was wir tun oder versuchen zu tun, unser Denken und Fühlen tatsächlich mitzuteilen vermag, hab ich verschiedentlich hingewiesen. Ich habe was wir einander zeigen können, das Äußere oder Objektive, unterschieden von dem Anderen, das wir einander nicht mitteilen können, welches ich als das Inwendige oder Subjektive bezeichne. Mein Vorschlag, den du Hans und ihr alle lächelnd wenn nicht lachend zurückweisen mögt, ist dass unser Ringen um Gott der Versuch ist das Subjektive, das was in einem jeden von uns ist, und sich, wenn überhaupt, nicht anders ausdrücken oder mitteilen lässt, dennoch versuchen auszudrücken und mitzuteilen. Und so wie schon der Widerspruch in der Benennung dieses Unternehmens darauf hinweist, dass es unmöglich ist, möchte auch jede Darstellung Gottes als eines uns gemeinsam gegenwärtigen Gegenstandes unmöglich sein. Dementsprechend ist auch nur der Versuch es dennoch zu tun, i.e. Gott zu nennen, ihm einen Namen zu geben, verboten und strafbar.” Die kleine ad hoc Versammlung der Regierungsminister war von Mathildes Erklärungen tief beeindruckt und schwieg. Auch Mathilde schwieg eine Weile. Dann sagte sie. “Es gab noch eine zweite Frage, aber die hab ich vergessen, vielleicht weil ich zu müde bin. Doch es macht nichts aus, denn wenn ich zu müde bin sie auch nur zu erinnern, wäre ich gewiss zu müde sie zu beantworten. Ist die Frage von Bedeutung, wird sie von selbst wieder auftauchen. Bitte entschuldigt mich jetzt von weiteren Ausführungen. Ich bin müde.” Nach einer ausgedehnten Stille, ertönte Charlottens Stimme. “Mir wird von alledem so dumm, als ging mir ein Mühlrad im Kopf herum,” hatte sie gesagt. “Ich weiß kaum noch was ich im Sinne hatte.” Da ließ sich die Stimme des Richters Lemuel Adams hören, "Das Stichwort, das du erinnern must ist ‘Oberprokuristin’. Ich hab dir's ins Ohr geflüstert, vergiss es nicht. Oberprokuristin musst du werden, Oberprokuristin sollst du sein, denn nur dann als Oberprokuristin wird es in deiner Macht sein mir den Schutz zu bieten, den ich so dringend benötige. Ohne dich bin ich verloren.” “Ach,” sagte Charlotte, “ich muss mich verwandelt haben, denn im Döhringhaus in der Linnaeusstrasse hätte ich solch lange Reden nicht ertragen können. Da wäre ich längst weggelaufen. Das ist mir hier unmöglich, weil ich das Amt der Oberprokuristin zu verwalten habe. Und dennoch kann ich nicht leugnen, dass was ihr soeben besprochen habt, angefangen hat mich leidlich zu interessieren. Dabei ist es mir einerseits unmöglich den vielen Dingen die ich nur teils verstehe beizupflichten, unmöglich aber auch über das was ich nicht verstehe, und besonders über solches, eigens nachzusinnen.” “Ja,” fragte der Richter Adams, "und zu welchem Beschluss hat dich dein Denken geführt?" “Zu eben dem Beschluss,” erklärte Charlotte, “dass unser Denken und unser Sprechen sich gegenseitig bedingen, dass es die Sprache ist die uns Einzelne in eine Gesellschaft einbindet und somit die Gesellschaft überhaupt erst ermöglicht. Zugleich aber, und dies erscheint mir fast als das Wichtigste, dass die Sprache sich aus sich selbst entwickelt und die Worte, vergleichbar mit Planeten in Bahnen kreisen die sie sich selber vorschreiben, dass sie mit ihrer Beharrlichkeit ihre eigene Umgebung, ihre eigene Wirkung, ihre eigene Wirklichkeit schaffen.” Dazu bemerkte Mathilde, die Reinemachefrau und Philosophin, “Aber diese der Sprache eigene Wirklichkeit muss sich doch schließlich in einem vorstellbaren Verhältnis zu einer weiteren, mehr umfassenden, und letztendlich allumfassenden Wirklichkeit verhalten. Das, finde ich, ist ein Verhältnis das sich nur mit einer vielleicht bis zur Unmöglichkeit erstreckenden Unbestimmtheit feststellen lässt. Die diesbezügliche Wirklichkeit ist und bleibt eine Hypothese, eine Vermutung, eine Vorstellung welche nicht in einer äußeren Natur, sondern im Gemüt des Einzelnen und vielleicht in den unvermeidlichen Voraussetzungen einer jeden Gesellschaft seine Wurzeln hat.” “Ich höre was du sagst,” sagte Charlotte, “zögere aber die Hand aufs Herz zu legen um zu beschwören dass ich es verstehe. Worum für mich aber kein Zweifel besteht ist dass diese Hirngespensterei ein Ende haben muss, damit wir schließlich zum Handeln, zum Regieren kommen, und hiermit erkläre ich dass es so ist.” “Am Anfang, ursprünglich, als der Herr Richter Adams mir mitteilte, ich sollte die zur Zeit unbesetzte Stelle der Oberprokuristin übernehmen, meinte ich das hieße mich unterwürfig in eine geringere Anstellung zu fügen, und machte wiederholte Versuche, wie Mathilde meine Freundin, die Reinemachefrau es hier bezeugen mag, mit den Ministern der Reichsregierungsbehörde in Verbindung zu treten. Ich habe versucht die abwesenden Regierungsminister, zugegeben, im Augenblick, vermag ich mich sogar auch nur auf ihre Namen nicht mehr besinnen, herbei zu pfeifen. Es ist mir nicht gelungen, denn keiner ist gekommen. Umso wichtiger erscheint es mir nun die ausfallende Regierung wach zu rufen, zu ersetzen, wenn nötig herzustellen.” “Ja, warum eigentlich?” unterbrach Jeremias Zehplus, "Es war, und es ist doch offensichtlich, dass meine Rechnerprogramme die Mitglieder der Reichsregierungskammer in einem solchen Maße entlasten, dass die Personen der Minister überflüssig geworden sind, es sei denn um die Schmiergelder die sie von den Lobbyisten und anderen Beteiligten beziehen, wenn sie fällig werden einzukassieren, eine Aufgabe welche die Minister allem Anschein nach auch in absentia zu erledigen vermögen.” “Mit Schmiergeld,” antwortete Charlotte, “habe ich nichts zu tun, und mit Schmiergeld werde ich nichts zu tun haben. Der Grund weshalb meine Tätigkeit als Oberprokuristin mir unverzichtbar erscheint ...” Und hier stockte Charlotte und verfiel ein weiteres Mal dem Schweigen, denn sie erinnerte ihr Versprechen an Katenus und Elly, unter keinen Umständen deren Namen zu nennen, aber dann erinnerte sie wiederum des Richter Adams kaum verhallte Aussage, er müsse sich auf sie, Charlotte Graupe, verlassen um ihn zu schützen. Aber mit der Anreihung des Richters an die beiden anderen schutzbedürftigen Flüchtlinge wurde es ihr klar, dass es ebenso notwendig war auch des Richters Namen in Vergessenheit entschlüpfen zu lassen. Sie unterließ es also auf Jeremias Zehplus Einwand einzugehen, und erklärte, als ob dies folgerichtig sei. “Weil die Minister der Reichsregierungskammer sich weigern zu erscheinen, habe ich sie unwiderruflich abgesetzt. Da es mir aber unpraktisch, nein, unmöglich erscheint als Solistin zu regieren, hab ich euch alle, sämtlich und einzeln, einen jeden von Euch zu regierendem Minister ernannt, unter der ausdrücklichen Bedingung dass die Annahme dieser Ernennung als des Ernannten Versprechen und Versicherung dienen soll mir in allen meinen Vorschlägen beizupflichten und sie mit seinem Votum zu bekräftigen, mir aber unter keinen Umständen jemals zu widersprechen. Und da keine und keiner von euch einen Einwand verlautbart haben, folgere ich von einem jeden von euch seine oder ihre Zustimmung. Sitzungen finden all wöchentlich Montags um 12 Uhr mittags statt. Meine Ernennungen gelten für ein Jahr. Jedes Regierungsmitglied behält das Recht, zwei Wochen nach gehöriger Mitgliedschaftskündigung zurückzutreten.” Wieder stockte Charlotte. Regieren war ein großes Wort, das ihr zugleich Stolz und Angst einflößte. Stolz, selbstverständlich, weil ihr nun endlich eine Lebensweise, eine Karriere sich als erreichbar wies, die ihrem Geltungsbedürfnis entsprach. Angst, weil ihr die geringste Vorstellung von dem Gebiete auf das sie sich gewagt hatte entging. Aber so, sagte sie sich, ist es im Leben. Wieder drängten sich Sorgen um Katenus und Elly in den Vordergrund ihres Denkens. Sie hatte jedenfalls so viel erfahren, dass die Behörden Tatsachen, Daten sammelten, besonders über Gefahndete, über Flüchtlinge wie die Katenus, und vermutlich auch über all diejenigen von denen die Flüchtlinge angefreundet oder gar beschützt wurden. Tatsächlich aber hielt Charlotte es für denkbar, wenn nicht gar wahrscheinlich dass solche Tatsachen über alle Bürger, über alle Einwohner gesammelt wurden, wie auch über alle Obdachlosen und Zigeuner. Zu all diesen Daten aber, zu den umfangreichen elektronischen Karteien wo all diese Informationen gespeichert waren, hatte Jeremias Zehplus die Schlüssel. Wenn es ihr gelänge sich dieser Schlüssel zu bemächtigen, gewönne sie große Macht die Gefährdeten zu schützen. Darüber war Charlotte sich nicht im Zweifel. Jetzt liefen Charlotte die Gedanken durchs Gemüt nicht in Planetenbahnen, sondern kreuz und quer, wie die Autos am Universitätsplatz. Dumpf und unbestimmt war sie sich der Außerordentlichkeit ihrer Zusammenstellung eines ad hoc Regierungsgremiums bewusst, ahnte aber und befürchtete auch, dass diese so auf der Stelle zusammengeflickte kleine Gesellschaft verletzlich, anfällig, zerbrechlich und vergänglich war, und deshalb mit Bedacht erhalten und gestärkt werde müsste. Zugleich aber überwältigte Charlotte die Einsicht, dass es mit dem ledigen Bestehen der Gesellschaft nicht getan war, dass diese Gesellschaft handeln müsste, nein, dass diese kleine Gruppe eingesetzt werden müsste als ein Rettungsinstrument für Katenus, für sie alle, und, ja, auch für Lemuel Adams. Ach, all diese dringenden gegenwärtigen Ansprüche drängten sich ihr auf, jetzt hier in der Oberregierungsrunde die zu leiten sie zu ihrem Amt gemacht hatte. Wenn sie nur Zeit zum Überlegen hätte, aber die gab es nicht. Sie musste handeln, jetzt, jetzt handeln, und das tat sie. “Geehrter Herr Jeremias Zehplus,” sagte Charlotte in einem Ton der zugleich freundlich, feierlich und befehlend war, wie es einer Oberprokuristin, nein, wie es der Vorsitzenden der Reichsoberregierungskammer ziemte, “wenn ich zulänglich unterwiesen bin, sind Sie als Chef der Informatik, wenngleich nicht Mitglied, so dennoch der wesentlichste Berater der Reichsregierungskammer. Ich wünsche, dass sie fortfahren dieses Amt auch in meiner Regierung zu bekleiden.” “Gerne,” sagte Jeremias Zehplus, sonst nichts. “Da ich selbst aber,” fuhr Charlotte fort, “auf dem Gebiet der elektronischen Informatik nicht bewandert bin, bitte ich Sie mir in Einzelheiten die Vorgänge zu beschreiben, zu erklären und zu zeigen, mittels derer Sie sich der Reichregierungskammer behilflich erweisen.” “Ja, Frau Magus-Graupe,” begann Herr Zehplus, aber Charlotte unterbrach ihn, “Magus-Graupe ist überflüssig,” sagte sie, “Frau Magus, genügt.” “Entschuldigung, Frau Magus für meinen Irrtum,” sagte Jeremias Zehplus ehrerbietig, “die Informatikabteilung die ich leite, wirkt fast selbstständig. Sie kostet mich nur wenig Zeit, und den Reichsregierungskammermitgliedern überhaupt keine.” “Was Sie berichten ist zwar interessant,” sagte Charlotte mit der Entschlossenheit der erfahrenen Regierungsleiterin, “aber es ist dennoch keine Antwort auf meinen Befehl, welcher lautete mir in Einzelheiten die Vorgänge zu beschreiben, zu erklären und zu zeigen, mittels derer Sie sich der Reichregierungskammer behilflich erweisen.” "Das ist unmöglich,” sagte Jeremias Zehplus, “ich bitte ergebenst um ihre gnädige Entschuldigung.” “Sie sind sehr höflich, Herr Zehplus, aber mit Höflichkeit ist meine Frage nicht zu beantworten und nicht beantwortet,” sagte Charlotte. “Ich flehe Sie an, glauben Sie mir,” stotterte Jeremias Zehplus, und begann zu zittern, "Es ist unmöglich." Es war jetzt sichtlich, dass Charlotte zunehmend erboste. "So sagen Sie mir unversehens warum Sie behaupten, dass es ihnen unmöglich sein sollte, mir in Einzelheiten die Vorgänge zu beschreiben, zu erklären und zu zeigen, mittels derer Sie sich der Reichregierungskammer behilflich erweisen. Meinen Sie ich wäre zu ungebildet, zu dumm?” “O, keineswegs,” erwiderte Zehplus, “Ich bewundere ihre Intelligenz und ihre beruflichen Fähigkeiten.” “Ich bedanke mich für ihre Höflichkeit, für ihre Anerkennung. Sie beantworteten aber nicht was ich sie fragte.” “Die Antwort welche Sie fordern ist unmöglich,” verteidigte sich Zehplus, “Ich flehe um Ihre Gnade.” “Die werden Sie benötigen, Herr Zehplus,” fauchte Charlotte. Sie dachte an Joachim, an Katenus und Elly, und Jonathan Mengs, und war in diesem Moment überzeugt, dass Zehplus in eine Verschwörung die Bewohner des Döhringhauses zu zerstören verstrickt war, und so stählte sich ihr Beschluss. “Meine Gnade werden Sie benötigen, denn hiermit beordere ich meinen Untergebenen, Chuck den Polizisten, den ich als Reichssicherheitsminister ernannt habe, sie unverzüglich festzunehmen, beordere weiterhin Herrn Oberrichter Lemuel Adams, mir gleichfalls wohlbekannt und untergeben, einen Strafprozess wegen Landesverrat gegen Sie einzuleiten, Sie für schuldig zu erklären, und Sie Herrn Karl Folterer, dem Regierungssachverständigen, zu überantworten, um Sie von jenem der denkbar raffiniertesten theresianischen Folterungsentwürfen unterziehen zu lassen, bis ihre Aussagefähigkeit über die Vorgänge mittels derer Sie sich der Reichregierungskammer behilflich erweisen, wieder hergestellt ist.” KK 9. Kapitel KK << 6352 >> In diesem Augenblick hörte man wie von fern, ein schwaches, vorsichtiges doch unverkennbares Klopfen. Wegen der Spannung welche infolge von Charlottes Zorn die Oberregierungskammer beherrschte, stellte keiner der Anwesenden sich an, dem Klopfen Beachtung zu schenken und auch nur eine einzige der mehreren Türen von denen es zu vernehmen sein möchte, allenthalben versuchsweise zu öffnen um eventuell dem ungeladenen Besucher Einlass zu gewähren. Das Klopfen versiegte. Dann begann es aufs Neue sich in Abständen zu wiederholen, und bei jeder Wiederholung wurde es lauter und zudringlicher. Als das Pochen zum sechsten Mal unbeantwortet und unbeachtet verklungen war, öffnete sich an einer der mehreren Türen welche die fensterlose Innenwand der Oberregierungskammer bestückten, ein Spalt, der sich zunehmend erweiterte bis der vollständige breite Rahmen dieser Tür sichtbar geworden war, und in ihm, die Gestalt eines Mannes von mittlerer Größe in seinen besten Jahren. Charlotte erkannte ihn sofort. “Ach Moritz,” sagte sie, “es ist ja so gut dass du endlich erschienen bist, denn ich brauche dich, ich brauche dich sehr, denn ich glaube wirklich, ich pfeife auf dem letzten Loch.” Sofort aber wurde sie der Ungehörigkeit ihres zwangslosen Bekenntnisses bewusst, und ermächtigte sich aufs Neue mittels ihrer autoritären Stimme. “Meine Damen und Herren,” sagte sie, “Ich habe die Ehre ihnen Herrn Moritz Schwiegel vorzustellen. Er ist mein Rechtsanwalt, und er ist der einzig ehrliche Rechtsanwalt dem ich je begegnet bin." Bei diesen Worten wurde Charlotte sich bewusst, wie verkehrt es war, Schwiegel den Regierungsministern, deren Ehrlichkeit sie nicht hätte zu bezeugen vermocht, vorzustellen. Statt dessen hätte sie jeden einzelnen der Regierungsminister, und vielleicht am wesentlichsten, die Regierungsministerin Mathilde, die Reinemachefrau, dem ehrlichen Anwalt vorstellen müssen. Aber dazu hätte es möglicherweise an ihrem Gedächtnis gehapert, denn obgleich ihr der Regierungsmitglieder einzelne Namen bekannt waren, war es dennoch möglich, wenn nicht gar wahrscheinlich, dass in diesem kritischen Moment ihr Gedächtnis versagte. Dann hätte sie ihre Autorität als Oberprokuristin in Scherben zerbrochen vom Fußboden auflesen müssen. Schwiegel jedoch blieb sich der Ungereimtheit des Vorgangs mittels dessen Charlotte ihn vorgestellt hatte unbewusst, denn seine Gedanken und Gefühle waren vom Anblick der bewunderten und geliebten Frau, der er jetzt zum fünften Mal begegnete, beherrscht. Aufmerksam auf sie war er geworden bei ihrem Vortrag von Für Elise, gelegentlich des Gedächtniskonzerts für Susanne Freudenberg; nächst hatte ihn seine Leidenschaft und Sorge um sie zu ihr als Schülerin in der berüchtigten Aletheia Universität der Kochkünste gezogen. Dann war er ihr im Döhringhaus bei Gelegenheit des von ihr inszenierten Gesangfestes begegnet. Bei der letzten, der vierten Begegnung hatte sie ihn an seinem Stammtisch im Vorgarten des Straßencafes "Zum grünen Kranze" aufgesucht um sich vom ihm betreffs ihres Verhältnisses mit dem Richter Lemuel Adams im Lichte ihres Wunsches die Döhringhausbewohner zu schützen beraten zu lassen. Und nun hatte er sie aufgesucht weil er sich um sie sorgte, und er begegnete ihr hier nun zu seinem Erstaunen als scheinbar Vorsitzende der Reichsregierungskammer im Penthaus des Regierungswolkenkratzers. Vieles möchte inzwischen geschehen sein das er um sie zu beraten, erfahren müsste, und doch wusste er nicht wie er diese unvermeidlich als Vertrauenssachen zu behandelnden Geheimnisse in Gegenwart dieser Vielzahl von Abgeordneten oder Ministern, denen er zwar vorgestellt war, von deren Identitäten er aber keine Ahnung hatte, in Erfahrung bringen könnte. Schwiegel war ratlos was er sagen sollte, und deshalb sagte er nichts. Inzwischen hatte Charlotte sich gefasst und bewies ein weiteres Mal dass sie nicht auf den Mund gefallen war. “Du bist gerade zur rechten Zeit gekommen mich vor mir selbst zu retten,” sagte sie. “Wieso denn das?” fragte Schwiegel. Er war erleichtert, dass Charlotte den Austausch zwischen ihnen auf eine zugängliche Bahn gesteuert hatte. “Das musst du mir weiter erklären.” Auch Charlotte fühlte sich aus der Zwickmühle einer misslichen Lage befreit. “Ich befahl Herrn Jeremias Zehplus, unseren Rechnersachverständigen mich mit seinem Wirkungsbereich hier in der Oberregierungskammer welche ich neuerdings als Oberprokuristin, nein als Präsidentin der Reichsoberregierungskammer, verwalte, bekannt zu machen. Dies Gesuch hat er mir mit keiner Erklärung anders als dass es unmöglich sei, ausgeschlagen; weswegen ich ihm mit einem Strafverfahren wegen Landesverrat drohte, und mehr noch, um ihm seine Geheimnisse zu erpressen, mit ausgesuchtem systematischen theresianischem Foltern, eine Drohung die mich durchaus praktisch durchfühbar dünkt, wenn auch nicht nächstliegend, denn unter unsern Mitarbeitern ist ein Regierungssachverständiger namens Karl, der in der Wissenschaft des Folterns als seiner Spezialität bewandert ist. Nun aber schäme ich mich, und weiß nicht wie ich der Zwangslage, der Klemme in die ich geraten bin, entkomme.” “Da bin ich aber nun wirklich zur gelegenen Zeit erschienen,” sagte Moritz Schwiegel. “Als als erstes erlaube mir, dich und mich für deine ungehörigen ungestümen Drohungen bei Herrn... wie heißt der Herr?” “Jeremias Zehplus,” “bei Herrn Jeremias Zehplus zu entschuldigen. Und das tue ich hiermit.” “Und ich,” sagte Zehplus, “nehme diese Entschuldigung an, und bitte Sie, Herr Moritz Schwiegel, eine Entschuldigung meinerseits an Frau Charlotte Magus entgegenzunehmen.” Diese großzügige Erwiderung von Jeremias Zehplus, machte Moritz Schwiegel stutzig und versetzte ihn in eine Verlegenheit die sich nicht so sehr aus dem sichtlichen Wohlwollen des Technikers ergab, als aus der Anrede “Charlotte Magus”. “So weit ist es also doch schon gekommen,” sagte sich Schwiegel verdattert, indem es zum ersten Mal in seinem Bewusstsein auftauchte, dass er tief versteckt in seinem Innern die Hoffnung gehegt haben möchte, eines Tages Charlotte zu Frau Schwiegel zu machen. Diese Vorstellung aber zerstob im Licht der Besinnung und lenkte Schwiegels Gedanken umso eindeutiger und entschlossener zu der Rechtsangelegenheit die ihm seine Mandantin, Charlotte Graupe oder Charlotte Magus, wie immer sie denn in diesem Augenblick heißen möchte, beschert hatte. “Charlotte”, sagte er, sich bewusst der Mehrdeutigkeit ihres Vornamens bedienend, “wir haben so oft Gelegenheit gehabt uns betreffs Berufsgeheimnissen zu verständigen, und solche gelten in allen wesentlichen gesellschaftlichen Unternehmen, nicht nur in den Bereichen der Rechtsanwaltschaft und der Medizin, sondern fraglos auch auf dem Gebiet der Informatik wo eine Unzahl höchstpersönlicher Daten oder Tatsachen elektronisch gespeichert, unmittelbar zugänglich sind, und ihre Auswertung, besonders mittels der sogenannten künstlichen Intelligenz, artificial intelligence, AI, unvoraussehbar weitreichende Folgen nach sich zu ziehen vermag. Ich schließe dass du Herrn Zehplus hier in dieser wenn auch geringen Öffentlichkeit um die Einzelheiten seiner Tätigkeiten angegangen bist. Das war ein Fehler wofür sich deinerseits Herrn Zehplus weitere Entschuldigung gebührt. Stattdessen solltest du mit ihm privat verhandeln. Mein Vorschlag, da ich nun einmal hier bin, ist, dass du die laufende Sitzung der Reichsregierungskammer bei der wir uns soeben befinden, auf morgen vertagst, und dass Herr Zehplus, du und ich, uns in eine der umliegenden Privatbüros begeben um das Problem welches du mit so außerordentlicher Ungeschicklichkeit, wenn du mir die Kritik erlaubst, angegriffen hast, von Neuem, de novo, zu überlegen und zu besprechen. Sind sie einverstanden, Herr Zehplus?” Das war er. Beide, Zehplus und Charlotte waren sichtlich erleichtert. Mit wenigen Worten vertagte Charlotte die Sitzung der Reichsregierungskammer auf den folgenden Tag. Die Minister verabschiedeten sich, und Jeremias Zehplus lud die beiden unerwarteten Gäste in seine Werktatt. Hier bat Zehplus ihnen bequeme Armsessel an, zog eine bewegliche schwarze Kreidetafel zwischen sich und die so eben geschlossene Tür und begann zu reden. “Ich weiß es garnicht, Herr Schwiegel, wie ich ihnen meinen Dank auszudrücken versuchen sollte, und ob es je möglich sein wird meine Schuldigkeit ihnen gegenüber abzutragen, denn ich empfinde mich nun schon seit Jahren in meinem Betrieb gefangen. Es ist mir eine große Erleichterung endlich die Gelegenheit zu haben mich auszusprechen. Sie haben mit ihrem Hinweis auf das unumgängliche Berufsgeheimnis ins Schwarze getroffen, sie haben den Nagel auf den Kopf geschlagen, denn wohl nicht prinzipiell in meinem Beruf, aber in der Stellung wo ich mich mit allen ihren Vor- und Nachteilen befinde, scheint das Geheimnis zu dem ich mich, auch mit der Folter bedroht, verpflichtet fühle, unumgänglich. Ich habe viel über meine Stellung, oder sollte ich sagen, über meine Lage nachgedacht, denn es ist das Wesen meines Berufs, des Rechnerprogrammierens, die unterschiedlichsten Erlebnisse in spezifische und noch dazu mathematische symbolische Formen zu übersetzen, und somit die vorliegenden Aufgaben, im gegebenen Falle, die Aufgaben des Regierens, mechanisch, maschinell, rechnerisch, und der Sache gemäß, unbedingt logisch zu entwirren, zu lösen, wenn entwirren und lösen die richtigen Ausdrücke sind, allenfalls in eine andere bestimmbare Form zu übersetzen. Das sind Vorgänge welche in anderen - ob in besseren oder schlechteren Zeiten mag dahingestellt bleiben - von erfahrenen Politikern, von Staatsmännern nach Gutdünken, Verständnis und mit Verantwortung durchgeführt wurden. Neuerdings ist fast alles digitalisiert, und wo die Digitalisierung noch nicht vollständig ist, da soll sie ergänzt werden. Die populäre, volkstümliche Vorstellung würde meinen, dass der Rechner denkt, und dass des Rechners Denken bestimmbarer, verlässlicher, zuverlässiger und gewissenhafter ist, als das Denken des Regierungsspezialisten oder Regierungskünstlers. So will ich ihn nennen, denn das ist er. Dem entsprechend liegt am Grunde, an der Quelle, meiner Arbeit ein Missverständnis das nur allzuleicht in Verwechslung, in Täuschung wenn nicht gar in Lüge aus- und überläuft. Nennen wir das Kind beim rechten Namen und heißen es Lüge. Denn zu dieser Urlüge des vermeintlichen Denkens des elektronischen Rechners gesellen sich weitere Lügen die um manches gefährlicher und zerstörerischer sind. Vielleicht am wesentlichsten ist die Tatsache, dass es möglich ist, und keineswegs schwierig, den Rechner selbst zum Lügen zu programmieren, und den Rechner somit zum Lügner zu machen. Das war die jahrelange Absicht der Reichsregierungskammer, welche Sie, Frau Magus doch endlich gnädiglich abgelöst haben. Lügnerisch ist die einzig passende Bezeichnungen für die Instruktionen, die Anweisungen, der Reichsregierungskammer welche ich jahrelang befolgen musste, so dass die Reichsregierung wie sie heute auftritt zu vollkommener Lüge geworden ist, und scheinbar nur als Lüge fortzubestehen vermag. Genau diese Tatsache war es, die es mir unmöglich machte ihnen gegenüber, in Gegenwart der Reichsregierungskammermitglieder wie sie sich um ihren ovalen Tisch versammelt hatten, die Wahrheit aussprechen. Denn unsere Regierung, unsere Gesellschaft vermögen nur im Dunkel der Lüge zu bestehen. Im Licht der Wahrheit fallen beide, Regierung und Gesellschaft wie Kartenhäuser in sich zusammen. Hätte ich diese Wahrheit ausgesprochen dann würde man mich einen Lügner gescholten haben, und hätte mich als einen Verräter bestraft. Ich verstehe sehr wohl, dieser Gefahr bin ich, dadurch dass ich nur ihnen das was ich als Wahrheit erkenne ausspreche, keineswegs entkommen. Sie müssen die Geheimnisse die ich ihnen verraten habe, und die ich ihnen verraten werde, unter allen Umständen als vertraulich geheim halten. Und erlauben sie mir eine Drohung. Wenn sie mich verraten, wenn sie mich zitieren, dann werde ich meine Bekenntnisse leugnen und werde Sie, Frau Magus und Sie, Herr Schwiegel der Lüge und des Verrats bezichtigen. Mir als langjährigen Vertrauten der Regierung, wird man glauben, sie aber wird man zum Opfer der Lüge bestellen, wird sie verfolgen und zerstören.” Jetzt war Jeremias Zehplus von seiner langen und leidenschaftlichen Erklärung sichtlich erschöpft und schwieg. In seiner Müdigkeit war er auf einem nahstehenden Stuhl zusammen gesunken, und saß nun mit dem Kopf in die Hände gestützt bewegungslos für so lange Zeit, dass Charlotte mit forschenden Blicken festzustellen versuchte ob er überhaupt noch atme. Aber er schlief nur, und nach einer langen Weile wachte er auf als hätte er nie geschlafen, und fing an mit einem Redefluss, als hätte er ihn nie unterbrochen. “Die Rechneranlage,” sagte Zehplus, “besteht aus einer zentralen Ordnung welche ich nur selten, sehr selten, Gelegenheit habe abzuändern. Außer diesem Rechnerkern, umfasst sie vier Eingaben- und zwei Vollzugskanäle welche weil sie gekoppelt sind und von der zentralen Ordnung gesteuert werden, fast autonomisch funktionieren, und keiner besonderen Wartung, nur einer allgemeinen Überwachung meinerseits bedürfen.” “Der erste Eingabenkanal gilt den Begünstigten. Er empfängt die Namen vornehmlich der Reichsregierungskammermitglieder, anderer hoher Beamten und solcher fast ausschließlich sehr wohlhabenden Bürger denen geldliche Zuschüsse, Steuerermäßigungen oder andere Vorteile und Güter angeschrieben werden, so wie etwa Aletheiavergünstigungen. Entschuldigen sie, bitte, denn ich weiß, dass Sie sich von dem was in der Aletheia vor sich geht, von Aletheiavergünstigungen also, keine Vorstellungen haben können, aber diese Aletheiavergünstigungen ihnen zu erklären wäre mit meinem Sittlichkeitsbewusstsein unvereinbar.” Hier wurde Zehplus von Charlotte unterbrochen. “Da bedarf es keiner Entschuldigung, Herr Zehplus,” sagte sie, “denn leider weiß ich aus eigenster Erfahrung wovon sie reden.” “Der zweite Eingabenkanal,” fuhr Zehplus fort, “gilt den Belastungen welche den Gesellschaftsmitgliedern unterschiedlich auferlegt werden im Verhältnis zu ihrem der Regierung vorteilhaftem, oder meistens nachteiligem Betragen. Da werden zum Beispiel die Namen der an Gesuchen und Demonstrationen beteiligten Bürger registriert und die Namen und Entscheidungen einzelner benannter Wähler für und gegen den Staat. Ergebnis ist dass die wenig Begeisterten, die Kritiker, die Unzufriedenen zunehmend mit Auflagen behelligt werden die ihnen das Leben bis zum Pegel der Unmöglichkeit erschweren. Besonders empfindlich sind die Beträge der Grundsteuern die erhöht werden um die bisherigen Besitzer, besonders wenn sie politisch unzuverlässig sind, und ihre Grundstücke diesem oder jenem Beamten begehrenswert erscheinen, so dass der Besitzer wegen der überzogenen Steuern zum Verkauf gezwungen, und der bevorzugte Beamte befähigt wird, das begehrte Grundstück zu fast unvorstellbar niedrigem Spottpreis zu erwerben.” “Für ihre ehrliche und aufrichtige Aussage bin ich ihnen, Herr Zehplus, von Herzen verpflichtet,” sagte Charlotte, “denn ich bin unverbrüchlich überzeugt, dass Sie mir die Wahrheit gesagt haben.” “Ach, liebste Frau Magus,” erwiderte Zehplus, “eben das ist das Schreckliche, dass ich Sie getäuscht habe.” Seine Stimme hatte aufs Neue zu zittern begonnen. Charlotte sagte, “Sie wollen mich glauben machen, dass Sie mich belogen haben?” Der vorige Zorn versuchte sich erneut in ihr zu bäumen, erinnerte sich aber seiner kürzlichen Niederlage und versiegte. Verzweifelt schaute Charlotte zu Moritz Schwiegel der sonst so behende allem Unerwarteten gewachsen schien; aber auch er war ratlos. Charlotte blieb nichts übrig als das Gespräch auf eigene Verantwortung fortzuführen. Sie sagte mit großer Entschlossenheit, “Also bitte erklären Sie mir weshalb Sie mir nicht die Wahrheit gesagt haben.” “Ich konnte es nicht, Frau Oberprokuristin.” “Und warum konnten Sie es nicht?” “Ich konnte ihnen die Wahrheit nicht sagen, Frau Oberprokuristin, weil es keine Wahrheit gibt.” “Ich weiß, Frau Magus, dass ich mir widerspreche, aber die einzige Wahrheit die ich ihnen mitzuteilen vermag, ist dass es keine Wahrheit gibt. Das ist die entsetzlichste Wahrheit, sie ist bedrohlicher als all die Folterungen die Maria Theresas Rechtsberater unter einander ausgeklügelt haben.” “Moritz,” sagte Charlotte, indem sie sich zu Schwiegel wandte. “Was sagst du dazu, wie verstehst du die Behauptung des Herrn Zehplus, dass es keine Wahrheit gibt?” “Ach, Charlotte,” antwortete Schwiegel, “die Frage um die Wahrheit ist ein philosophisches Problem das von Alters her bedacht und besprochen wurde, doch niemals, so viel ich es verstehe, gelöst worden ist. Ich vermute auch Herr Zehplus hat darüber nachgedacht, und wenn wir ihm die Gelegenheit geben, wird er uns seine weiteren Gedanken mitteilen.” Auf diesen Vorschlag das Gespräch in eine neue Richtung zu lenken, schien Zehplus nicht zu reagieren, denn er fuhr in den vorigen Gedankenbahnen fort. “Die an allen Wahllokalen eingesetzten elektronischen rechnergesteuerten Abstimmungsapparate sind verbunden mit dem zentralen Rechnergerät das sie dort in der Ecke sehen,” und er wies er mit seinem Zeigefinger an einen imposanten grauen mit rot, gelb und grün blinkenden Lichtern bestückten Kasten auf der entlegenen Seite des Zimmers. Inzwischen hatte er, abgelenkt von der Gewichtigkeit seiner Offenbarungen, den Faden seiner Gedanken verloren, und begann aufs Neue: “Die an allen Wahllokalen eingesetzten elektronischen rechnergesteuerten Abstimmungsapparate sind mit dem zentralen Rechnergerät direkt verbunden, der Name, Geburtstag, Sozialversicherungsnummer, Straßenadresse, Telephonnummer, und Email-adresse und natürlich die Wahlentscheidungen eines jeden Beteiligten sind dort gespeichert; und es ist eine meiner wesentlichsten Dienste nicht nur die Entscheidung jedes einzelnen Wählers an die Reichsregierungsmitglieder, an die Staatsanwaltschaft, an die Steuerbehörden zu vermitteln, und natürlich an die Geheimpolizei, sondern auch die Rechnerprogramme entsprechend der Anweisungen des Kanzlers oder der Kanzlerin und auch der Reichsregierungsmitglieder zu eichen um sie dann, je nach dem Ergebnis, zu justieren, einzustellen, zu korregieren, bis die Wahlergebnisse brauchbar und zufriedenstellend sind, damit die Ruhe der Gesellschaft und des Staates nicht beeinträchtigt wird. Weil ich dieser Pflicht stets mit großer Gewissenhaftigkeit nachgekommen bin hat man mich in meinem Amt zehn Jahre lang als unentbehrlich beibehalten, im Gegensatz zu meinen Vorgängern von denen die meisten nach der ersten Wahl die sie überwachten, sie denken im Stillen, entlassen, geschasst, davon gejagt wurden. Das natürlich, aber schlimmer noch, sie wurden unter den verschiedensten Vorwänden von der Geheimpolizei verhaftet und in sogenannte Konzentrationslager eingesperrt.” “Ohne Gerichtsverfahren, ohne Rechtsurteil?” fragte Charlotte mit Entsetzen. “Ach,” sagte Zehplus, “Sie sind scheinbar eine ehrliche Frau, aber wie es ihnen als eine solche gelingen kann ihr Amt zu verwalten ist mir unvorstellbar.” Jetzt wandte Charlotte sich zu Schwiegel, “Moritz,” sagte sie, “was soll ich mir dabei denken, was soll ich tun? Scheinbar gehörte es zu den Aufgaben des Herrn Zehplus seine Rechner zur systematischen Fälschung der Urkunden umzustellen. Hast du so etwas schon gehört?” “Gehört wohl nicht, vermutet aber habe ich es, und habe meinen Mandanten beständig geraten zu handeln als ob es so wäre.” Jeremias Zehplus schien jetzt erregt. Die Ruhe mit welcher er seine Ausführungen erstattet hatte, war gewichen. “Herr Schwiegel,” begann er, und weil ihm diese Anrede zu sachlich schien, wiederholte er, “Lieber Herr Schwiegel, auch ich möchte mich von Ihnen beraten lassen. Würden Sie mich als Mandanten annehmen? Ich werde für meine Bemühungen hier sehr gut bezahlt. Ich bin zuversichtlich, dass ich Ihre Gebühren zu bestreiten vermag, vielleicht sogar noch darüber hinaus.” “Ich bin von Ihrem Antrag gerührt und geehrt. Da gibt es vieles zu bedenken und zu besprechen,” antwortete Schwiegel. “Also vielleicht doch nicht?” sagte Zehplus mit einer Stimme die Angst und Enttäuschung zu verbergen versuchte. “Mein erster Vorschlag, an sie beide,” sagte Schwiegel, “ist dass wir unser Gespräch vertagen, um an anderem Ort, und zu anderer Zeit es wieder aufzugreifen. Fräulein Graupe und ich werden uns morgen früh um neun Uhr an dem üblichen Ort besprechen, und sobald Fräulein Graupe dann in Ihre Kanzlei zurückgekehrt ist, wird sie ihnen das Weitere mitteilen.” “Aber warum, Moritz,” fragte jetzt Charlotte, “hältst du es für wünschenswert, wenn nicht gar notwendig dieses Gespräch in dem Moment wo es sich ersprießlich, nein, in ungeahntem Maße ergiebig erweist, an einen anderen Ort zu verlegen, und somit zu unterbrechen?” “Aus demselben Grunde, Charlotte,” sagte jetzt Moritz Schwiegel, und es war auch seiner Körpersprache zu entnehmen, dass er sich jetzt ausschließlich an Charlotte, an seine geheime Geliebte wandte, “Aus demselben Grunde aus dem ich meinte dir raten zu sollen deine Befragung von Herrn Zehplus aus dem Kreis der hohen Regierungsbeamten, deren Anwesenheit ihm sein Berichten unmöglich machte, in sein Kontor zu verlegen, und dies mit scheinbar beträchtlichem Erfolg. Bestimmte Unterhaltungen erweisen sich in der Öffentlichkeit als unmöglich.” Da brach Jeremias Zehplus, obgleich er nicht angesprochen war, ins Gespräch. “Mir scheint, Herr Schwiegel, mit ihrer inbegriffenen Annahme unser Gespräch möchte auch hier, in meinem Arbeitszimmer überhört werden, befinden Sie sich in einem wesentlichen Irrtum. Selbstverständlich werden wir überhört. In jedem Möbelstück ist ein ans Ortsnetz eingebundenes Mikrophon; hinter jedem Bild an den vier Wänden eine ins LAN vernetzte Videokamera, so dass nicht nur ein jedes unserer Worte, sondern auch jeder Gesichtsausdruck, jede Geste von Hand und Körper aufgenommen, übertragen und gespeichert zu werden vermag, aber nur wenn diese Einrichtungen an- und eingeschaltet sind. Und ob Mikrophon und Kameras zugeschaltet sind also wie man im neuen deutschen Kauderwelsch sagt, live, lebendig, sind, und wohin, an welchen Empfänger Bild und Ton übertragen werden möchten, ob in einer Kartei bewahrt, oder unumgänglich gelöscht, das weiß nur ich, und das vermag auch nur ich zu bestimmen. Sie verstehen also dass hier unmittelbar am Zentrum der Macht die Vertraulichkeit unserer Gespräche verlässlicher gesichert sind als irgendwo sonst.” All diese Aussagen vernahm Charlotte mit großer Genugtuung, denn es war ja nun bewiesen, dass sie mit ihrer Einschätzung von Zehplus Recht gehabt hatte. “So werden Sie nun verstehen,” fuhr Zehplus fort, “wieso dieser Ort für mich der Sicherste, der Ungefährlichste ist, denn wenn die RGP, so heißen wir die Geheimpolizei, erführe, - und dabei versicherte er sich mit einem schnellen Blick an die Tür, dass sie geschlossen war, - dann würde ich, oder vielmehr dann würde meine Leiche, binnen einer halben Stunde vom gelegendsten Dachfirst baumeln.” Von diesen Ausführungen des Jeremias Zehplus waren beide Zuhörer tief beeindruckt. “Ja,” sagte Schwiegel, “entschuldigen Sie mich für meine Unterbrechung. Bitte fahren Sie mit der Beschreibung ihrer Anlagen fort.” Das tat Jeremias Zehplus. “Ich beschrieb die Überwachung aller Ausdrücke politischer Gesinnung, besonders der Wahlen. Aus dieser Überwachung ergibt es sich dass die wenig Begeisterten, die Kritiker, die Unzufriedenen, vorsätzlich mit zunehmenden Auflagen behelligt werden die ihnen das Leben bis zum Pegel der Unmöglichkeit erschweren. Besonders empfindlich sind die Bemessung der Grundsteuern welche aufs Unbezahlbare erhöht werden um die bisherigen Besitzer, besonders wenn sie politisch unzuverlässig sind, und ihre Grundstücke diesem oder jenem Beamten besonders begehrenswert zu erpressen, so dass der Besitzer zum Verkauf gezwungen wird, und der bevorzugte Beamte befähigt, das begehrte Grundstück zum vorstellbar niedrigsten Kaufpreis zu erwerben.” “Der dritte Eingabenkanal speist das System, die Anlage mit Daten in Bezug auf mögliche oder tatsächliche Flüchtlinge, will sagen auf Personen deren Verfolgung den Behörden als in diesem oder jenem Maße als wünschenswert wenn nicht gar als notwendig erscheinen möchte.” Hier wurden die ausführlichen Erklärungen des Jeremias Zehplus von Charlotte unterbrochen. “Bitte erklären Sie mir,” sagte Charlotte mit einer Festigkeit der Stimme mit welcher sie das Gezitter ihres Gemütes zu verbergen versuchte, “Bitte erklären Sie mir,” wiederholte Charlotte, “nach welchen Kriterien, nach welchen Indizien, nach welchen Erkenntnispunkten, die Kandidaten zur Verfolgung ausgesucht werden.” “Das ist,” antwortete Zehplus, “eine Frage die bei weitem nicht so einfach zu beantworten ist, denn die verschiedensten Erwägungen spielen in sie hinein.” “Die möchte ich hören,” sagte Charlotte, “darüber insbesondere ist es mir wichtig aufgeklärt, informiert, zu werden.” “Vielleicht am wesentlichsten,” begann Zehplus, “wenn nicht am markantesten sind die Einstellungen, die Ansichten der Wähler.” “Der Wähler?” unterbrach Fragen Charlotte, “ist jemals die Frage, ‘Wen möchtet ihr am Liebsten verfolgen?’ auf einem Wahlzettel erschienen?” “Das wohl nicht,” aber die Kandidaten zu den verschiedenen Ämtern, wie du weißt, machen sich beliebt, und steigern ihre Beliebtheit, ihre Popularität, indem sie auf die möglicherweise unbeliebten ihrer Mitmenschen Hetzkampagnen anstiften, anzünden, und wenn einmal entflammt, dann anfachen zu immer heißeren und höheren Flammen und mit dem steigenden Haß gegen ihre Opfer steigt auch die eigene Popularität des Hetzers. Es ist eine leicht überprüfbare historische Tatsache, dass die Staatsanwälte deren Ermessen entsprechend Strafverfahren eingeleitet werden, infolge dieser Tätigkeiten die beliebtesten und erfolgreichsten Bewerber für politische Ämter sind.” “Dafür bezeichnend ist das Schicksal eines Maximilian Katenus. Das ist ein ihnen wahrscheinlich unbekannter Name. Katenus stammt von jener Insel, die wir Regierungssachverständige, die aus rechtlicher Perspektive innig mit der Insel vertraut sind, die Lügeninsel nennen.” “Der Fall interessiert mich,” sagte Charlotte. “Würden Sie so gut sein mir von der Verfolgung des Herrn ... wie sagten Sie dass er hieße?” “Katenus,” antwortete Zehplus, “Wenn ich recht erinnere, heißt er mit Vornamen, Maximilian. Also Maximilian Katenus.” “Ich bitte Sie,” sagte Charlotte, “mir über das Leben und über die Verfolgung dieses Menschen in Einzelheiten zu berichten?” “Seine Geschichte ist so vielfältig und umfangreich, dass ich mich nicht auf mein Gedächtnis verlassen möchte,” sagte Zehplus, “Erlauben Sie mir das System zu befragen.” Und das tat er. Mit wenigen Griffen in die Tasten ermittelte Zehplus die einschlägigen Karteien und begann darin zu lesen. Nach einigem Überlegen bemerkte er, “Der Stoff über Maximilian Katenus welchen das System gesammelt hat ist sehr weitläufig. Wie möchten Sie, dass ich ihnen diese Fülle mitteile?” “Die Karteien abzudrucken, vermute ich,” sagte Moritz Schwiegel, “ist unerlaubt.” “Da haben sie recht, Herr Schwiegel,” erwiderte Zehplus, “eine gedruckte Datenspur würde mich, wenn man sie entdeckte, ins Unglück stürzen.” “Ich schlage vor,” fuhr Schwiegel fort, “dass wir den Anfang machen, indem Sie uns den Text auf dem Bildschirm zeigen. Das ermöglicht es uns Dreien ihn zusammen zu lesen, zu bedenken, und vielleicht zu besprechen.” Und so geschah es. Was auf dem Bildschirm erschien, lasen sie zusammen: “Anscheinend ist Maximilian Katenus von der Insel geflohen. So bald seine Abwesenheit bekannt wurde hat man auf Befehl des Polizeipräsidenten Leopold Brandes das von Katenus mit Elly Solmsen bewohnte Haus durchsucht. Bei dieser Durchsuchung wurde ein maschinen-gedruckter Text, eine Biographie des Maximilian Katenus entdeckt, jedoch ohne Hinweis auf den Verfasser.” “Diese Biographie möchte ich lesen," sagte Charlotte, die ist mir von besonderem Interesse. Zeigen Sie sie uns bitte auf dem Bildschirm.” “Hier sind die Ablichtungen,” erwiderte Zehplus, “bitte, nehmen Sie sich mit dem Lesen Zeit, und sagen mir wann ich zur nächsten Seite umschlagen soll.” Ohne zu antworten begannen beide, Schwiegel und Charlotte zu lesen. “Maximilian Katenus wurde im Dorf Drübeck, im nördlichen Harzvorland und heutigen Sachsen-Anhalt, geboren. Dort wirkte sein Vater, der ältere Katenus, als Landarzt. Max, wie sie ihn nannten, besuchte dort vier Jahre lang die Grundschule. Als er zehn Jahre alt war, wurde er von seinen Eltern ins Siemens Gymnasium in Bad Harzburg eingeschrieben. Nun fuhr er an jedem Schultag mit der Eisenbahn in die kleine Besucherstadt am Rande des Harz wo natursüchtige und natursuchende aus Braunschweig Erholung von den Strapazen des täglichen Daseins suchten. Während dieser Jahre nährte er seinen Wissensdrang nicht nur, und vielleicht in nur geringem Maße mit schulischen Übungen. Er hatte sich im Keller seines Vaterhauses ein Laboratorium eingerichtet wo er auf eigenen Antrieb, wenn er des Nachmittags aus Harzburg zurück gekehrt war und an Wochenenden, chemische und vor allem elektrotechnische Untersuchungen anstellte. Nach neun Jahren Gymnasium, bestand er die Reifeprüfung und immatrikulierte in der Universität Göttingen. Dort studierte er vornehmlich Mathematik unter David Hilbert und Felix Klein. Sein eigentliches Interesse aber galt der Philosophie. Doch war sie ein Gebiet auf dem er keinen akademischen Anschluss erreichte, weil er, eigenbrötlerisch wie er nun einmal war, jeglichen fremden Gedanken meinte Widerstand leisten zu müssen, indem er darauf erpicht war seinem eigenen Denken, und nur seinem eigenen Denken, nachzuspüren. Was aus Maximilian Katenus in normalen Zeiten geworden wäre lässt sich heute kaum noch ahnen.” “Es waren die Jahre wo die National-Sozialisten ans Regierungsruder gelangten. Sie vernahmen dass er kein Mitglied ihrer Herde war, und sie verfolgten ihn als ob er Jude wäre. Sie drohten ihm, ihn wegen seiner Eigensinnigkeiten in eines ihrer berüchtigten Konzentrationslager zu sperren. Eh er von diesem entsetzlichen Schicksal ergriffen wurde, wanderte er aus, erst nach England, aber dann, weil er dort als Deutscher nicht willkommen war, weiter nach Nordamerika, in die Vereinigten Staaten. Er ließ sich in Massachusetts nieder, weil dieser Staat ihn an Europa, an seine einstige Heimat, erinnerte, und ihr von allen Örtlichkeiten der neuen Welt, dem alten Europa am ähnlichsten schien.” “Inzwischen entwickelte er sich zu einem Mann der es zu seinem Lebensziel gemacht hatte, alles von den Menschen gewusste selbst zu wissen. Das ist ein sehr anspruchsvolles Vorhaben. Katenus sah dessen Unmöglichkeit ein, und er war der erste sie zu bekennen. Es verstand, dass es galt betreffs seines Nichtwissens gelehrt zu werden, und nach dem Vorbild eines Denkers des späten Mittelalters, nämlich des Nikolaus von Kues an der Mosel, entwickelte er eine gelehrte Unwissenheit, seine eigene Docta Ignorantia.” “Schließlich fühlte er sich auch auf diesem Festland der Neuen Welt ein Fremder. Es war sein Bedürfnis nach Einsamkeit, welche ihn auf jene Insel zog welche ich mit dem Namen Lügeninsel bezeichnet habe. Dort beabsichtigte er zu denken und zu schreiben, das war, seinem Sinne gemäß, zu leben. Er war allein, und dennoch nicht vereinsamt. Er mietete sich ein kleines Haus, und engagierte ein einfache, liebenswürdige, anspruchslose Frau, sie hieß, oder heißt Elly Solmsen, es für ihn zu führen. Elly verliebte sich in Katenus, oder sollte es heißen, sie verliebten sich in einander, und wurden Lebensgefährten, obgleich sie nie heirateten. Katenus liebte nicht nur seine Frau, er liebte das Meer, den berieselten Strand, die gold-gelben Dünen, den blauen Himmel, die weißen Wolken und die grüne, wenn auch struppige Landschaft; und diese liebte er so sehr, dass er seine bescheidenen Ersparnisse mit Ankauf, Aufkauf, Erwerb des von anderen missachteten Geländes anlegte. Indem sich die Insel im Laufe der Jahre zu einem beliebten Erholungsort entwickelte, stieg der Wert seiner Anschaffungen in ungeahnt hohe Bereiche. Es ist nicht verwunderlich dass sein unerwarteter Reichtum bei seinen Nachbarn und Inselmitbewohnern Argwohn und Neid auslöste die Katenus übermäßig schmerzten und betrübten, denn ihm war an der Freundschaft der Menschen, um das schicksalsträchtige Wort Liebe zu vermeiden, viel gelegen. Nun erfasste Katenus den Beschluss seine Bekannten in Freunde zu verwandeln und ihr Wohlwollen dadurch zu gewährleisten dass er ihnen von seinem Grundbesitz das Schönste und Wertvollste, nein, nicht verkaufte, sondern dass er es ihnen schenkte. Er besprach sein Vorhaben mit Elly, die seinen Plänen zuzustimmen gewohnt war. Dies Mal aber reagierte sie verstört, fast erschrocken. Ohne eine Erklärung zu wagen, fing sie an zu weinen. ‘Ich habe Angst, sagte sie, ich habe solche Angst.’ ‘Aber wo vor denn,’ fragte Katenus bestürzt, ‘Ach, vor den Menschen,’ sagte Elly. ‘Du kannst dir ja garnicht vorstellen wie böse die Menschen sind. Sie werden deine Großzügigkeit als Schwäche auslegen, sie werden über dich herfallen wie wilde Hunde, nein, wie Wölfe, und werden dich zerreißen.’” “Das ist es, was der Rechner uns berichtet,” setzte Jeremias Zehplus bescheiden hinzu. “Ich weiß nicht, ob ich vermag es richtig zu verstehen; ich weiß nicht ob ich es überhaupt zu begreifen vermag. Letzten Endes ist jedoch die Deutung nicht, nur die Vermittlung, die Übertragung ist mein Amt.” “Aber Herr Zehplus,” sagte Charlotte, die meinte sich an diesem Punkt des verstehen oder nicht verstehen Könnens, in das Gespräch einfädeln zu sollen, “Wenn Sie die Rechnerberichte der Lehren des Verfolgten, wie immer er heißen mag nicht verstehen, meinen sie wirklich, dass dies den Mitglieder der Reichsregierungskommission gelingen sollte?” “Ach, keineswegs. Deren Denken ist ein sehr seichtes, wenn man es überhaupt mit dem Wort Denken bezeichnen kann. Sie suchen ja keine Wahrheit. Sie fühlen keine Notwendigkeit zu verstehen. Sie bedürfen für die Verfolgungen welche sie inszenieren nichts als den Vorwand, dass es einer wagte anders zu sein als die Herde deren Folgsamkeit sie zu erzwingen wissen.” Hier unterbrach Moritz Schwiegel. “Sie haben recht. Ihre Erklärung finde ich sehr überzeugend. Aber eines entgeht mir, Herr Zehplus”, fügte er hinzu. “Und das wäre?” fragte Zehplus. “Dass Sie nicht wissen, wer diese Biographie des Herrn Katenus geschrieben hat.” “Es steht aber doch nirgend geschrieben”, erwiderte Zehplus. “Vielleicht haben Sie recht,” erwiderte Schwiegel, “Ich aber meine in fast jedem Satz den Stempel des Verfassers zu erkennen.” “Das müssen Sie mir erklären.” “Ich gebe zu, ich bin kein Literaturgelehrter, aber ich meine überall in diesem Text eine Beschreibung, ein Bekenntnis des eigenen Erlebens zu lesen, denn das was hier geschrieben steht, kann ein Mensch nur von sich selber wissen.” “Ja,” sagte Zehplus, “der Rechtsanwalt versteht das Lesen besser als der Rechnerprogrammierer. Denn das Auslegen von Worten ist ja schließlich sein Beruf.” Schwiegel war von dieser Anerkennung unberührt. Er schwieg. Schließlich sagte er, “Es scheint mir unverkennbar dass man Elly verfolgt weil sie Katenusens Geliebte ist, wenn man mir erlaubt, das Kind beim rechten Namen zu nennen; dass man Katenus aber verfolgt, weil er anders ist als seine Mitbürger, weil er sich in seinem Handeln und Denken von der Menge, von der Herde unterscheidet. Solch Ausstoßen aus der Gemeinschaft ist oft zu beobachten, auch unter den anderen Tieren, und vielleicht besonders unter ihnen. Katenus erscheint als ein schwarzes Schaf under den weißen.” “Doch daran ist nichts zu ändern,” wandte Charlotte ein, "Oder meinst du?" "An Katenusens Wesen, an seiner gesellschaftlichen Biographie.” sagte Schwiegel, “gewisslich nicht.” “An seinem Denken,” fügte Charlotte hinzu, “noch weniger.” “Sie vergessen aber beide, meine Damen und Herrn," widerlegte Zehplus, als ob er er zu einer Versammlung spräche, “was ich ihnen als Rechnerprogrammierer zu versichern vermag, dass der Rechner gegen eins und null, nein, gleichgültig wäre der unpassendste Ausdruck, denn das elektronische Rechnen besteht ja in der Bearbeitung der Binarität, aber gegen die Dinge die mit Null und Eins bezeichnet werden, ist der Rechner unvoreingenommen. Zugegeben, verfahrenstechnisch ist er äußerest empfindlich, aber wie altjungferlich er auch sonst im Vorgehen sein mag, was den Inhalt seiner Karteien anbelangt ist der elektronische Rechner unbekümmert und gleichgültig, liederlich unvoreingenommen. Er kennt werde Lüge noch Wahrheit. Ob ich oder irgend ein anderer Benutzer aus den Mengen von Nullen und Eins, Ja oder Nein konstatiere ist ihm egal. Er verfügt über keine Augen in die ihr zu blicken vermöchtet, um zu ermitteln ob er die Wahrheit sagt oder ob er lügt.” “Ja dann”, fragte Charlotte, und sie sprach als sei ihr ein Licht aufgegangen, “hab ich recht, dass es möglich ist den Rechner umzustimmen, ihn mit einem neuen Programm zu versehen, welches ein neues Lied, eine andere Melodie verkündet? Gewiss sollte es möglich sein, die Weichen zur Wahrheit umzustellen, so wie wir es in der Aletheia eingeübt haben.” “Genau, genau,” sagte Jeremias Zehplus, “genau diese Gedanken sind mir durch den Kopf gegangen, denn technisch ist soetwas sehr einfach. Man löscht die alten unliebsamen, die Bevölkerung und die Beamtenschaft verunsicherenden Berichte ...” “Beide, Katenusens Biographie und seine unkonventionellen Ansichten," unterbrach Charlotte fragend, aber Zehplus fuhr fort, als hätte er sie nicht gehört: “und ersetzt sie mit mehr annehmbaren Kompositionen. Aber dazu bedürfte ich ihre Hilfe, denn ich bin kein Schriftsteller. Ich kann nicht dichten.” “Moritz,” sagte Charlotte mit ihrer einnehmendsten Stimme, "wärst Du bereit Herrn Zehplus bei der Abänderung der Kartenuskarteien behilflich zu sein?" Schwiegel war nachdenklich und zögerte mit seiner Antwort, so dass Zehplus mutmaßte sie würde abschlägig ausfallen. Charlotte aber war mit Schwiegel zu vertraut um an seinem Wohlwollen und seiner Hilfsbereitschaft zu zweifeln. Schließlich antwortete er und sagte. “Es ist überraschend zu augenblicklicher Handlung von einer Frage herausgefordert zu werden, die ich vormals als Theorie erwogen hatte, die aber in der Lage in welcher wir uns jetzt befinden zwingend und entscheidend wird. Diese Frage ist nicht unter welchen Umständen mir eine Lüge erlaubt wäre, sondern unter welchen Umständen es mir geboten sein möchte zu lügen. Ich besinne mich auf den Streit zwischen Immanuel Kant und Moses Mendelssohn, ob es mir geboten oder verboten wäre einen ihn begehrenden Mörder über die Anwesenheit des Freundes der sich in meinem Hause versteckt hält zu belügen. Zu Grunde liegt die unerforschte Unbestimmtheit, was eine Lüge denn eigentlich ist. Aber nach dieser Antwort zu forschen ist jetzt nicht die gehörige Zeit. Stattdessen möchte ich Sie beide versichern, dass ich bereit bin so gut ich kann, ihnen beim Umschreiben der Katenuskarteien zu helfen.” Mit dieser Zusage, mit diesem Versprechen Schwiegels bei der Vertarnung von Katenusens Gedanken behilflich zu sein, hatte die vertrauliche Besprechung zwischen Charlotte, Zehplus und Schwiegel ein unerwartet frühzeitiges Ende genommen. Die Frage was die Behörden über Katenus wussten war nun endgültig beantwortet. Sie wussten alles, und was sie wussten genügte, nachdem es die Geheimpolizei zur Kenntnis gekommen hatte, sobald er an der Reihe war, zu Katenusens Ruin. “Ach,” sagte Charlotte und wandte sich zu Zehplus, “Ich bin ihnen ja so dankbar. Die Informationen welche Sie uns erteilten, haben Katenus gerettet, und vielleicht auch über ihn hinaus, uns alle.” “Bitte aber vergessen Sie nicht,” antwortete Zehplus, “dass unser Gespräch streng vertraulich war, und streng vertraulich bleiben muss. Ich habe ihnen ihre Fragen als meine Vorgesetzte mit bedingungsloser Offenheit und Wahrhaftigheit beantwortet. Ich verlasse mich auf den Schutz den Sie solange Sie ihre Machtstellung inne haben, in der Lage sind mir zu gewähren. Was hinterher geschehen möchte, wage ich mir nicht vorzustellen.” Daraufhin erklärte Schwiegel, “Wir haben viel Grund einander zu vertrauen, und für das allseitige Verständnis, dankbar zu sein.” Nach diesen tröstenden Worten trennten sich die Drei, und ein jeder machte sich auf den Weg nach Hause. Charlotte war mit dem Ergebnis der Konferenz sehr zufrieden. Ihren nächsten Schritt in dieser Angelegenheit vermochte sie dennoch nicht zu vorauszusehen. Auch Schwiegel war vom Wert der von Zehplus gelieferten Informationen überzeugt. Er war aber mit Katenusens Eigenarten vertraut genug, um in Frage zu stellen, ob Katenus mit der beabsichtigten Vertarnung durch die Eingabe von fiktiven Daten in die Reichsrechneranlage einverstanden sein würde. Katenus war sein Mandant, und er war Katenusens Vertreter. Er durfte sich nicht ohne dessen Einwilligung an diesem Unternehmen beteiligen. Vorübergehend war es ihm durch den Kopf gegangen, ob er sich vielleicht darauf verlassen sollte, dass Katenus von Charlotte, die ja in dem selben Hause wohnte, über das beschlossene Vorhaben aufgeklärt würde, entschied dann aber umgehend, dass dies ein Fehler wäre. >> Sechstes Kapitel - 7045 << Der Fahrstuhl in dem Schwiegel sich jetzt befand stürzte mit so atemberaubender Geschwindigkeit in die Tiefen, dass es ihm blitzartig einfiel ob trotz des Summens der Kabel die Bremsen vielleicht doch versagt hätten, und ob er mit den verschiedenen anderen Insassen dieser engen Kabine einem absehbaren tödlichen Aufprall entgegengeschleudert würde. Ratsuchend blickte er auf seine Begleiter. Deren Gesichter aber waren ausdruckslos als hätten sie sich mit ihrem Schicksal versöhnt. Oder war es vielleicht ein Zeichen des Todesaugenblicks, so ging es jetzt durch Schwiegels Gemüt, dass einem dann das Schicksal so gleichgültig wurde, dass es es den Menschen überhaupt nicht bekümmerte, weil er ohnmächtig es nicht von sich abzuwenden vermochte, und es ihn deshalb nicht mehr berührte? Jetzt, plötzlich, nachdem Schwiegel, den Umständen ergeben, fast beruhigt, aufgehört hatte sich zu fürchten, fühlte er gegen das karierte Parkett, in seinen Fußsolen den wachsenden Druck der endlich unverkennbar die rettende Geschwindigkeitsabhnahme besagte. Kaum bedacht, war der Fahrstuhl im Parterre zum Stehen gekommen. Die Angst, so sagte sich Schwiegel, ist ein unentrinnbarer Bestandteil des Daseins. Jetzt wieder erinnerte er die Vorhaben der am Gespräch in der Rechnerstube Beteiligten. Jeremias Zehplus hatte vorgeschlagen, hatte sich sogar angeboten, Maximilian Katenus und einbezogen die gesamte Döhringhausfamilie zu beschützen in dem er den Karteien seines Rechners eine geläuterte Erzählung, oder sollte es heißen, einen fingierten Bericht, von Maximilian Katenusens Person und dessen Lebenslauf eingäbe, mit dem Zweck die Verfolger auf eine falsche Fährte abzulenken, und die Verfolgten so weit wie möglich von der Gefahrenzone zu entfernen. Eh es ihm, Schwiegel, selber erlaubt wäre an diesem klugen und wünschenwerten Vorhaben teilzunehmen, würde er die Zustimmung seines Mandanten einholen müssen, und dies besonders weil er vertraut war mit Katenusens leidenschaftlicher Verehrung von soetwas wie Wahrheit, und seiner Verachtung jeglicher Kompromissbereitschaft zwecks des Überlebens auf Kosten dessen was Katenus meinte sich als Wahrheit vorstellen zu müssen. Um eine rechtskräftige Zustimmung einzuholen, bedürfte es einer Konferenz, einer Besprechung mit Katenus und Elly an der auch Zehplus und Charlotte beteiligt sein müssten, weil es ja diese beiden waren, die den Rettungsplan entwerfen und ausführen müssten. Wo aber sollte eine solche Besprechung stattfinden? Wie und von wem sollte sie organisiert werden? Es war doch ein Fehler gewesen, sagte sich Schwiegel, das Arbeitszimmer des Rechnerexperten Jeremiah Zehplus so unüberlegt verlassen zu haben. Aber jetzt umzukehren und sich dorthin zurückzubegeben wollte er auch nicht. Die Ordnung, oder Unordnung, die ihn dort bei seiner Rückkehr erwartete, wäre ihm zu ungeheuer als dass er sich zutraute ihr erfolgreich begegnen zu können, vermochte er doch nicht einmal sie sich vorzustellen. Dann fiel es Schwiegel ein, dass Charlotte sich in derselben Verlegenheit befinden müsste wie er selber, und dass um die erwähnten neuen Pläne umzusetzen zum mindesten eine weitere Besprechung zwischen den Katenus und ihren drei besorgten Rettern, also Zehplus, Charlotte und ihm selber, nötig sein würde. Um diese Besprechung zu verabreden würde einer von den Dreien die beiden Anderen aufsuchen müssen. Bei diesem Gedanken wurde es Schwiegel klar, das Einfachste und Unmittelbarste die Verhandlungen einzufädeln würde sein, vorläufig regelmäßig an seinen kleinen runden weißen inoffiziellen Stammtisch im Vorgarten des Restaurants "Zum grünen Kranze" zu erscheinen und dort auf Charlotte zu warten. Fände auch sie sich dort ein, wäre das Schwellenproblem beseitigt. Erschiene sie aber nicht, so würde er Zeit haben sich zu überlegen, wie er sich anderweitig mit ihr in Verbindung setzen könnte. Und so sollte es, aber erst nachdem einige Zeit vergangen war. eines Tages geschehen, Ob wenige Wochen, oder gar Monate, oder auch nur Stunden, was kam es darauf an? Denn “Was ist Zeit?”, fragte sogar Charlotte sich selber, fragte ihre Bekannten und Berater, aber keiner, nicht einmal die philosophierende Reinemachefrau Mathilde vermochte ihr eine Antwort zu geben. Stattdessen schüttelteten alle die Charlotte im Oberregierungsamt nach der Zeit fragte ihre Köpfe, denn sie vermuteten dass die Oberprokuristin welche eine Frage stellte wie etwa: “Was ist Zeit?” nicht mehr ganz richtig im Oberstübchen war, und sie bedachten die Problematik, die sich daraus ergeben möchte, und wohin es führen könnte, unter der Aegis einer Wahnsinnigen eine Regierung zu bilden und einen Staat zu verwalten. Oder möchte es der Befragte sein, der wahnsinnig war, die im Englischen so unmissverständliche Frage “What is the time?” schlicht und einfach ins Deutsche als “Was ist die Zeit?” zu übersetzen. Doch nun war es für die genaue gewissenhafte Antwort, “Fünf Minuten nach zehn,” zu spät. Doch die Frage, “Was ist die Zeit?” so wie auch die Antwort darauf, ergab sich als belanglos, denn schließlich würde es doch ganz anders kommen, sagte sich Charlotte. War es nicht das Wesen der Zeit, weit entfernt uns auf das Kommende vorzubereiten, das Zukünftige zu verschleiern, um es schließlich mit der Gegenwart zu ersetzen, mit der Gegenwart in der es allein uns möglich ist zu gedeihen, nein, nicht nur zu gedeihen, sondern überhaupt zu überleben. Es war die klare Artikulierung dieser Einsicht womit Charlotte am folgenden Tage die Plenarsitzung der Reichsregierungskammer deren Vorsitzende sie war, eröffnete. Da saß sie nun an der oberen Rundung des ovalen Tisches, und blickte umher. Unmittelbar zu ihrer Rechten saß Mathilde, die philosophierende Reinemachefrau, welche ihre philosophischen Brocken unter dem Tisch zusammen zu fegen pflegte. Unmittelbar zu Charlottens Linken saß Jeremias Zehplus der sie in der Konferenz mit Schwiegel in die Geheimnisse der Reichtsregierungskammer eingeweiht hatte. In diesem Moment durchstrich Charlotte der skurrile Gedanke, dass sie und Jeremias durch ein Geheimnis verbunden waren, das nur von Schwiegel dessen Beruf ja das Geheimnistun und das Geheimnishalten war, geteilt wurde; oder so schien es Charlotte jetzt, ein Geheimnis das keiner von ihnen verraten durfte, und dass ja am Anfang und am Ende das Wesen des Geheimnisses die vorgetäuschte Reinheit war, dass die schnöde Offenbarung, wie etwa in der Aletheia, hingegen schmutzig war, der Inbegriff der Pornographie, oder sollte es der Genauigkeit halber heißen, Pornophonie. Bei diesem Wort, Pornophonie, erinnerte Charlotte, nein, nicht nur die Worte, besonders erinnerte sie die Melodie eines Liedes das sie in der Aletheia gelernt, und von dem es ihr jetzt klar wurde, dass sie es verdrängt hatte. Jedes der Übungszimmer der Aletheia war mit einem verputzen Lautsprecher ausgestattet aus dem vom Präzeptoren auswählbare Hintergrundmusik ertönte. Auch die Lautstärke war nach belieben einzustellen. Und als Charlotte jetzt den ovalen Tisch herum, die von ihr adhoc eingesetzen Reichsregierungsräte musterte, da am entlegenen Ende sah sie auch Lemuel Adams, zwischen Chuck und der Polizistin sitzen. Weil sie meinte dass sie ihr Kabinett stärken würde, hatte Charlotte diese beiden Beamten gleichfalls zu Mitgliedern ihrer Regierung ernannt. Das Lied was Charlotte jetzt durchs Gemüt zog, war das Lieblingslied des Richter Adams; immer und immer wieder hatte er es bei fast jedem Besuch nicht nur einmal, sondern mehrere Mal abspielen lassen, und mit fast der höchsten Lautstärke, um, wie er sagte, die Banalität der Umwelt zu übertönen. Jetzt, beim Anblick von Lemuel Adams zwischen seinen Polizeibegleitern, Chuck und Liese, von denen sie nicht wusste ob die beiden des Richters Begleiter oder seine Wächter waren, erinnerte Charlotte sich nicht nur der Worte sondern besonders auch der Melodie des Aletheialieds: Und wie von Innen drang es aus ihr heraus, indem sie zu singen begann: Blick' ich umher in diesem edlen Kreise, welch hoher Anblick macht mein Herz erglühn! Hielt dann aber plötzlich inne, denn sie wurde sich bewusst, wie unüblich an diesem ovalen Tisch zu singen, und noch dazu als Vorsitzende. Fuhr aber fort mit dem Aufsagen der dritten und vierten Zeilen des Gedichts, und fand auch die Beschreibung der Mitglieder dieser Runde "So viel der Helden, tapfer, deutsch und weise, - ein stolzer Eichwald, herrlich, frisch und grün." fragwürdig, denn nur von Jeremias Zeitplus hätte Charlotte zu behaupten gewagt er ein tapferer und weiser Held, um die Frage der Volksangehörigkeit unerwähnt zu lassen. Dabei hatte das Gedicht solche Macht über Charlotte gewonnen, dass sie es laut, von Anfang an, coram publico wiederholte. Blick' ich umher in diesem edlen Kreise, welch hoher Anblick macht mein Herz erglühn! So viel der Helden, tapfer, deutsch und weise, - ein stolzer Eichwald, herrlich, frisch und grün. Und hold und tugendsam erblick' ich Frauen, - lieblicher Blüten düftereichsten Kranz. Es wird der Blick wohl trunken mir vom Schauen, mein Lied verstummt vor solcher Anmut Glanz. - Da blick' ich auf zu einem nur der Sterne, der an dem Himmel, der mich blendet, steht: es sammelt sich mein Geist aus jener Ferne, andächtig sinkt die Seele in Gebet. Und sieh! Mir zeiget sich ein Wunderbronnen, in den mein Geist voll hohen Staunens blickt: aus ihm er schöpfet gnadenreiche Wonnen, durch die mein Herz er namenlos erquickt. Und nimmer möcht' ich diesen Bronnen trüben, berühren nicht den Quell mit frevlem Mut: in Anbetung möcht' ich mich opfernd üben, vergiessen froh mein letztes Herzensblut. - Ihr Edlen mögt in diesen Worten lesen, wie ich erkenn' der Liebe reinstes Wesen! KK 10. Kapitel KK << 7222 >> Mehrere Tage waren vergangen. Charlotte war mit der Zusammenstellung ihrer Regierungsbehörden, und, ja, ihrer Regierung beschäftigt, obgleich es die liederliche Verantwortungslosigkeit der Mitglieder der Reichsregierungskammer gewesen war, zusammen natürlich mit des Richter Adams verzweifelten Auswegslosigkeit, welche ihr den unwahrscheinlichen Pfad zu ihrer neuen Machtstellung eröffnet hatte, und ihr die Gelegenheit bereitet hatte eine völlig neue Regierung ganz nach eigenen Maßstäben und eigenem Gutdünken zusammen zu stellen. Im Verlauf der organisatorischen Bemühungen um die Regierung für welche sie nun verantwortlich war, hatten sich Charlottens Besorgnisse um die Verfolgung von Katenus und Elly und um die mögliche Verfolgung anderer Mitglieder der Döhringhausfamilie in einen Hintergrund versetzt wo sie die ordentliche Zusammenstellung der neuen Regierung nicht beeinträchtigten. Jetzt, wo die neue Regierung aufgestellt war und jedenfalls die Aussicht bestand, dass sie funktionieren würde, waren die Gefahren in denen Katenus und Elly sich befanden erneut in den Vordergrund von Charlottens Bewusstsein gerückt, denn es war nun einmal unverkennbar, dass je reibungsloser die behördlichen Vorgänge, umso heikler müsste die Situation der beiden Flüchtlinge eingestuft werden. So bestand die Möglichkeit, dass die gesteigerte Leistungsfähigkeit der neuen Regierung die Gefahren welche die beiden Flüchtlinge bedrohten steigern würden, statt sie zu vermindern. Auch musste Charlotte bei allem guten Willen und bei aller Entschlossenheit einsehen, dass es nicht der Unwille oder gar die Boshaftigkeit eines einzelnen Beamten oder gar einer Beamtengruppe war, aus welchen sich die Verfolgung der Katenus ergab. Beamten mit anstößigen Vorhaben in den Ruhestand zu bugsieren, wenn nicht gar sie zu bestrafen, hätte sich wohl angesichts Charlottens neuer Machtstellung ermöglicht. Aber vielleicht am wesentlichsten hatte die so ergiebige Konferenz mit Zehplus und Schwiegel gezeigt, dass Katenusens brenzliche Situation sich aus dem Wesen der Gesellschaft, will sagen, aus dem Zusammenwirken und aus den Eigenarten vieler einzelner Durchschnittsmenschen ergeben hatte, und dass dieser Urgrund, dass diese Wurzel so innig in die Natur des Menschseins, der Menschlichkeit verwoben war, dass der Versuch sie auszureißen sinnlos gewesen wäre. Je mehr Charlotte darüber nachdachte, desto dringlicher war sie überzeugt dass der Beschluss der Rechnerkonferenz, es sei unumgänglich notwendig, für Katenus eine neue Identität zu schaffen, der einzig durchführbare Weg sei Katenus zu retten; und dass Katenusens, Ellys, und vielleicht ihrer aller Zukunft daran hinge diese Pläne durchzuführen. Schwiegel war nach der Rechnerkonferenz zum gleichen Beschluss gekommen, und suchte demgemäß die Besprechung mit Charlotte in Vorbereitung für das Treffen aller Beteiligten einbeschlossen Katenus, um dessen Erlaubnis, Zustimmung und Mitarbeit einzuholen. Merkwürdigerweise, so sagte Schwiegel sich jetzt, seien nun nicht mehr die düsteren Machenschaften der Regierung das Hindernis zur Bewährung des Friedens, der Freiheit, des Lebens für Katenus. Vielmehr war es das Wesen von Katenus selbst das ihm den Weg verbaute. In seiner Brust sind seines Schicksals Sterne, sagte Schwiegel von Katenus zu sich selbst, und überlegte dabei das Geheimnis der Sprache die in so wenigen Worten so viel zu besagen schien. Seit seiner letzten Begegnung mit Charlotte im Penthaus wo die Reichsregierung sich ihre Kanzleien eingerichtet hatte, war Schwiegel allmorgendlich zu seinem kleinen runden weißen Stammtisch auf dem Vorplatz des Straßencafes "Zum grünen Kranze" zurückgekehrt um auf Charlotte zu warten. Er sah ein, und er sagte sich auch ausdrücklich, dies Warten sei ihm nun zum Sinn, Zweck und Inhalt seines Lebens geworden, und er fragte sich, was es bedeuten möchte, und wie es in die Skala der Ethik, und der eigenen beruflichen Veranwortlichkeit einzustufen sei, dass ihm im tiefsten Sinne die Katenusaffäre nur als Vorwand diene, seine flackernde Liebe zu Charlotte, trotz aller Hoffnungslosigkeit zu hüten, zu nähren und zu schüren. An diesem Morgen hatte sich Schwiegel längst an den kleinen weißen runden Tisch gesetzt, hatte seine Tasse Kaffee bestellt, bekommen und geleert, hatte weiter eine unbestimmt lange Zeit gesessen und gewartet, hatte sich in berufsmäßig gehöriger Weise die Einzelheiten der Biographie, des Lebens, der Verfolgung und der Flucht der beiden, Katenus und Elly, durchs Gedächtnis ziehen lassen; und war endlich zu dem Beschluss gekommen, dass Charlotte an diesem Tage jedenfalls hier nicht erscheinen würde, hatte das üblich großzügige Trinkgeld für die Kellnerin seiner Geldtasche entnommen, und war nun aufgestanden um sich in seine bescheidene Kanzlei zu begeben. Als er aber stand, und seinen Stuhl sorgfältig genau an den kleinen Tisch geschoben hatte, drehte er sich zum Gehen, und da sah er unmittelbar sich zuvor, eine Frau die wie Charlotte aussah unmittelbar am nächsten Tisch sitzen. Sie war es wirklich. Er wollte sie grüßen, vermochte aber vor Erstaunen kein einziges Wort hervor zu bringen. Ihm war als sei ihm die Zunge gelähmt. Statt auch nur ein Wort zu sagen, strich er die Geldscheine fürs Trinkgeld vom Tisch und schob sie vorsichtig, einen nach dem anderen zurück in seine Geldtasche. Mit dieser Handlung war ihm die Fassung zurückgekehrt, und er sagte, “Charlotte, du hättest dich aber doch wirklich melden sollen, statt dich wortlos und mäuschenstill hinter meinem Stuhl zu verstecken.” “Ach Moritz,” sagte Charlotte, “als ich kam warst du so in Gedanken versunken, dass ich nicht festzustellen vermochte ob du überhaupt wach warst. Vielleicht träumtest du. Ich wollte dich im Traum nicht stören. Dass du noch am Leben warst, dessen konnte ich gewiss sein, den du atmetest ja noch.” Von diesen rohen naturgetreuen Worten angestachelt, erwiderte Schwiegel in befehlendem authoritärem Ton, “Gut dass wir uns schließlich doch getroffen haben. Setze dich hier mit mir an meinen Tisch. Ich bestelle einem jeden von uns noch eine Tasse Kaffee. Dann habe ich etwas mit dir zu besprechen.” Ihre Antwort, “und ich mir dir,” überhörte er und fuhr fort. "Du besinnst dich auf unsere Diskussion mit eurem Programmierer, ich glaube er heißt Jeremias Zehplus,” “Genau,” unterbrach Charlotte. “Diese Unterhaltung hatte auch ich im Sinn. Damals, es war ja ganz vor kurzem und scheint nun schon so lange her, beschlossen wir, Herr Zehplus, du, und ich, es sei notwendig, um Katenus und Elly zu retten, sie mit einer neuen Identität zu versehen." "Dazu bedürfen wir selbstverständlich außer der Mitarbeit von Zehplus und dir und mir, das Einverständnis der beiden gefährdeten Opfern. Der erste Schritt zur Entwicklung und Ausführung unserer Pläne wäre also ein Treffen zwischen uns Fünfen. Glaubst du, dass ein solches Treffen einzurichten wäre? Meinst Du dass Katenus sich darauf einlassen würde?” “Merkwürdig, wirklich merkwürdig, dass du überhaupt danach fragst, und merkwürdiger noch, dass du reichlich Grund hast danach zu fragen.” “Es sollte doch selbstverständlich sein, dass ein Mensch der in Freiheits- und Lebensgefahr ist, davor gerettet sein wollte.” “Bei Katenus aber glaube ich, ist dies nicht unbedingt der Fall.” “Ich vermute, ich fürchte, da hast du recht.” “Aber wieso und warum? Kannst du mir das erklären?” “Ob ich es dir bedeutsam zu erklären vermöchte, weiß ich nicht. Selbstverständlich ist es, dass wir darüber reden können. Aber vorerst müssen wir uns bemühen Katenusens Neigung sich selbst zu zerstören zu umgehen.” “Wie schlägst du vor, dass wir damit den Anfang machen?” “Unser erster Schritt, meine ich, sollte sein, mit Katenus und Elly zu sprechen und den Versuch zu machen ihnen die Situation zu erklären,” sagte Schwiegel. “Solltest du das tun, sollten wir beide zusammen es versuchen, oder meinst du, ich sollte den Anfang alleine machen?” So etwa Charlotte. “Ich weiß nicht warum du nicht allein den Anfang machen solltest. Danach können wir uns hier ein weiteres Mal treffen. Du berichtest mir was du erreicht hast, und dann besprechen wir unsere nächsten Schritte.” “Dass wir uns hier treffen,” sagte Schwiegel, “ist mir lieb, fast möchte ich sagen, ich finde es erbaulich. Aber für Verhandlungen wie wir sie benötigen um unsere Pläne durchzuführen ist das Treffen hier zu unsicher, zu unbestimmt. Wir müssen telephonisch mit einander vermitteln können. Lass uns unsere Telephonnummern austauschen. Dann wird es einem jeden von uns möglich sein den anderen anzurufen,” Und so geschah es. Charlotte würde den Anfang machen mit Katenus zu verhandeln, und würde sich dann telephonisch mit Schwiegel in Verbindung setzen. Das war eine Abmachung mit der Schwiegel sehr zufrieden war. Fast begeisterte sie ihn. Schwiegel war es zufrieden. Er wahr sehr zufrieden, und seine Zufriedenheit beruhte auf dem Austausch von Telephonnummern mit Charlotte, denn dieser deutete wenn nicht auf eine gemeinsame Entschlossenheit zu gegenseitigem Gedankenaustausch, allenfalls zu einem gemeisamen geistigen Zusammenleben das ihm, Moritz Schwiegel um manches, nein um unendliches wesentlicher erschien als die körperliche Verkupplung die in der Aletheia wenngleich nicht als solches ausdrücklich gepriesen, dennoch als das höchste, größte und erhabendstes Erleben geübt und gleichsam gefeiert wurde. Dabei schien auch seine Besorgnis um die Sicherheit seiner Mandanten, des Maximilian Katenus und der Elly Solmsen abgenommen zu haben. Schwiegel meinte es sich nun erlauben zu können, seine beruflichen Bemühungen zugunsten anderer Bedürftiger anzustrengen, und betreffs weiteren Anstrengungen um die Katenus bis zu dem aus anderen Gründen sehnlichst erwarteten Anruf von Charlotte aufzuschieben. Ihrerseits verließ Charlotte den Vorhof "Zum grünen Kranze" mit schwankenden Gefühlen. Sie hatte mehr eindeutige Weisungen von Schwiegel erwartet, und hatte dennoch nicht gewusst mit welchem Vorwand sie ihn hätte dazu auffordern können. Sie verfügte ja jetzt über seine Telephonnummer, und es wäre äußerlich jedenfalls jeder Zeit eine Kleinigkeit Schwiegel telephonisch um genaueren Rat anzugehen. Doch gleichzeitig schreckte sie vor weiteren Annäherungen zu dem ehrlichen Anwalt zurück, denn sie ahnte die unterschwellige Leidenschaft um sie welche in Schwiegels Seele glühte, ohne sich vorzustellen zu vermögen in welche Richtungen Schwiegels Gefühle ausbrechen möchten. Im Hintergrund, nein, genauer bedacht im Vordergrund stand Joachim, dieser offensichtlich so junge und unreife Mann, den sie absichtlich und besonnen verführt, dessen Beziehung zu seinem Doktorvater Jonathan Mengs sie mutwillig untergraben hatte. Dann um Joachim als Köchin und Haushälterin zu beeindrucken hatte sie sich in die Aletheia Kochkunstakademie immatrikuliert, und dort war sie mittels erpresserischer Drohungen mit staatsanwältlicher Fahndung wegen fiktiven Diebstahls zur Prostitution gezwungen worden. Dies Bild, diese Erinnerung wo Georg als ruchloser Aufseher erschien, fuhr fort mit ungeschmälerter Lebhaftigkeit vor ihren Augen zu schweben. Sie hatte gegenüber Jonathan und Joachim nichts von den Demütigungen, zu denen sie damals gezwungen wurde, erwähnt, und an der Vorstellung dass sie ihre "Studien" in der Aletheia, ihre Sinnlichkeitsübungen dort, nur dem Menschen den sie wirklich verehrte, nur Joachim zur Liebe erduldet hatte, war von Zeit zu Zeit von flüchtiger Begeisterung für einen oder den anderen ihrer "Präzeptoren", ins besondere für den Richter Adams, gerüttelt worden. Aber dann waren die Geschehnisse in solcher Schnelle verlaufen, dass Charlotten jegliche Richtung, jegliche moralische Richtschnur, verloren gegangen war. Der Wendepunkt, der Ausbruch in die Freiheit hatte sich ergeben, als die Ehefrau des Richter Adams, Anneliese Stark, oder wie immer sie hieß, aus dem Irrenhaus wo der Richter, ihr Ehemann, sie eingesperrt hatte um sich ein weiteres Feld für seine Tändeleien mit Charlotte frei zu legen, schließlich entlassen worden war, und in ihr Haus in Waldeck zurückgekehrt, den Richter mitsamt seiner Buhle Charlotte aus ihrem Haus geschmissen hatte. Diese Vorgänge hatten Charlotte von ihrer Dienstbarkeit in der Aletheia erlöst, woraufhin Charlotte den Plan geschöpft hatte, ihre intime Beziehung zum Richter Adams auszubeuten um die Sicherheit der Katenus Flüchtlinge zu gewähren und somit ihre Beziehung zu Joachim unzerbrechlich zu befestigen. Wieder einmal hatten sich die Geschehnisse überstürzt. Denn der Richter Adams sehnte sich nach Charlotte nicht nur als Sinnlichkeitsschülerin wie sie ihm in der Aletheia vorgestellt worden war, sondern als Schutzengel um sich in seiner Amtsstellung von ihr behüten zu lassen. Der Richter war der Reichsregierungskammer unterstellt, und es war diese Behörde bei der seine erbitterte Frau Anneliese Stark Klage gegen ihn erhoben hatte. Nun beabsichtigte der Richter, Charlotte in eine führende Stellung als Oberprokuristin einzustellen, wo sie in der Lage sein würde ihn, den Richter Adams zu beschützen. Eine solche Anstellung war Charlotte über alles willkommen. Bei dem Versuch ihr neues Amt auszuüben wurde es Charlotte klar, dass die Regierung die sie als amtierende Prokuristin vertreten sollte überhaupt nicht, oder nur in sehr beschränkter Weise bestand, insofern diese Regierung durch aufwendige elektronische Rechner ersetzt worden war. Diese Rechner wurden von einem sympathischen Programmierer Jeremias Zehplus verwaltet. Von diesem Zehplus, als dessen Vorgesetzte sie sich betrachtete, hatte Charlotte erfahren, dass diesem Rechner ausführliche Karteien über verdächtige und unzuverlässige Bürger, einbeschlossen Katenus und Elly eingegeben waren, und dass es wegen der aus in diesen Karteien ersichtliche Eigenbrötlerei Katenusens war, das man ihn verfolgte. So hatten Charlotte und Zehplus mit Moritz Schwiegel als ihrem Rechtsberater beschlossen, die Karteien zu revidieren, abzuändern, wenn man will, zu fälschen, zu dem löblichen Zweck Katenus aus den Gefahren in welchen er jetzt schwebte, in Sicherheit zu bringen. Die verwickelten Einzelheiten dieser langen Geschichte durchzogen Charlottens Gemüt indem sie sich auf die folgenschwere Begegnung mit den beiden Flüchtlingen vorbereitete. Tatsache war nun einmal, dass obgleich sie sich nun schon seit Wochen meist mehrmals täglich begegnet waren, Charlotte es besonnener und verständlicher Weise unterlassen hatte über die wesentlichen Züge ihres Lebens und dessen Einzelheiten den bis vor kurzem unbekannten Flüchtlingen Auskunft zu erteilen. Diesbezüglich hatte sie ja auch beide, Joachim und Jonathan, im Dunkel gelassen. Als sie über die allzu vertraute Veranda ins Döhringhaus geschritten, und durch die schwere eichene Tür in die Vorhalle getreten war, wurden Charlottens Besorgnisse in welcher Weise sie mit ihren Plänen Katenus und Elly begegnen sollte auf unerwartete Art verkürzt, den da, unmittelbar vor ihr, unter dem brillierenden Hängeleuchter standen die beiden Flüchtlinge als hätten sie auf Charlotte gewartet, und begrüßten sie wie eine verlorene Tochter. “Wie gut dass du endlich wieder hier bist,” sagte Elly. “Das finde ich auch,” fügte Katenus hinzu. Elly fuhr fort, “Komm mit uns ins Musikzimmer, dass wir uns unterhalten, und du uns erzählen kannst, was du gemacht hast, und was geschehen ist.” So war Charlotten der Ratlosigkeit, wie sie ihr Anliegen den zuvorkommenden Flüchtlingen vortragen sollte, enthoben. Dass möglicherweise Joachim und vielleicht sogar Jonathan sich an diesem Gespräch beteiligen sollten, fiel ihr nicht ein. Auch brauchte sie nicht die Richtung und den Inhalt ihrer Ausführungen zu bedenken. Nichts lag ihr ob, als die Fragen von Elly und Katenus zu beantworten. “Also du warst bestrebt Katenus und mich vor den Verfolgern zu schützen,” begann Elly. “Das war sehr lieb von dir. Erzähl uns doch bitte, wie dein Versuch verlaufen ist.” “Ach, das ist ein lange Geschichte,” sagte Charlotte, “wollt ihr sie wirklich in allen Einzelheiten hören?” “Ja, das möchten wir,” sagte Katenus, “denn es ist unsere Geschichte.” “Es ist mir schwierig anzufangen,” begann Charlotte, “Ich habe einen Bekannten, ob er ein guter oder schlechter Bekannter ist, wüsste ich nicht zu sagen. Er heißt Lemuel Adams, und ist ein namhafter Richter. Auf Grund meiner Bekanntschaft mit ihm, weiß ich Tatsachen über ihn und sein Betragen, das, sollte es in die Öffentlichkeit dringen, ihn ruinieren würde.” “Da möchte ich dich ein weiteres Mal mahnen, dass ich dein Vorhaben als gefährlich betrachte,” warnte Katenus. “Ach, da besteht nunmehr keine Gefahr. Denn die Sache ist ja ganz anders abgelaufen, als ich erwartet hatte.” “Wie denn,” fragte Elly, “das solltest Du uns erzählen.” “Ja also,” fuhr Charlotte fort, “von hier ging ich zur Aletheia um dort den Richter Adams zu finden, denn ich wusste ja, dass er von seiner Frau aus ihrem Hause geschmissen war, und deshalb nunmehr kein Zuhause hatte. Ich vermutete, wenn ich den Richter Adams in der Aletheia verpasste, dass dann der Vorsteher dort, sein Vorname ist Georg, seinen Nachnamen weiß ich nicht, mich mit Adams in Verbindung setzten würde.” “Und das ist nicht geschehen?” fragte Elly. “Doch, ja, aber in ganz unerwarteter Weise. Der Richter Adams hat mich mit einem Polizeiwagen in seine Kanzlei in der Innenstadt abholen lassen. Diese Kanzlei liegt in demselben Penthaus wie die Reichsregierungsbehörde, tatsächlich in denselben Räumen wie diese.” “Da warst du ihm anscheinend sehr wichtig.” “Da hast du recht,” bestätigte Charlotte, “aber aus einem unerwarteten Grunde. Er sagte er bedürfe einer Beamtin die ihn in Schutz nähme, in Schutz vor den Anklagen und Verleumdungen seiner erbosten und gehässigen Ehefrau, die im Begriff war sich von ihm scheiden zu lassen, und nun ihr Äußerstes tun wollte, ihn aus seiner beruflichen Laufbahn zu stürzen.” “Aber wieso traute er den dir die Fähigkeit zu ihn schützen zu können? Du verfügst doch über keinerlei Macht.” “Das stimmt, und dies ist nun das pikanteste an der Geschichte. Der Richter Adams wollte mich ermächtigen, indem er mir das Amt der Reichsregierungsoberprokuristin besorgte.” “Du spricht ein großes Wort gelassen aus,” sagte Katenus, und indem er sprach, wusste er selbst nicht was und wen er zitierte. “Also sag uns,” fiel Elly ein, “ob es nun tatsächlich eine Reichsregierungsoberprokuristin ist, die jetzt mit uns spricht." "Ehrlich gesagt, das weiß auch ich nicht," sagte Charlotte. "Denn die Reichsregierungsoberprokuristin wird vom Reichsregierungsvorsitzenden ernannt, und was ich euch nun erzähle, ist so unglaublich, dass ich's Euch nicht verdenke, wenn ihr an meiner Gemütsgesundheit zweifelt. Denn tatsächlich ergab es sich, dass der oder die Reichsregierungsvorsitzende nicht zu finden war, verschwunden, und schon seit langem. Das ist so lange her, dass man sich nicht einmal mehr die einschlägigen Personalien dieses Beamten oder dieser Beamtin erinnert.” “Es ist ein großartiges, fast möchte ich sagen, wunderbares Märchen das du uns da erzählst,” sagte Katenus ohne anzudeuten ob er es glaubte. Aber Charlotte fuhr fort, “Weil ich es unbedingt notwendig fand nicht besonders den Richter Adams, aber unbedingt Euch zu beschützen, hab ich mich selbst zur Reichsregierungsoberprokuristin ernannt.” “Aber wie war denn das möglich, denn du warst doch nicht die Reichsregierungsvorsitzende?” so fragte Elly. “Warum bezweifelst du's,” unterbrach Katenus, indem er sich zu Elly wandte. “Wenn einmal Selbsternennung, wie scheinbar in dieser Regierung möglich ist, warum nur zu einem Amte? Es kommt doch nur auf die Reihenfolge an. Wenn Charlotte daran gelegen war sich als Reichsregierungsoberprokuristin zu ernennen, warum sollte sie zu diesem Ziel nicht gelangen indem sie sich vorbereitend zur Reichsregierungsvorsitzenden ernennt. Versteh ich's recht?” fragte Katenus. “Genauso war's, und wie schön ist es nicht, dass Sie dies verstehen und es unterlassen mich auszulachen. Nicht nur fehlte die Reichsregierungsvorsitzende, sondern auch die anderen Regierungsminister waren nirgends in Sicht, außer einem, und das ist Herr Jeremias Zehplus, ein in der Informationstechnologie Sachverständiger, der die Rechner programmiert, sie instand hält, und wo sich eine Wanze eingeschlichen hat, das Programm kunstgerecht repariert. Vor einigen Jahren, das müsst ihr wissen, einigten sich die großen politischen Parteien auf die dringende Notwendigkeit die gesamte Regierung gründlichst durch und durch zu digitalisieren. Zehplus hat mir ganz im Vertrauen gesagt, das kein Einziges der Mitglieder die dies bestimmten, auch nur über das geringste Verständnis von Rechnertechnik verfügte, dass sie aber alle ihre Stimmen dafür abgaben um nicht anderweitig als altmodisch oder umnachtet eingestuft zu werden. Was folgte war dann praktisch die Auflösung der Regierung. Man sagt doch die Natur verabscheut Leere, und in diesem besonderen Fall wurde die Regierung durch die Rechnerei ersetzt.” So erklärte Charlotte, und Elly sagte verwundert, “Aber sollte diese elektronische Verrechnung der Regierung es nicht unmöglich machen uns zu retten?” “Im Gegenteil, im Gegenteil,” erwiderte Katenus. Es erklang ihm ungewohnte Begeisterung in seiner Stimme. “Es ist doch offensichtlich dass die Rettung nichts weiteres oder wenigeres bedürfte als das Reprogrammieren der Maschine.” “Das haben Sie aber gut erfasst, lieber Herr Katenus,” sagte Charlotte. “Glücklicherweise ist der Programmierer, Jeremias Zehplus unseren Bedürfnissen sehr wohl gesinnt, denn auch er litt unter dem was er als Willkür und Verlogenheit der Behörden denen er untergeben war empfand.” “Und tut's nicht mehr?” fragte Elly. “Das ist doch selbstverständlich,” erklärte Katenus, “denn er hat ja neuerdings eine Vorgesetzte der er vertraut.” “Wie schön, dass ihr das alles versteht,” sagte Charlotte, “Nun ist meine erste Frage an euch, ob ihr willens seid, an einer Besprechung zwischen dem Programmierer Jeremias Zehplus, euerm Anwalt Moritz Schwiegel und mir teilzunehmen. Der Zweck eines solchen Gespräches wäre die Rechnerkarteien mittels derer man euch verfolgt und beabsichtigt weiterhin euch zu verfolgen, abzuändern, und Euch somit vor weiterer Verfolgung zu schützen.” “Das finde ich,” erwiderte Katenus, “ist ein vernünftiger Vorschlag, wobei ich darauf hinweisen möchte, welch möglicher Weise sehr problematische Entscheidungen über Wahrheit und Unwahrheit in solche Überlegungen verwoben sind.” “Ach, Katenus,” seufzte Elly, “bedenke doch dass unser Wohl, unsere Freiheit, vielleicht sogar unser Leben in der Waagschale liegt, und möglicherweise sogar die Zukunft unserer Mitbewohner hier im Döhringhaus.” “All das will ich bedenken," erwiderte Katenus, “Du aber vergiss nicht, was uns die Wahrheit bedeutet, und wie traurig, wie trostlos es wäre, im Schatten, nein, schlimmer noch, in der Nacht der Unwahrheit, der Lüge, leben zu müssen.” “Zu diesen Überlegungen möchte ich bemerken,” sagte jetzt Charlotte, und war selbst erfreulich überrascht von der Schlagfertigkeit ihrer Antwort, “dass es verfrüht ist uns über Wahrheit und Unwahrheit die Köpfe zu zerbrechen, wo wir noch garnicht wissen welche Wahrheiten oder Unwahrheiten über Euch oder über uns, man in den Rechnerkarteien vergraben hat, und welche anderen Kundgebungen, seien sie Wahrheiten oder Unwahrheiten, man meint in die Karteien einfügen zu sollen. Diese Umstände können wir nur den Akten selbst entnehmen, wenn wir sie einst auf dem Bildschirm lesen. Das würde gelegentlich der vorgeschlagenen Konferenz geschehen, und um diese vorzubereiten, müssen wir als erstes den Ort bestimmen, wo sie stattfinden soll. Zu diesem Zwecke bin ich hier.” “Hast du Vorschläge?” fragte Katenus. “Eine Möglichkeit,” antwortete Charlotte, wäre das Arbeitszimmer von Zehplus im Regierungspenthaus, eine andere wäre hier im Döhringhaus, in dem Musikzimmer wo wir uns jetzt befinden. Eine dritte Möglichkeit wäre die Kanzlei von Moritz Schwiegel. Ich ziehe diesen Ort in Erwägung obgleich ich ihn nie besucht habe, und mir keine Vorstellung machen kann, ob er für fünf Personen geräumig genug ist.” “Ich aber überlege,” sagte Katenus, “eine vierte Möglichkeit, nämlich dass wir uns zu unserer Konferenz in der Aletheia treffen. Denn der Name der Aletheia, des Orts der dich ausgebildet hat, der dir und uns allen gezeigt hat, wer du bist und was Wahrheit ist, möchte nicht dieser Ort uns allen eine besondere Einsicht in die Wahrheit geben? Dort möchten wir die Mittel mit denen wir verfolgt werden erfahren, und dort möchten wir hoffen die Mittel uns zu schützen zu entwerfen. Weil ich die Vorstellung von Aletheia nicht zu entbehren vermag, ist es mein Vorschlag, ist es mein Wunsch, dass Aletheia der Ort unserer Konferenz werden möchte.” “Aber sei doch bitte vernünftig, Katenus,” bat Elly, und in diesem Moment ertönte ein gemessenes höfliches Klopfen. Charlotte ging hin um die Tür zu öffnen. Da standen vor ihr Joachim und hinter ihm Jonathan. Die beiden kehrten soeben von der Universität zurück, und wunderten sich weshalb sie die sonst offenstehende Tür zum Musikzimmer heute geschlossen fanden. Sie waren neugierig zu erfahren, was sich dahinter abspielen möchte. Charlotte war verdattert. Seit Monaten hatte sie, wenn nicht seit Jahren, ihr Tun und Lassen vor ihren Mitbewohnern im Döhringhaus verheimlicht; sie hatte was in der Aletheia geschah grundsätzlich vor ihren Döhringhausfamilienmitgliedern, besonders vor Joachim, verschwiegen. Nun war von Katenus die Aletheia vorgeschlagen worden, als Ort der Rettungskonferenz an der außer ihr selbst, Zehplus, Schwiegel, Katenus und Elly beteiligt sein sollten, wenn nicht auch Joachim und sogar Jonathan. Wie würde nun sie, Charlotte, die verschiedenen Beteiligten mit ihrer Vorgeschichte in der Aletheia vertraut machen? Oder war anzunehmen, dass diese mit sämtlichen schmähvollen Einzelheiten längst vertraut waren, dass alles allen bekannt war, dass es überhaupt keine Geheimnisse mehr gab? Wiederum überließ sich Charlotte ihrem Instinkt und gab sich die Antwort, nichts weiteres zu sagen. Was man zu wissen begehrte, danach würde man fragen, und mögliche Fragen würden den Rahmen für weitere Ausführungen und Erklärungen bieten. “Ihr seid soeben rechtzeitig angekommen, um an unserer Konferenz teilzunehmen,” sagte Charlotte zu Joachim und Jonathan, “oder sollte ich sie als eine Vorkonferenz bezeichnen, denn worum es vorerst geht, ist uns über den Ort der eigentlichen Konferenz zu verständigen. Diese eigentliche Konferenz,” fuhr Charlotte fort, “woran auch Moritz Schwiegel und Jeremias Zehplus, der Rechnerspezialist der Regierung beteiligt sein werden, betrifft eine mögliche Redaktion jener Dateien in den Rechnern der Reichsregierung welche ins Besondere Maximilian Katenus betreffen, möglicherweise aber auch einen jeden von uns anderen Mitgliedern unserer Familie.” Charlotte war von der eigenen Beredsamkeit begeistert, und da sie von keinem ihrer Hörer unterbrochen wurde, erklärte sie weiter, “Beim Studium in der Kochkunstuniversität Aletheia lernte ich einen politisch sehr mächtigen und einflussreichen Richter, mit Namen Lemuel Adams kennen. Anfangs war es mein Vorhaben ihn zu überreden sich im Rahmen der Verfolgung von Katenus und Elly, als deren Beschützer zu bekennen, vielleicht sogar als Beschützer von uns allen. Als ich schließlich die Gelegenheit hatte mich wegen dieses Vorhabens mit ihm zu besprechen, erfuhr ich dass er selbst einer Verfolgung ausgesetzt war, wenngleich anders als Katenus und Elly, aber dennoch für ihn so bedrohlich, dass er mich bat ihn zu beschützen. Um mich zu diesen Diensten instand zu setzen, schlug er vor, ich solle als Reichsregierungsoberprokuristin antreten. Er würde dafür sorgen, dass mir dies Amt angeboten würde, und er bat mich inständig es anzunehmen. Selbstverständlich war ich willens. Was Besseres hätte ich mir wünschen können? Jedoch bei dem Versuch uns beiden diesen gemeinsamen Wunsch zu erfüllen, erfuhr ich, dass besagte Reichsregierungsoberprokuristin nicht von ihm, vom Richter Adams, sondern vom Reichsregierungskammervorsitzenden ernannt würde." "Im Verfolg diese Position zu erlangen, ergab es sich, dass nicht nur die Stelle der Reichsregierungsoberprokuristin, sondern auch die Stelle des Reichsregierungskammervorsitzenden schon seit Jahren unbesetzt geblieben waren. Der Grund, so hat es mir später Jeremias Zehplus erklärt, war die vor einigen Jahren eingeführte Reichsregierungsdigitalisierung, eine Umstellung durch welche das Wirken der gesamten Regierung verändert worden war. Nicht nur die Reichsregierungskammer war überholt, sondern nunmehr wurden sämtliche Reichsregierungspflichten und Funktionen von elektronischen Rechnerprogrammen unter der Aufsicht eines quasi verwaisten Rechnerspezialisten erledigt. ‘Und das bin ich.’ So hatte Jeremias Zehplus mir die Situation erklärt.” Charlotte fuhr fort, “Ich empfand die beamtliche Leere welche die allgemeine Digitalisierung nach sich gezogen hatte, eine wunderbare, großartige Gelegenheit mich weit über die Pflichten der Reichsregierungsoberprokuristin hinaus in unserem Regierungswesen zu betätigen. Um meine Pflichten als Reichsregierungskammeroberprokuristin in Abwesenheit einer wirkenden Regierungsstruktur erfüllen zu können, musste ich mich selber zur Reichsregierungskammeroberprokuristin ernennen, wozu es natürlich notwendig war mich vorerst zur Reichsregierungsvorsitzenden zu ernennen. Erstaunlich wie es euch alle anmuten mag, war dies bei dem Gesetz dass die Natur, einbeschlossen die menschlich gesellschaftliche, jegliche Leere abhoresziert, ein einfacher, reibungsloser Vorgang. Mit meiner Ernennung meiner selbst zur Reichsregierungskammervorsitzenden, ernannte ich gleichzeitig fünf mir sympathische Reichsregierungskammermitglieder, unter der vertraglichen Verfügung, ein Mitglied würde seine Stelle innehalten, nur solange es sämtlichen Vorschlägen, Eingaben und Bestimmungen meinerseits bedingungslos zustimmte. So befinde ich mich jetzt in einem Amt, nein, genau bedacht in zwei Ämtern die, wenn ich sie gewissenhaft, klüglich und erfolgreich ausführe, es mir möglich wird Katenus, Elly, und auch uns andere Mitbewohner des Döhringhauses vor jeglichen Verfolgungen zu schützen. Ich staune; ihr staunt. Was sagt ihr nun? Was sagt ihr dazu?” “Was du uns da erzählst ist wahrhaftig erstaunlich,” sagte Jonathan Mengs, “Du kennst aber das Sprichwort, ‘Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben,’ Nun musst du uns deinen nächsten Schritt erklären, und und erklären auch wie wir uns an ihm beteiligen sollten." Charlotte fuhr fort, "Ich erwähnte Herrn Jeremias Zehplus, den Sachverständigen der für die Instandhaltung der Reichsrechneranlage verantwortlich ist. Moritz Schwiegel und ich haben uns von Herrn Zehplus über die elektronischen Grundlagen, über die Rechnerprogramme mittels derer die Verfolgungen entworfen und ausgeführt werden belehren lassen. Unser Anwalt Moritz Schwiegel ist mit der Verlässlichkeit des Herrn Zehplus zufrieden, und ich bin es auch, allenfalls vorläufig, und ich bleibe gewahr der Veränderlichkeiten der Situationen in denen wir uns befinden, gewahr auch der Menschen die wir sind. Unser erster Schritt muss sein die Datenkarteien über Katenus und Elly, vielleicht aber auch über uns andere, so abzuändern, dass wir den niedrig eingestuften Beamten welche die Verfolgungen durchführen, die einschlägigen Anhaltspunkte allenfalls für die Verfehmung die uns betrifft, verschleiern, wenn nicht völlig entziehen.” “Ich finde," sagte jetzt Joachim, “dass wir, dass Jonathan und ich, uns an der vorgesehenen Konferenz beteiligen sollten.” “Dem pflichte ich bei,” sagte Jonathan. “Teilt uns bitte mit, wann und wo wir uns einstellen sollen.” “Aus Gründen die mir nicht klar sind,” sagte Charlotte, “schlägt Katenus vor diese Besprechung in der Altheia anzusetzen. Ihr wisst, das ist die Kochschule an der nördlichen Landesallee. Hättet ihr etwas dagegen?” "Dagegen eigentlich nicht, obgleich ich gestehen muss, dass mich die Wahl ein wenig verwundert. Aber ich hab mich dran gewöhnt nicht alles verstehen zu müssen.” So etwa äußerste sich Jonathan Mengs. “Ich finde es erfreulich,” sagte Elly, “dass wir so schnell zu einer Übereinstimmung gekommen sind.” Dazu bemerkte Katenus, "Es ist aber noch früh, und Professor Mengs hat uns gewarnt: 'Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.'" Die kleine Gesellschaft war in Schweigen verfallen, wie lange hätte keiner der Beteiligten festzustellen vermocht, wie es denn auch dem Wesen der Zeit entspricht, dass eine Länge die nicht gemessen wird, unbestimmbar bleibt. Schließlich unterbrach Katenus die Stille. “Ich zögerte den so bedeutsamen Austausch von Gedanken zu stören, doch in seinem Verlauf fielen hatte ich zwei Überlegungen die ich Euch mitteilen möchte. Die scheinbare Unglaubwürdigkeiten der schlampigen Reichskammeregierung von der Charlotte und berichtete, rühren von der Tatsache, dass unsere Vorstellungen von der Welt in welcher wir leben, eben dieses sind, Vorstellungen, Wirklichkeitsvortäuschungen mit deren Verfassung wir unsere Tage - und vielleicht auch manchmal unsere Nächte verbringen; so dass wir schließlich in einer künstlichen, in einer gekünstelten Welt leben, die unsere Bedürfnisse und Wünsche widerspiegelt. Das ist eine Welt die beständig, immer und immer wiederholt von unserem augenblicklichen, täglichen Erleben widerlegt wird. Und dennoch widmen wir das Übermaß unserer Kräfte, die Illusionen dieser Welt in welche wir uns so eifrig verführen, aufrecht zu erhalten. Bei diesen Überlegungen fällt mir auf, dass diese Welt des Truges ein Ergebnis unserer Gesellschaft, unserer Vergesellschaftung ist, und dass unsere Gesellschaft es ist, die uns an diese künstliche Welt verhaftet. Somit komme ich zum zweiten Punkt meiner Überlegung, ich bitte um Entschuldigung so lange und so ausführlich zu reden. Aber so bin ich nun einmal. Ich kann mir nicht helfen. Ich bemerke, dass die kleine Besprechung in der Aletheia die wir planen, obwohl gering an Zahl, mit allen Beschränkungen der Gesellschaft behaftet ist. Ich zähle auf, sieben Personen, Herr Professor Mengs, Joachim Magus, Charlotte Graupe, Herr Rechtsanwalt Moritz Schwiegel, Herr Ingenieur Jeremias Zehplus, meine geliebte Elly und ich werden daran beteiligt sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sieben so verschiedene Personen wie wir es sind, in einer Sache so verwickelt wie die mit welcher wir uns befassen, dieselben Ansichten aufweisen werden. Zweck und Ziel unserer Besprechung wird sein, zu einer Übereinstimmung zu gelangen, indem ein jeder von uns die eigenen Neigungen zurückstellt und sie einem gemeinsamen Konsens an- und unterordnet. Ich erwähne diese Umstände jetzt, weil es in meinem Wesen liegt auf meine Ansichten bestehen zu bleiben, und mich keinen allgemeinen Anschauungen zu fügen.” “Ach, lieber Katenus,” sagte Elly, “es hilft, dass Du es selber einsiehst, wie du bist. Aber bis auf Herrn Zehplus, oder wie immer der Herr heißen mag, kennen wir dich alle; und es ist möglich, wenn nicht Herr Zehplus es von sich aus feststellt, dass dann seine Rechnerkarteien ihm berichten, wer und wie du bist. Und ich, ich kenne dich ja nun schon viele Jahre, und liebe dich so sehr, weil du der am meisten echte Mensch bist, dem ich je begegnet bin.” Charlotte war mit dem Stand ihrer erstaunlichen beruflichen Bemühungen zufrieden, und nicht weniger zufrieden war sie mit dem Stand ihres eigenen Lebens. Sie hatte versucht sich dieses Leben leicht zu machen, und es war dennoch nicht leicht geworden. Nun war sie zufrieden, mit dem, wenn nicht gar stolz auf das was sie erreicht hatte. Sie hatte Joachim überholt; tatsächlich hatte sie Joachim hinter sich gelassen. Die Welt in welcher sie, Charlotte, jetzt lebte, war von ihr selbst geschaffen, war die Überwindung der Demütigungen und Erniedrigungen deren Opfer sie in der Aletheia geworden war. Das Maß in welchem sie damals umnebelt und hilflos gewesen war, hatte sie längst vergessen. Jetzt war sie zuversichtlich dass sie selbst den Mittelpunkt der Welt in der sie lebte darstellte. Diese Welt war eine große und umfangreiche Welt, welche von dem Zuzug von Katenus und Elly unermesslich erweitert worden war. Joachim, Mengs, Moritz Schwiegel, Jeremias Zehplus und die anderen an der Reichsregierung Beteiligten, würden sich von selbst in die untergeordneten Rollen fügen die ihnen gebührten. Charlotte war von der Standortwahl der Besprechungen in der Aletheia, wegen der ihr mit diesem Ort verbundenen Erinnerungen, anfangs beunruhigt. Jedoch dauerte es nicht lange, bis, im Gegenteil, das Verlegen der Unterredungen in die Kochkunstuniversität sie vorteilhaft dünkte. Weshalb oder wieso aber dies der Fall war, hätte Charlotte nicht zu erklären vermocht. Möglicherweise war es ihre eigene Zuversicht, welche sich nun auch auf die gesellschaftliche Annehmbarkeit des Vergangenen erstreckte. Bei einer weiteren Besprechung waren Moritz Schwiegel und Jeremias Zehplus wohlgesinnt. Zuerst war Jeremias um die Verfügbarkeit von Rechnern und um hinreichende Bandbreite des Netzanschlusses besorgt gewesen, hatte dann aber festgestellt, dass die in der Aletheia bestehenden Einrichtungen genügten. Moritz Schwiegel hatte wegen Datensicherheit gefragt, und ob man zuversichtlich zu sein vermöchte nicht bespitzelt oder überhört zu werden. Diesbezüglich vermochte Zehplus mit seinen Erklärungen, beide, Charlotte und Moritz, zu überzeugen. Zehplus erklärte die elektronische Audio- und Videoüberwachung der Aletheia sei vor Jahren im Aufsichtsrat ein dringendes Thema gewesen, denn deren Treuhänder waren besorgt, die in der Aletheia üblichen Vorgänge möchten in die Öffentlichkeit dringen und dort Skandal hervorrufen. Demzufolge war Zehplus zuversichtlich, dass keine solche Überwachungs- oder Überhörungsvorrichtungen bestünden. Im Falle dass man hernach dergleichen eingebaut hätte, war Zehplus überzeugt, dass soetwas nicht ohne sein Mitwirken, geschweige denn ohne sein Wissen, hätte geschehen können. Es war aber gut, erklärte Zehplus, dass Charlotte und Schwiegel ihn betreffs des Standorts der beabsichtigten Konferenz rechtzeitig benachrichtigt hatten, denn nun würde er Gelegenheit haben die längst veralteten elektronischen Rechnereinrichtungen dort zu untersuchen, sich doppelt zu vergewissern, dass keine Spionageanlagen hinzugefügt waren, und dass die Rechner dort ins virtuelle private Ortsnetz in wirksamer und datensicherer Weise eingebunden waren oder wenn nicht, eingebunden werden könnten. Zehplus hatte sich dann entschuldigt und hatte die beiden, Charlotte und Schwiegel allein gelassen. “Meinst du,” fragte jetzt Charlotte, “dass wir uns auf Zehplus verlassen können?” und Schwiegel antwortete, “Ich glaube in dieser Sache haben wir keine Wahl,” und setzte dann hinzu, “Aber weißt du, mit den Geheimnissen und ihrer Offenbarung hat es so seine eigenen und meist unvoraussagbaren Umstände. Im Grunde hört ein jeder was er hören will, und manchmal gereicht Verschwiegenheit zu mehr Beunruhigung als absichtliche Verlautbarung; wobei es angemessen ist nicht zu übersehen, dass es uns nicht so sehr darum geht, Katenusens Wesen zu verhüllen wie ein öffentliches Auftreten das niemand versteht, durch ein Vexierbild zu ersetzen, durch ein Bild in dem jeder der es ansieht die Erfüllung seiner eigenen Wünsche, Pläne und Hoffnungen zu erkennen meint.” Über den Ort der Besprechung hatte man sich geeinigt. Der Zeitpunkt, aber, an dem sie stattfinden würde, war noch nicht angesetzt. In Erinnerung dieser Umstände trat Charlotte jetzt durch die große vertraute eichene Vordertür des Döhringhauses an die frische Luft, ging über die grau gestrichene Veranda und die zwei niedrigen Stufen hinab auf den mit Steinplatten ausgelegten Weg. Wie oft hatte sie ihn nicht schon vormals betreten. Zwar nicht ihr ganzes Leben lang, aber es waren viele Jahre vergangen seit Susanna Freudenberg ihre Klavierstunden in dieses Haus verlegt hatte. Damals war Charlotte nicht nur mit Susanna und dem Haus, sondern auch mit der Familie die es bewohnte bekannt geworden. Die Freundschaft mit Joachim hatte sich bald zu einem Verhältnis entwickelt, und hatte Charlottes Leben verwandelt. Leicht gewesen aber war es gewisslich nicht. In der Aletheia hatte man sie mit Aufgaben und Pflichten behelligt, die sie zur Zeit überwältigten. Schließlich aber, im Rückblick, sah alles anders aus. Jetzt endlich meinte Charlotte zu erkennen, dass sie im Lebenskampfe gewonnen, dass sie gesiegt hatte. Die Möglichkeit dass sie sich täuschte, fiel ihr nicht ein. Als sie die Straßenecke erreicht hatte, bog sie ohne die Landesallee zu überqueren nach links, und schritt nun auf dem linken Bürgersteig dem Verkehr der auf sie zuströmte entgegen, so dass, hätte sie ihr Vorhaben zu Fuß zu gehen abändern wollen, ihr das Einsteigen in den elektrischen Autobus unmöglich gewesen wäre, denn der rollte auf der anderen Straßenseite dahin. Aber sie war es ja auch zufrieden so weiter zu gehen. Sie hatte viel zu bedenken und das Denken bei eigener Bewegung und in freier Luft war ersprießlicher als in der Menschenmenge im geschlossenen Wagon, wie mühelos auch immer man von ihm an sein Ziel befördert wurde. Nun war sie, eh sie sich's gewahrte, an ihrem Ziel. Der Eingang zur Aletheia war über metallne Schaltplatten die auf den Druck der Schuhsohlen das geräuschlose elektrische Beiseiteschieben der hohen Glastüren bewirkten. Welch auffallender Kontrast zum Eingang ins Döhringhaus durch seine schwere quietschende Vordertür! Das Leben besteht in seinen Widersprüchen, sagte sich Charlotte. Sie hatte ihre Fähigkeit diese Widersprüche mit einander zu vereinbaren bewiesen. Sie war erstaunt, und war es zufrieden, dass sie sich hier wie dort zuhause empfand. Bei ihrem Zutritt empfing Georg sie in unmittelbarer Nähe der Tür mit feierlicher Höflichkeit, als sei sie eine prominente Persönlichkeit die er erwartet hatte und die in der Aletheia willkommen zu heißen zu seinen Pflichten gehörte. "Guten Nachmittag," sagte er, "Unser Treuhändersaal steht Euch für Eure Besprechungen zur Verfügung. Wir haben ihn neu eingerichtet, besonders für Euch, mit neuen Möbeln und mit neuen Gardinen," sagte Georg. “Ich hoffe nicht mit neuen elektronischen Wanzen,” dachte Charlotte, aber sagen tat sie es nicht. Sie wunderte sich wie Georg die Umstände ihres Gesuchs möchte erfahren haben. Aber auch danach fragte sie nicht. Den Saal ließ sie sich zeigen. Der lag an der entlegenen Seite und am fernen Ende der großen kommunalen Küche wo Charlotte vor Jahren, - jetzt schien ihr das vor einer sehr langen Zeit, die von ihr versehentlich in eine kristallne Opferschale gelegten zwanzig zwanzig Dollar Scheine die sie mit ungebührlichem Eigenwillen unerlaubt dem zweiten Bande der Mengsschen Schopenhauer Ausgabe entnommen hatte, und die sie dann in einem Schreibtischschubfach wiedergefunden und an sich genommen. Wobei Georg sie beobachtet hatte, um dann mit Bezichtigungen des Diebstahls und mit entsprecheden Drohungen anderenfalls polizeilicher Festnahme, die Prostitution von ihr erpresst hatte. Meistens schien dieses Charlotte weit in der Vergangenheit zu liegen, manchmal aber erinnerte sie sich sehr lebhaft daran, als sei es gar nicht so lange her. “An welchen Daten steht uns der Treuhändersaal zur Verfügung?” fragte sie. “Das mögen Sie, nach eigenem Gutdünken bestimmen," sagte Georg, "Wir möchten, ich möchte, dass sie sich hier zu Hause fühlen.” Sie einigten sich auf ein Datum zwei Wochen ab Morgen. Georg betonte, dass Verlängerungen nichts im Wege stünde. Charlotte dankte, verabschiedete sich von Georg in einer so höflichen, fast freundschaftlich verbindlichen Stimmung wie sie es sich nie hätte vorstellen können. KK 11. Kapitel KK << 7953 >> Über den Ort der Verhandlungen hatte man sich zuvor verständigt. Moritz Schwiegel und Jeremias Zehplus waren mit dem ihnen von Charlotte mitgeteiltem Termin zufrieden. Nun war es notwendig die Döhringhausfamilie, Jonathan und Joachim, so wie auch Elly und Katenus auf die bevorstehende Konferenz abzustimmen. Bei Gelegenheit der Zusammenkunft mit Joachim und Jonathan im Musikzimmer, erzählte Charlotte den beiden von der Regierung der sie bevorstand, von dem durch Jeremias Zehplus überwachten elektronischen Rechner, von den Verfolgungskarteien welche die Personalien unbeliebter oder aus der Rolle fallender, unkonventioneller Bürger enthielten, Menschen die dann systematisch verfolgt wurden, weil durch ihre Schmerzen das Wohlbefinden der Gesellschaft gesteigert würde. Joachim war sprachlos. Auch Jonathan schwieg. Dann sagte er, “Es mag herablassend klingen, aber dennoch soll es gesagt sein: Die Bedeutung der Umstände die du beschreibst scheinen mir weit über die Beschränkungen unserer Familie, einbeschlossen der Katenus, hinauszugehen, bedeutsam wie sie zugegeben für uns alle sein mag.” “Wie meinst du das?” fragte Joachim, und Jonathan antwortete ihm: “In doppelter Weise, erstens als Hinweis darauf, dass die Organisation der Gesellschaft durch einen unpersönlichen Mechanismus ersetzt zu werden vermag bei dessen Wirken menschliche Gefühle ausgeschaltet werden.” “Und was sind unter diesen Umständen Gefühle?” fragte Joachim. “Es sind die Wallungen von Freude und Trauer, von Regung und Ruhe, von Ausdauer und Ungeduld, von Bewusstsein und Vergessen, die wie freundliches und widriges Wetter unsere Gemüter bewegen.” “Gefühle also, sind überflüssige Begleiterscheinungen unseres geistigen Lebens.” “Aber überflüssig, scheint mir,” fügte Jonathan hinzu, “in einer nur oberflächlichen Weise. Sind Gefühle nicht tiefer betrachtet die Geistesströmungen, nein, die Geistesgliederungen die unserem Leben seinen Inhalt geben?” “Und was wäre das Zweite, der zweite Punkt?” fragte Joachim. “Der scheint mir die grundlegende Dialektik zwischen Zuneigung und Abneigung, zwischen Liebe und Hass die dem Menschenleben innewohnen. Wir Menschen brauchen einander, sind in der Entwicklung und in dem Verlauf unseres körperlichen und geistigen Lebens unabkömmlich mit einander verbunden. Bedenke zum Beispiel die unerlässliche Abhängigkeit der Sprache vom Gegenüber zweier oder mehrerer Menschen. Andererseits aber bedarf ein jeder von uns seine Unabhängigkeit, seine Freiheit, sein Leben ungestört in Einsamkeit und Verlassenheit zu leben. Das ist die eine Dialektik.” “Und was wäre das Dritte?" Die dritte Dialektik ist der Widerspruch von Liebe und Feindseligkeit. Diese ist Ausdruck des Widerspruchs, dass Menschen zugleich abhängig von einander sind, und dennoch das Bedürfnis haben allein und unabhängig zu sein. Bedenke wiederum die Gruppierungen, wo Menschen sich in Dörfer, Städte und Länder zusammen fügen, und dass diese Gemeinschaften dann wiederum den Umständen entsprechend, sich manchmal freundschaftlich verbinden, manchmal feindselig einander gegenüberstehen, einander bekämpfen, schwächen und zuweilen einander sogar zerstören. Dergleichen Freundschaften und Feindschaften sind natürlich. Sie liegen im Wesen des Menschen.” So etwa sprach Jonathan Mengs. Charlotte war von dem unerwarteten Interesse an ihrem Vorhaben das Jonathan an den Tag legte, überrascht und erstaunt. Zuerst kam ihr der Gedanke, dass sie vielleicht von ihm gehänselt würde; denn anderweitig wäre es das erste Mal, dass er sie und ihre Bemühungen um die Familie und um die Katenus ernst nähme. Nun aber konnte sie nicht umhin zu erkennen, dass es so war, dass er sie tatsächlich ernst nahm, und diese Einsicht begeisterte sie. Jonathan Mengs fuhr fort. “Die Rechnerkarteien die Katenus, Elly, möglicherweise auch Joachim und mich beurkunden, müssen wir schließlich als Literatur, als eine Art Dichtung verstehen, und die Beschreibungen unsereiner in glaubwürdiger Weise von anstößigen exzentrischen Eigenbrödlern in unverfänglich banale Alltagsmenschen zu übersetzen mag ein Maß von Einübung, wenn nicht gar das Erlernen einer neuen Dichtkunst erfordern. Wie einfach oder wie schwierig eine solche Übertragung werden möchte, kann ich mir ausmalen erst wenn ich die ursprüngliche Fassung vor Augen habe, und vielleicht wird es auch dann des Einübens bedürfen, bis wir wissen woran wir sind, was wir erreicht haben, und was wir noch schaffen müssen.” “Meinst du,” fragte Charlotte, “dass wir uns irgendwie anderweitig vorbereiten müssen, oder versuchen sollten dieses zu tun?” “Nein, das nicht,” antwortete Jonathan Mengs. “Wir müssen abwarten, bis wir die Urkunden vor Augen haben. Erst dann vermögen wir eine Vorstellung zu bekommen, welcherlei Veränderungen wünschenswert und überhaupt möglich sind.” Charlotte war es sehr zufrieden, endlich von Jonathan Mengs ernst genommen zu werden, und entsprechend zuversichtlicher war sie ihres Verhältnisses zu Joachim. Doch wurde ihr im Verlauf dieser Unterhaltung klar, wie unvoraussehbar, wie unbestimmbar die angesetzten Verhandlungen schließlich doch waren, und wie notwendig es war Katenus und Elly auf die Unbestimmtheit des Verlaufs der vorgesehenen Besprechungen vorzubereiten ohne sie abzuschrecken und ihre unentbehrliche Teilnahme zu verbauen. Sie musste also die Gelegenheit zu einem weiteren Gespräch mit Katenus und Elly schaffen, und dies so bald wie möglich, denn die Verhandlungen in der Aletheia waren in knapp zwei Wochen angesetzt. Es dauerte aber nicht lange, bis die erwünschte Gelegenheit sich Charlotten bot. Kaum war das befriedigende Gespräch mit Joachim und Jonathan beendet, Charlotte stand noch in der Eingangshalle, als sich die große eichene Vordertür öffnete, wie stets mit vertraulichem Geräusch. Katenus und Elly waren von ihrem Spaziergang heimgekehrt, grüßten mit einem freundlichen “Guten Tag”, und waren im Begriff die Stufen in ihr Zimmer hinanzusteigen, als Charlotte sie aufhielt. “Euer Kommen ist mir sehr gelegen," sagte sie, “denn ich bedachte soeben wie ich mit der geringsten Belästigung eine Gelegenheit schaffen könnte mit euch zu sprechen.” “So komm doch jetzt mit,” sagte Katenus, “Ein Besuch von Dir ist uns stets willkommen, und jetzt wäre er so gelegen wie je.” So stiegen die beiden, und nah hinter ihnen Charlotte, die breite Treppe hinan in Jacob und Elsbeth Döhrings geräumiges Schlafzimmer das nunmehr Katenus und Elly zur Wohnung diente. Charlotte setzte sich auf die Fensterbank, und nachdem sie sich ihrer Mäntel entledigt hatten, zogen Katenus und Elly zwei leichte Armsessel ans Fenster und setzten sich zu ihr. “Wie schön, dass du uns schon so bald wieder besuchst,” sagte Elly, und Katenus ergänzte, “So erzähl uns doch bitte was mit uns zu besprechen du im Sinne hast.” Einfacher und unmittelbarer hätte die Gelegenheit kaum sein können. “Die Besprechung über den Inhalt der Rechnerkarteien mittels derer man Euch verfolgt hat und weiterhin zu verfolgen droht, sind nun in genau zehn Tagen angesetzt, und, euerm Vorschlag gemäß, in der Aletheia.” “Also doch,” sagte Katenus, “Das finde ich, wie du weißt, sehr passend.” “Aber mit der Wahrheit,” sagte Charlotte, “hat es so seine Probleme. Sie ist nicht immer zuverlässig zu bestimmen.” “Da redest du, wie eine erfahrene Philosophin.” “Das bin ich aber nicht, und das zu sein möchte ich auch nicht beanspruchen. Und vielleicht ist dies was ich euch mitteilen möchte, dass meine Vorstellung von dieser angesetzten Besprechung durchaus nicht zuverlässig ist. Ich weiß nicht was die Karteien die wir bearbeiten wollen enthalten, ich weiß nicht wie sich die vorgesehene Besprechung entwickeln wird. Darauf wollte ich euch aufmerksam machen. Darauf wollte ich Euch vorbereiten.” “Ach, weißt du,” erwiderte Katenus, “Da brauchst du unseretwegen nicht besorgt zu sein. Ich habe längst, schon seit Jahren, den Versuch meine Zukunft zu bestimmen aufgegeben. Das vermag ich nicht. Auch die Vergangenheit dünkt mich wie ein Traum, denn ich bin mir der Schwäche, der Unzuverlässigkeit und besonders der katastrophalen Unvollständigkeit meines Gedächtnisses eindringlich bewusst, und die wissenschaftlichen Berichte die man über die Vergangenheit veröffentlicht, scheinen mir Mythen besonderer Art. Ich lebe, Elly und ich leben, in der Gegenwart, in einer unmittelbaren Zeitspanne deren unfeststellbare Grenzen wie die Grenzen des fließenden Wassers unerkenntlich sind.” “Ach, Katenus,” sagte Elly, da bist du wieder beim Philosophieren und bringst die arme Charlotte völlig durcheinander.” “Nein,” sagte Charlotte, “ich bin entschlossen mich durch nichts durcheinander bringen zu lassen. Vielleicht täusche ich mich, aber ich meine zu verstehen, wovon Herr Katenus spricht.” So etwa Charlotte. Sie war zufrieden, der Besuch bei den Katenus hatte seinen Zweck erfüllt. Kurz danach hatte sie sich verabschiedet und war gegangen. Siebtes Kapitel - 8101 << Der seit Wochen erwartete Tag war nun gekommen. Ihr stand eine Rückkehr zur Aletheia unter außerordentlichen Umständen bevor, eine Rückkehr deren symbolische Bedeutung Charlotte nicht umhin konnte, sich immer und immer wieder ins Bewusstsein zu zitieren. Ihr Schlaf war so leicht gewesen, als hätte sie im Traum die Nacht durchtanzt. Sie war um vieles früher als gewöhnlich aufgewacht, und als sie vorsichtig, um Joachim nicht zu stören, die Decken lüftete, und aus dem Bett schlüpfte, gewahrte sie fast überhaupt nicht geschlafen zu haben. Sie ahnte, dass der bevorstehende Besuch in die Aletheia zu einem Wendepunkt in ihrem Leben werden möchte. Verwunderlich, merkwürdig, sagte sie sich, wusste nicht was weiter sie denken sollte, und wandte ihre Überlegungen zu den notwendigen Vorbereitungen. Die Feierlichkeit ihrer Stimmung die sie sich nicht verhehlen konnte, versuchte sie als eine vernünftige Frau mit Überlegung zu löschen; aber es wollte ihr nicht gelingen, und indem sie die Linnaeusstraße hinan ging, ergänzte sie ihr Gefühl mit dem Gedanken, so möchte es sein, wenn man zu seiner Hochzeit schreitet. Ihr Denken machte sie umso mehr verwirrt. Sie hatte die Ecke der Landesallee erreicht, und entschied sich, um die Bitterkeit und auch die Süße ihrer Erinnerungen an die Aletheia bis auf die Neige auszuschlürfen, den nicht übermäßig kurzen Weg zu Fuß zurückzulegen. Allenfalls würde ihr das Überqueren der Straße erspart bleiben. Jetzt erinnerte sie ihren ersten, ursprünglichen Weg in die Aletheia, mit den vierzig vierzig Dollarscheinen die sie ohne Befugnis der Schopenhauerausgabe entnommen hatte; nein, es waren nur zwanzig Scheine von je zwanzig Dollar gewesen, dennoch viel zu viel, und schlimm genug. Aber im Rückblick, sagte sie sich, ist's unvermeidlich dass sich die Maße des einst Erlebten ändern, manchmal verschwinden sie, und manchmal werden sie überwältigend. In diesem Zusammenhang fragte sie sich, ob was in der Aletheia geschehen war, oder ob was man ihr in der Aletheia angetan, sie in eine andere Frau verwandelt hatte. Sie überlegte sich, wer sie denn überhaupt war, und fand auf diese Frage keine Antwort. Jetzt erinnerte sie, welch eine außerordentliche Rolle sie in ein Paar Minuten würde spielen müssen, nämlich die Rolle der Reichsregierungsvorsitzenden. Wirklich, fragte sie sich nun, wer es denn war, der als geisteskrank betrachtet werden musste? War es sie selber oder war es die Welt, die Gesellschaft, und deren verschiedene einzelne Mitglieder in deren Mitte sie lebte, die alles was ihnen geschah als vernünftig und selbstverständlich in ihre Leben einstuften, und dass jene es waren, die als geisteskrank betrachtet werden sollten. Vielleicht würde die Aletheia schließlich nur als Irrenhaus verständlich. Das möchte sich reimen. Aus dieser Perspektive ließe sich manches im Leben erklären. Vielleicht war Wahnsinn der einzige Gesichtspunkt von dem was sie erlebt hatte, überhaupt vernünftig zu betrachten, und demgemäß zu ertragen war. Jetzt war Charlotte an ihrem Ziel. Das Denken hatte den Weg verkürzt. Vielleicht sagte sie sich, ist es das Denken, und nur das Denken wodurch das Leben erträglich wird. Das war ein Satz den Joachim, nein, den Jonathan hätte aussprechen mögen. Bei all ihrer Abneigung gegen den sogenannten Geist der im Döhringhaus herrschte, hatte er sie dennoch erwischt. Das bewies dieses Denken über das Denken. Und jetzt sah sieh ein, dass es dieser Geist war, der sie zu ihrem großen schwierigen Amte befähigte. Sie fragte sich ob es nicht vielleicht doch ein Fehler gewesen war, auf Katenusens Wunsch, nein, es war ja eigentlich eine Bestimmung seinerseits gewesen, einzugehen. Machte es doch die Aufgabe um vieles schwieriger, sie in der Aletheia abwickeln zu müssen. Diesen Gedanken jedoch vermochte sie sich jetzt nicht zu erlauben und sie verscheuchte ihn, denn sie musste sich auf die Begegnung mit Georg, die ihr unmittelbar bevorstand, gefasst machen. Dies würde das vierte Mal, dass er sie hier empfing, und die drei vorigen waren dann auch ... Plötzlich war der Gedankenfaden ihr entschlüpft, als wäre er von dem elektrischen Schalter unter ihren Füßen, indem sie ihn betrat, mit den gläsernen Schiebetüren die er ihr auseinander zog, zerrissen. >> Siebtes Kapitel - 8186 << In Ordnung >> Charlotte wird von dem ihr unbekannten Armand empfangen - 8187 << Ein junger Mann in Livree stand vor ihr, begrüßte sie, verneigte sich und sagte, "Ich heiße Armand und stehe zu Ihren Diensten." Charlotte war verblüfft. Erwartet hatte sie von Georg empfangen zu werden, denkbar auch von Chuck, oder gar von Lemuel. Aber Armand! Wer war er? Wer hatte ihn bestellt? Und welche Dienste hätte sie von ihm zu erwarten? Charlotte hatte aus Erfahrung zureichenden Grund den Männern die sie in der Aletheia begrüßten, mit Vorsicht zu begegnen. Jetzt war sie sprachlos. Armand aber bezeugte keine Verlegenheit. "Wir haben den Treuhändersaal für Sie vorbereitet," sagte er. "Erlauben Sie mir bitte, Ihnen zu zeigen wo Ihre Sitzung stattfinden wird." Mit diesen Worten war Armand an eine nahliegende Tür getreten, hatte sie geöffnet, und zeigte nun Charlotte den Saal wo die Tagung, nein, sagte sie sich, es war ja nur eine Besprechung, zwischen den vertrauten Mitgliedern eines kleinen Kreises, stattfinden würde. Jenseits erstreckte sich ein Zimmer von mittlerer Größe, und in seiner Mitte, ein langer, mit weißem Leinen überzogener Tisch, gedeckt für nicht weniger als zwölf Personen, mit glänzenden achtseitigen weißen Tellern, mit Messern, Gabeln und Löffeln, sämtlich aus Silber, und in dessen mittlerem Streifen drei fünfarmige Leuchter im Chippendale Stil mit Kerzen, die im Zug der schwungvoll geöffneten Türen begonnen hatten so heftig hin und her zu wehen, dass Armand vorerst bekümmert war, sie vorm Erlöschen zu bewahren. Als er mit dem vorsichtigen langsamen Schließen der Tür, sich des Verharrens des zierlichen Flackerns versichert hatte, wandte er sich zu seinem Gast, wies auf den Stuhl am Kopfende des Tisches und erklärte feierlich mit einer leichten Verbeugung, "Selbstverständlich ist dies ihr Platz." Erst jetzt wurde Charlotte sich bewusst, dass sie Armands zuvorkommende Höflichkeit mit noch keinem Worte anerkannt hatte. Sie ließ ihre Augen ein weiteres Mal über den üppig für zwölf Personen ausgestatteten Tisch gleiten, und sagte dann nachdrücklich, "Ich danke ihnen, vielmals danke ich ihnen, für die großartige Vorbereitung. Ich fürchte aber Sie haben sich unnötige Mühe gemacht, denn unsere Besprechung wird mit einer nur geringen Anzahl Beteiligter stattfinden." Kaum waren ihr diese Worte entfahren, dass Charlotte gewahrte sich die Anzahl der Erwarteten bisher noch gar nicht überlegt zu haben. Momentan wusste sie selbst nicht, wie viele und wen sie zu erwarten hatte. Wieso, fragte sie sich, versagte ihr in diesem Augenblick das Rechnen? Zugleich rügte sie, nach einer schlaflosen Nacht, hier viel zu früh angekommen zu sein. Auch war es ihr peinlich, dass sie kein Buch sich abzulenken mitgebracht hatte, nicht einmal Notizblock und Bleistift oder Kugelschreiber, und das wäre doch das mindeste gewesen, das sie benötigt hätte. Aber Armand, der ihr offensichtlich so bereitwillig zu Dienste stand, würde ihr gewiss behilflich sein. "Ach, lieber Armand," hörte sie sich jetzt sagen, "Seien Sie doch bitte so gut, mir einen Block Papier zu besorgen, und einen Kugelschreiber, damit ich mir Notizen machen kann." Armand schien von Charlottens mildem Befehl keine Notiz zu nehmen. Er stand vor ihr wie in Gedanken versunken. "Ach," sagte Charlotte sich im Stillen, "schließlich bin ich doch zu nachgiebig, als Vorsteherin des Reichsregierungskabinetts, wenn ich sie wirklich bin, oder auch nur eine blasse Hoffnung hege sie zu werden, sollte ich doch gelernt haben, zu befehlen statt zu bitten. Sofort aber sperrte ihr die Erinnerung an ihre bösen Drohung Jeremias Zehplus wegen seiner Unbotmäßigkeit foltern zu lassen weitere Worte. Das war eine Ausschweifung gewesen für die sie sich entschuldigt hatte, und über die sie sich seither hatte schämen müssen. Und so vermochte sie jetzt nichts als zu schweigen. "Sehr geehrte Frau Magus-Graupe," sagte sich Armand versuchsweise im Stillen, "Nein, es ziemt mir sie als Frau Graupe-Magus anzusprechen," korrgierte er sich, eh er sagte, "Ich bin beauftragt, Frau Graupe-Magus, sie mit einer Abänderung des vorgesehenen Protokolls bekannt zu machen. Es wird allgemein behauptet, dass sich die Regierung unseres Landes, unseres Staates, oder sollte es heißen unseres Reiches, in einem Maße zersetzt hat, das eine völlige Erneuerung erheischt, eine Erneuerung welche um ersprießlich und erfolgreich zu sein, von basischem Verständnis, von grundlegender Exegese untermauert sein muss. Deshalb ist es vorgesehen den Beraterkreis wesentlich zu erweitern." "Was Sie da sagen, lieber, nein, was Sie da sagen, verehrter Herr Armand, ist mir interessant und ist zweifellos bedeutsam, doch ziemt es sich hier eindeutig auszusprechen woran es mir vornehmlich liegt, nämlich an der Beschützung vor Fahndung und Verfolgung meiner Bekannten. Nun frage ich Sie, wie soll unter den Umständen welche Sie vorschreiben, dieser so dringend erforderliche Schutz bewerkstelligt werden?" "Das, gnädige Frau Graupe-Magus, wird ihnen im Verlauf der Verhandlungen offenbar werden." "Ich möchte es aber jetzt wissen," erklärte Charlotte, und zögerte, indem sie sich plötzlich der Gefahr bewusst wurde, Herrn Armand gegenüber in einen wirkungslosen vergeblichen Befehlsmodus abzugleiten. Das wäre ein überaus fragwürdiges, wenn nicht gar fehlerhaftes Verhalten, demzufolge sie, Charlotte Graupe, die sie leider noch war, diesem Mann Armand, wie immer er mit Nachnamen heißen möchte, beamtlich, und so gebe es Gott, nur beamtlich und nicht körperlich unterlegen sein würde, ein Umstand den sie sich nicht erlauben konnte. Jetzt entzündeten sich in ihrem Gemüt die Bilder und Szenen ihrer Demütigung in der Aletheia, und loderten auf in Flammen von Empörung und Angst, dieser Armand möchte sich als ein Berufsgefährte von Lemuel Adams entpuppen, und sie, Charlotte Graupe, schließlich dennoch zur Rückzahlung der zwanzig Zwanzigdollarscheine, die sie vor jetzt so langer Zeit den Seiten der Schopenhauerausgabe entnommen hatte, und irriger Weise in die Opferschale im Kristallpalast als Anzahlung auf die Kochkunststudiengebühren gelegt, zwingen, oder ärger noch zu einer weiteren Reihe von besonderen Sinnlichkeitsübungen für erfolgreiche Absolventinnen des Grundkurses. Armand schien ihre Unruhe bemerkt zu haben, "Liebe Charlotte," sagte er, du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Zwar bekleide ich ein Amt in der Aletheia, aber es ist die Professur nicht für Altertumssinnlichkeit sondern für Altertumssittlichkeit, weswegen man mich dir um deine Bemühungen zu unterstützen zugewiesen hat. Auch brauchst du für Maximilian Katenus und Elly Solmsen keine Angst zu haben, auch nicht für Jonathan Mengs und Joachim Magus; denn mit deinen Einladungen an sie alle, hast du einen jeden von ihnen zu Ehrenmitgliedern der Aletheia gemacht, und als solche sind sie ebenso gegen öffentliche Fahndungen und Verfolgungen geschützt wie ordentliche Mitglieder der Aletheia Fakultät." Charlotte war von diesen gänzlich unerwarteten Ausführungen Armands derart überwältigt, dass ihr nicht nur die Worte, sondern auch die Gedanken und sogar die Gefühle versagten. Wie versteinert ließ Charlotte Armands weitere Rede über sich ergehen. "Erlaube mir zu erklären," fuhr Armand fort, "dass wenn man die Frau eines Mannes erwähnt, man sie gewöhnlich als dessen Ehefrau meint. Man spricht von Frau Elly Katenus, obgleich man weiß, oder wissen sollte, dass Elly und Maximilian nicht verheiratet sind." "Aber wenn man zusammenlebt, wie Mann und Frau," protestierte Charlotte, der die Vorstellung von der Ehe ihre Stimme zurückerstattet hatte. "So hab ich also doch nicht völlig gelogen." "Da bist du im Begriff ein großes Thema anzuschneiden. Aus deinen Worten möchte man schließen, du meintest dass es Volllügen, Halblügen, Viertellügen gibt, so wie die Nazis bestimmten es gäbe Volljuden, Halbjuden, und etwa Vierteljuden." "Ei," wehrte sich Charlotte, jetzt wieder in ihrem Element der Selbstbehauptung, "das ist aber ein geschmackloser, anstößiger Vergleich den du mir aufhalst." "Bitte entschuldige mich," sagte Armand, jetzt wieder im Ton des untertänigen Dieners, "ich beabsichtigte nichts als dich für den Vorschlag vorzubereiten, dass es vielleicht überhaupt keine Lüge gibt." "Das ist unmöglich," erwiderte Charlotte, "denn wenn es keine Lüge gibt, gibt es auch keine Wahrheit." "Darüber ließe sich diskutieren," sagte Armand, "Ich möchte dich aber versichern, dass ich es dir nicht zuwider halte, dass du am ersten Tage behauptest du seist die Ehefrau von Joachim Magus, am zweiten, du seist nichts als seine Freundin, und am dritten Tage, dass du ihn überhaupt nicht kenntest; wo es doch die Tatsache ist, dass ihr beide jede Nacht wo er nicht zu müde ist, lebhaft und leidenschaftlich mit einander kuschelt." Jetzt war Charlotte gänzlich erbost. Jede Spur von Angst vor diesem Klatschmaler war verflüchtigt, "Du Unverschämter!" fauchte sie, "Woher weißt du das alles eigentlich?" "Von Jeremias Zehplus," antwortete Armand, "den kennst du doch. Nein, nicht von ihm, von seinem Rechner, der weiß alles." Charlotte blieb nichts übrig als sich zu ergeben. Sie erinnerte ihre ursprüngliche Bitte an ihren Diener um Schreibmaterialien, und sagte, "Eh ich mich von dir hatte ablenken lassen, bat ich dich um einen Kugelscheiber und einen Notizblock." Kaum hatte Charlotte dies Gesuch wiederholt, war Armand verschwunden, und ebenso schnell war er zurückgekehrt. Nun lagen Notizblock und Kugelschreiber vor ihr auf dem Tisch. Sie blickte auf diese einfachsten Instrumente des Geistes, und wusste nicht was sie ihr sollten, wusste nicht was zu schreiben oder was auch nur zu denken. Sie spürte nichts als unentwirrbares Durcheinander. Wie würde es ihr je gelingen die Regierung zu leiten, wenn es ihr sogar jetzt schon an niederzuschreibenden Gedanken mangelte? Wie abschätzig musste nicht Armand, in Anbetracht ihres intellektuellen Versagens, ihre Verwaltungskompetenz beurteilen. Jetzt plötzlich empfand sie, dass ihre Berater ihr dringend fehlten, nein, nicht eigentlich Joachim, denn der, das musste sie sich gestehen, stand zu sehr unter ihrem Einfluss um sie beraten zu können, aber Moritz Schwiegel, der ehrliche Anwalt, der stets mit seinem Rat so freigiebig war, den benötigte sie. Dabei fiel ihr zum ersten Mal Maximilian Katenus als möglicher Ratgeber ein. Dessen Gedanken, gestand sie sich jetzt, schienen viel tiefer in die Wirklichkeiten der Welt einzudringen, als es den ihren je gelingen würde. Es verwunderte sie, bisher nicht auf Katenusens geistige Fähigkeiten aufmerksam geworden zu sein. Oder zitierte sie Gedanken an andere Berater in ihre Phantasie, nur um sich mit ihnen gegen Armand zu schützen, der doch wahrhaftig nichts als untertänig war und sie mit keiner Gebärde bedrohte. Armand der Charlotte in ihrer Ratlosigkeit beobachtet hatte, brach jetzt das Schweigen und sagte mit befehlender Stimme: "So, nun haben Sie keine Ausrede mehr ihre Vorstellungen für die Organisation der notwendigen neuen Regierung nicht niederzuschreiben." Kaum aber hatte er dies gesagt, war Armand ohne Erklärung verschwunden, und Charlotte befand sich allein, als einzige, auf dem mittleren Platz am oberen Ende des festlich gedeckten Regierungstisches im Treuhändersaal der Aletheia. KK Kapitel 11.8 KK In Ordnung >> Im Treuhändersaal von Armand allein gelassen, verfällt Charlotte wiederholt in tiefen Schlaf - 8399 << Kaum hatte Armand sich entfernt, war Charlotte eingeschlafen. Sie träumte, aber wovon hätte sie nicht zu sagen vermocht. Schon meinte sie wach zu sein, und zum Beweis rieb sie sich die Augen. Welch eine Blamage! Sie hatte wohl nur geträumt geträumt zu haben, denn jetzt wo sie meinte wach zu sein, sah sie die große Anzahl der Beteiligten, und dass sie wach war, dessen war sie sich jetzt ganz sicher. Sie hatte nur sieben Mitglieder, Zehplus, Schwiegel, Katenus, Elly, Mengs, Joachim und sich selber zu dieser streng vertraulichen Sitzung vorgesehen, mit dem ausdrücklichen Zweck für Maximilian Katenus und Elly eine neue Identität zu entwerfen, eine fiktive Biographie die von Jeremias Zehplus den Rechnerkarteien eingegeben würde. Joachim sollte dabei sein, denn es war ja er, dessenhalber sie, Charlotte, sich diese erstaunliche Mühe machte, eine Mühe so beträchtlich, dass sie bezweifelte ob und wie sie dies alles je zu bewältigen vermöchte. Aber da sie wegen der Nacht versäumten Schlafs so müde war, dass sie geträumt hatte wach zu sein, fühlte sie jetzt keine Angst, denn sie war zuversichtlich, dass der Traum die Problematik die er geschaffen hatte auch entwirren würde. Ein weiteres Mal schlief Charlotte ein, oder war es, dass sie vom bedrohlichsten, nun in einen seichteren Traumesspiegel geglitten war. Aber diesmal war es gewiss kein tiefer, es war ein leichter neckender tanzender Schlaf in dem sich ihr Leben wiederholte und zusammenfasste. Sie war unterwegs, sie befand sich auf einem Fußweg, aber genau wo dieser gelegen war, hätte sie nicht zu sagen vermocht, Doch wohin er führte, das wusste sie, es war zur Klavierstunde von Susanna Freudenberg. Jetzt war sie angekommen, sie erkannte die Tür, und sie klopfte an, und klopfte, und klopfte wiederholt und vergebens, aber doch nicht, denn zuletzt wurde die Tür geöffnet, aber so schnell, dass sie das eigentliche Öffnen verpasst hatte. Vor ihr stand Georg in dem offenen Rahmen. Er war es der die Tür für sie geöffnet hatte. "Ich hab eine Abmachung für eine Klavierstunde mit Susanna Freudenberg," sagte Charlotte. "Susanna ist ausgezogen," antwortete Georg und versuchte die Tür zu schließen, aber es gelang ihm nicht, denn Charlotte war nun schon so weit eingedrungen, dass ihr linker Schuh wie ein Keil zwischen der Schwelle und der unteren Kante, die Tür offen hielt. "So sag mir doch bitte, wo ich sie treffen kann." Da wandte Georg den Kopf und rief in die anscheinend leere Wohnung, "Dorothea, weißt du wo die Freudenberg sich aufhält?" "Im Döhringhaus, in der Linnaeusstraße," ertönte ein schwaches Echo aus dem Dunkel des Hintergrunds. "Nun weißt du's", sagte Georg, unbekümmert ob Charlottes es gehört und verstanden hatte. Diesmal gelang es ihm die Tür zu schließen. Scheinbar, entschied Charlotte, hatte sie doch wenn auch nur leicht, vorübergehend geschlafen, und um ihr Wachsein zu bestätigen, zog sie die Muskeln ihrer Augenlider heftig nach oben, und blickte dann geradeaus dem Tisch, wie einem Lineal entlang, vor sich hin, als würde um sich zu richten, diese Übung von ihr verlangt, und sah dass die Flammen der Kerzen sich beruhigt hatten. Nun wandte Charlotte den Kopf erst nach rechts und dann nach links, als wolle die des Halses Beweglichkeit prüfen, und stellte fest, ihr Nacken war so steif geworden, als gehöre er einer alten Frau. Und doch war sie, das sagte sie sich jetzt, kaum mehr als fünfundzwanzig Jahre alt. Wo war Armand? Beim Umsichblicken hatte sie ihn nicht gesehen. und sagte unwillkürlich als wolle sie ihn herbeibeschwören oder seine Abwesenheit bestätigen, "Armand!" Vom Klang der eignen Stimme überrascht, wartete sie. Als keine Antwort kam war ihr klar, dass sie allein war. "Eben so gut," hörte sie sich sagen, und war wiederum erstaunt, dass sie sich mit sich selber sprach. Jetzt malte sie sich aus, wer von den Herbestellten als Erster hier erscheinen möchte, und war verwundert, wie unwesentlich ihr in diesem Augenblick Joachims Kommen erschien. Auch Jeremias Zehplus allein hätte ihr nicht helfen können, denn dessen Absichten bedurften eine erfundene, oder sollte es nicht heißen, eine erlogene Lebensgeschichte, eine Erzählung, ein Märchen, eine Biographie eines banalen Menschen, der Unauffälligkeit zugeschnitten, eine Geschichte die auch Moritz Schwiegel allein nicht erfinden könnte, und die schließlich mit Hilfe von Maximilian Katenus selber würde entstehen müssen, wenn nur um schließlich von ihm genehmigt zu werden. Den Schlüssel welchen sie benötigte, hatte Katenus, wenn nicht in der Hand, dann im Gemüt, das verstand sie jetzt, und deshalb war es Katenus von dem sie hoffte, dass er als erster hier erscheinen würde. Charlotte horchte. Sie meinte Schritte zu hören. Die kamen näher, wohl aber nicht zur Tür dieses Zimmers, dann scheinbar entfernten sie sich wieder, bis sie verklangen. Katenus also und Elly waren es also doch nicht gewesen. Nun aber wiederholten sich die Laute, kamen näher um sich dann, ein zweites Mal, wie von selbst, zu verflüchtigen. Charlotte fühlte sich jetzt wieder sehr müde. Sie war sich dringend und peinlich bewusst in der vergangenen Nacht kaum, oder garnicht, geschlafen zu haben. Vielleicht träumte sie, und sah doch so klar wie mit offenen Augen, befühlte aber im Schlaf ihre Lider um sich zu versichern, dass diese geschlossen waren, und dass das ihr Wirkliche unwirklich war. Jetzt war es jenseits jeglichen Zweifels, dass sie schlief, und dass was sie sah und hörte und dachte im Traum geschah. Katenus und Elly waren also doch gekommen, und hatten ihre Plätze am unteren Ende des langen Tisches eingenommen. Aber sie waren nicht die einzigen. Denn da war der Richter Adams mit Chuck und Liese, ob als Begleiter oder als Wächter, wer konnte das sagen? Da waren Mathilde die Reinemachefrau, Hans der Klempner Theologe, und Karl der Regierungssachverständige dessen Spezialität das Foltern war, und Jeremias Zehplus der Programmierer. Jonathan und Joachim waren auch gekommen. Vor Jeremias Zehplus vermochte Charlotte jetzt nichts als sich zu schämen, denn weil er sich geweigert hatte sie mit den Geheimnissen der Reichsregierungsrechneranlage in Gegenwart der von ihr, Charlotte, so eben ernannten Reichsregierungsmitglieder bekannt zu machen, hatte sie ihm in Zorn und Angst in ungebührlicher Weise mit der Folter gedroht, und der vermeintlich der Mathematik ergebene Rechnerprogrammierer, hatte sich als ein großzügiger, liebenswürdiger, fast wagte sie es sich zu gestehen, liebevoller Mensch entpuppt, der ihr nichts zuwider hielt, bereit war ihr zu vergeben, und ihr tatsächlich vergeben hatte, und vor dem sie sich nun ein zweites Mal entschuldigen müsste, wo sie es ihm nicht verübeln könnte, wenn er dieses Mal nicht so großzügig wäre und ihr seine weitere Mitarbeit versagte. Ach, es war alles, das ganze Leben war, so unmöglich. Denn musste nicht Zehplus glauben, dass sie ihn mutwillig und absichtlich hinters Licht geführt hatte, in dem sie ihn vorgeblich zu einer hoch privaten Besprechung hierher einberufen hatte, mit nur dem Anwalt Schwiegel außer Katenus, als dem Betroffenen, zugegen. Nun war die ganze Welt, vor der dies alles verborgen bleiben sollte, hier erschienen. Wie konnte dies anders geschehen sein, anders als durch sie, als durch ihren Fehler, durch ihr Missverständnis, durch ihre Nachlässigkeit, wenn nicht gar durch ihre Tücke? Aber es war wirklich nicht ihre Schuld. Wie könnte sie beweisen, dass sie mit gutem Vorhaben, mit guter Absicht gehandelt hatte? Wer würde ihren Beschwörungen, ihren Erinnerungen, oder in deren Abwesenheit, ihren Versicherungen glauben? Wie vermochte sie zu erklären, wen könnte sie überzeugen, dass was immer geschehen, in der Aletheia passiert war und nur in der Aletheia hätte passieren können? Die Maßlosigkeit der Verkommenheit der Aletheia womit sie, Charlotte, am bündigsten vertraut war, würde keiner ihr glauben, vermochte sie auch jetzt noch sich selber kaum vorzustellen. Auch diese Verwechslung, diese Täuschung, war in der Aletheia entstanden, daran war ihr jetzt kein Zweifel mehr, aber wem könnte sie es erzählen, wem könnte sie es erklären, wer würde ihr glauben? Hatte sie doch bis jetzt gemeint, alles was sie in der Aletheia erlebt hatte, alles was ihr hier geschehen war, was man ihr angetan hatte, verschweigen zu müssen. Dies Schweigen hatte sie unheilbar, hatte sie unausweichlich in die Lüge verstrickt. Ihr Leben war Lüge, die Welt war Lüge. Nichts war mehr zu retten, und erträglich war es, nur weil sie es im Traum erlebte, weil sie es im Traum erkannte. Die Vorstellung dass die Aletheia irgendwelchen Grenzen unterläge; dass es eine Welt außerhalb der Aletheia gäbe, die anders wäre, diese Vorstellung war ein großer Fehler, den sie begangen, dessen sie sich schuldig gemacht hatte. Die Welt war überall die gleiche. Nur im Schlafe vermochte sie ihr zu entkommen. Erwachen konnte sie, durfte sie nicht, denn zu erwachen hieße zu sterben. Im Wachen wären ihr das Leben und die Welt unerträglich. Also sich noch tiefer, noch wollüstiger dem Schlaf anzuvertrauen, das war die einzige ihr zugängliche Lösung. Inzwischen würde ihr es nicht verwehrt sein, nein, es war im Gegenteil, ihre Pflicht genauestens Kenntnis von den Anwesenden zu nehmen. Sie waren alle, die ganze Regierung war vollständig zugegen. Sie versuchte zu unterscheiden zwischen denen welche sie als ihre Freunde und Freundinnen betrachten sollte, denen welchen sie gleichgültig war und die ihr gleichgültig sein sollten, und jenen welche mit ihr nichts zu tun haben wollten, welche sie ablehnten, und welche auch sie als ihr feindselig ablehnen sollte, von denen sie mit Recht sagen musste, die haben mit mir nichts zu tun. Und doch war es sie, Charlotte Graupe, gewesen, die all diese verschiedenen Menschen zu Regierungsministern ernannt hatte, ohne irgendetwas von ihnen zu wissen, ohne sie zu kennen, lediglich um die vom Ausbleiben der ernannten Beamten bewirkte Leere zu beheben. Das war, in Betracht der Nichtswürdigkeit der Vormaligen, gewiss eine Wandlung zum Besseren. KK Kapitel 11.9 KK In Ordnung >> Charlotte wacht auf, und erkennt Moritz Möchtegern als den Einzigen im Saal - 8602 << Charlotte war jetzt wach und rieb sich die Augen. Welch eine Blamage! Von den eingeladenen Gästen, nein Gäste sollten es nicht sein, sondern Beteiligte, und von den geladenen Beteiligten war keiner gekommen, außer ihr selber. Sonst war das Zimmer leer, oder doch nicht, denn am unteren Ende, an der linken Seite des langen Tisches sah sie die Gestalt eines Mannes, eines scheinbar alten, unrasierten, schäbig gekleideten Mannes, so ungenau sie auch dies aus der beträchtlichen Entfernung zu erkennen vermochte. Sie zählte ab wer von ihren Bekannten er sein möchte, und kam zu keinem Beschluss. Er war ein steinerner Gast an dem auch nur die geringste Bewegung festzustellen, ihr nicht gelingen wollte. So viel aber war ihr jetzt klar, es war nicht ihre Aufgabe, es war die Aufgabe des Dieners Armand den unbekannten Fremdling anzusprechen und ihn nach seinen Personalien zu befragen, um ihn dann einzuladen oder auszuweisen, wie immer es sich gehörte. So rief Charlotte laut, "Armand!" und ein zweites Mal lauter, "Armand!!" Aber sie bekam keine Antwort. Armand war fort, und auch der unbekannte Fremde am entlegenen Ende des langen Tisches ließ den Ruf verhallen ohne ihn zu beantworten. Charlottens Geduld war zuende. Wie würde sie ein Land zu regieren vermögen, wenn es sich ihr als unmöglich erwies auch nur einen einzigen fremden Menschen der sich aus unscheinbaren Gründen in diesen zur Konferenz bestimmten Treuhändersaal verirrt hatte, zur Rede zu stellen. "He da! Sie! Wer sind Sie?" hörte Charlotte ihre Stimme so eindringlich, dass sie meinte die kleinen gläsernen Ringe die das Wachs von den flackernden Kerzen an den Armen der Chippendale Leuchter auffingen, klirren zu hören. Sie hatte aber nicht nur gerufen, geschrieen hatte sie so laut sie es vermochte, und als diese Bemühung erfolglos blieb, wechselte sie die Grammatik und schrie mit ebenso lauter Stimme: "He da! Du, wer bist du? Was willst du hier?" Schließlich blieb Charlotte nichts übrig als aufzustehen und sich in Richtung der unbekannten Erscheinung zu bewegen. Sie tat dies in ruhigem Gleichmaß als hätte sie es zu tun mit einem wilden Tier das, wenn überrascht, aufspringen würde, sie angreifen, überwältigen und vergewaltigen. Was alles war in der Aletheia nicht möglich, was alles hatte nicht sie, Charlotte Graupe, schon in der Aletheia erlebt! Nun war sie, wie langsam auch immer, ohne seine Notiz auf sich gezogen zu haben, am Platz des unbekannten Fremden angekommen, und weil er auf ihre Stimme nicht reagiert hatte, legte sie ohne ein weiteres Wort zu sagen, ihre Hand auf seine Schulter. Da wandte der zottige Fremde sich um, und sagte mit einem Tenor so klar und melodisch, dass seine Stimme und seine Erscheinung sich gegenseitig Lügen straften: "Ich bin Moritz Möchtegern. Meine Freundin Erato ist auf Sie und auf die Problematik in die Sie verstrickt sind aufmerksam geworden, hat festgestellt dass Sie Hilfe bedürfen, und hat mich zu ihnen geschickt um ihnen meinen Beistand anzubieten." "Ach," sagte Charlotte, "ich bin ja so erleichert." Sie fühlte, dass sich in diesem Moment ihre Welt im Umdrehen verwandelt hatte, dass wenngleich vor noch wenigen Augenblicken die Gliederung einer neuen Gesellschaft und die Neugründung eines Staates ihr als unlösliche auswegslose Problematik und dieser lotterige Fremdling als eine ihr persönliche Gefahr erschienen waren, sich jetzt alles umgekehrt hatte. Schon die Anwesenheit dieses struppingen Eindringlings stimmte sie zuversichtlich, nein, nicht dass die so bedrohende und bedrückende Problematik löslich sei, sondern mehr noch, dass diese schon entwirrt, schon gelöst wäre. "Kann man sich denn hier nirgends hinsetzen?" fragte Charlotte, und erkannte sofort, dass ihre Frage die Verlautbarung des reinsten Unsinns war, denn umher stand eine Unzahl leerer Stühle und dieser ganze Raum, der Treuhändersaal in der Aletheia, war ihr, Charlotte Graupe, als Reichsregierungsvorsitzende, zur Verfügung gestellt. Da verwandelte sich Charlottes Anliegen und sie fragte behutsam, "Darf ich mich neben Sie setzen?" denn sie war bedacht die zauberhafte Harmonie die sich soeben offenbart hatte nicht zu verderben. Zugleich aber schien es ihr unziemlich ihren besonderen Stuhl als Vorsitzende der Reichsregierungskammer am oberen Ende des langen Verhandlungstisches zu beanspruchen, und Moritz Möchtegern, dessen Hilfe ihr nun plötzlich unentbehrlich schien, und dessen Namen sie eifrig im Gedächtnis wiederholte um ihn nicht zu vergessen, einen von ihr entfernten Platz anzuweisen. Jetzt saß Charlotte an Moritzens Seite am unteren Ende des elegant für zwölf oder vierzehn Personen gedeckten Tisches. Bei der regen Verwirrung ihrer Gedanken hätte sie nicht zu sagen vermocht, ob Möchtegern es ihr erlaubt hatte, oder sie gar aufgefordert neben ihm Platz zu nehmen. Jetzt aber war es zu spät dies Missverständnis, wenn es ein solches war, zu berichtigen. Es ergab sich eine Stille, als ob keiner von den beiden wusste, was er dem anderen sagen sollte. Schließlich brach Charlotte, Vorsitzende die sie doch sein sollte, das Schweigen. "Es ist freundlich von ihnen sich die Mühe gemacht zu haben her zu kommen um mir behilflich zu sein. Sagen Sie mir bitte, wie Sie vorschlagen mir zu helfen." "Der erste Schritt," sagte Möchtegern, "ist zu entscheiden ob man die Gedanken die einem zeitweilig durchs Gemüt ziehen als Gebilde der Wirklichkeit anzunehmen gezwungen ist, oder ob man sie als Phantasie anerkennend, abtun, ausziehen darf und sozusagen in seinen Vorstellungsschrank, wie etwa in einen Kleiderschrank aufhängen, von wo man sie sich am nächsten Feiertage wieder herausholt, um sie dann zum festlichen Gang zum Abendmahl oder zur Messe, in die Kirche, in die Synagoge, in die Moschee, zur Taufe, zur Konfirmation, zum Bar-Mitzwah, zur Hochzeit, ..." Hier wurde Möchtegern von Charlotte unterbrochen. "Ich sollte meinen," sagte sie, "auch zur Bat-Mitzwah, oder zählen sie zu den Orthodoxen die von Rabinnerinnen nichts wissen wollen, und meinen Frauen taugten zu nichts als Kinder zu gebären und Koscher zu kochen." "Ihre Vermutung, ich sei ein Jude, ist mir eine große Ehre," sagte Möchtegern, "aber wenn Sie fortfahren mich zu unterbrechen, gelangen wir nie zu unserem eigentlichen Thema, und mein Bestreben ihnen zu helfen wird vereitelt." "Ja, also gut," erwiderte Charlotte, "das eigentliche Thema, wenn ich recht erinnere, war ob unsere Gedanken Phantasieen sind, deren wir allenfalls an Werktagen uns entledigen müssen um sie im Kleiderschrank aufzubewahren." "Du hast ein gutes Gedächtnis," sagte Möchtegern. Unwillkürlich hatte er sie geduzt, vielleicht aus Verlegenheit nun schließlich eine zweite Frau gefunden zu haben die ihn verstand, wobei es ihm durchs Gemüt flog, dass Erato, die ihn mit göttlichem Verständnis liebte, es ihm vergeben würde, dass er Charlotte Graupe duzte. "Ja, mit dem Ablegen der Phantasien, ist es so ein Problem," fuhr Charlotte fort, indem sie sich entschloss Möchtegerns Duzen zu erwidern. "Wenn man sich auszieht, dann tritt, allenfalls bei mir, die unordentliche Unterwäsche in Erscheinung, die einen weniger erbaulichen Anblick bietet als das brockatbestickte Abendkleid." "Vorausgesetzt, dass man überhaupt Unterwäsche trägt," ergänzte Möchtegern. Da streifte Charlotte Möchtegerns schäbiges Äußeres mit einem flüchtigen Blick und mutmaßte, aber ganz im Stillen, dass er vielleicht tatsächlich von sich selbst, von seinem gegenwärtigen Zustand ein Bekenntnis ablegte. Aus der Verlegenheit in die er geraten war flüchtete Möchtegern, seiner Gewohnheit gemäß, in die Philosophie. "Mit der Frage nach dem Sein oder Nichtsein begibt man sich man mit Hamlet in die Ontologie zu Martin Heidegger ins Dickicht der Sprache, ein Labyrinth aus dem ich seit Jahren vergebens den Ausgang suche. Wichtig ist entdeckt zu haben, wie schwierig, bis zur Unmöglichkeit es sein möchte, zwischen den vielen Stufen der Wirklichkeit und den vielen Stufen der Phantasie, zuverlässige Unterschiede zu bestimmen." "Plötzlich fällt mir ein," fügte Charlotte hastig hinzu, denn sie meinte etwas entdeckt zu haben, das sie nun endlich durch Aussprache festlegen wollte, "dass wir uns hier in der Aletheia, in Hinsicht des Abstreifens verhüllender Vorstellungen, am richtigen Platz befinden. Besagt denn nicht Aletheia das Abstreifen von allem das die Wirklichkeit verhüllt." "Im Mainfränkischen Museum in Würzburg sind Tilmann Riemenscheiders Holzschnitte von Adam und Eva ausgestellt." Ich weiß nicht wer von den beiden das gesagt hatte. "Der zweite Schritt," fuhr Möchtegern, erleichtert von der Gelegenheit das Thema zu ändern, fort, "ist zu entscheiden ob man überhaupt in Not ist. Des öfteren, darf ich es sagen, wird die Not erst durch die Meinung, dass sie bestünde, hervorgerufen." "Sie denken also die Not der zu entkommen Sie sich in so freundlicher Weise angeboten haben mir zu helfen, wäre eben dadurch entstanden, dass ich meinte in Not zu sein und Hilfe zu bedürfen." "So möchte man es sagen. Sie sind mit Grimms Märchen vom Gestiefelten Kater vertraut. Der empfand trotz dringender Gefahr seinen Pelz und sein Leben an ein Paar Hausschuhe zu verlieren, keine Not. Jener Kater entbehrte aus Schopenhauers Perspektive jeglicher Vorstellung. Er war der reine Wille." "Und was hat der Gestiefelte Kater mit mir zu tun? Ich frage höflichst. Meinen Sie wirklich ich müsste ein solcher, ein Gestiefelter Kater werden?" "Ich meine," antwortete Möchtegern, "der Erfolg ihrer Bemühungen, wenn nicht sogar ihre geistig-seelische Gesundheit, nein es ist persönlich und ich will es persönlich sagen, ich meine der Erfolg deiner Bemühungen, wenn nicht sogar deine geistig-seelische Gesundheit, dein Überleben, hängt ab von deiner Empfindsamkeit, von den Qualitäten deines Denkens und Fühlens, und dies nicht als sprachliches, rhetorisches Erzeugnis, sondern als Handlungs- als Wirkungsart. Die Unbeholfenheit meiner Worte beweist ihre Gültigkeit." "Ich meine dich zu verstehen," sagte Charlotte zu Möchtegern, nun auch der unpersönlichen Anrede entsagend. "Aber wenn du mir wirklich helfen willst, must du bereit sein, dich in Einzelheiten zu ergehen." "Ach, Charlotte," erklärte Möchtegern, "das Höchste wäre zu erkennen, dass wir die Wahrheit nie zu erreichen vermögen, und nie erfahren weder in der Vergangenheit, wie es wirklich aussah, noch in der Gegenwart, wie es wirklich aussieht, noch in der Zukunft, wie es wirklich aussehen wird." "Mit solchen Allgemeinheiten, Gemeinplätze will ich sie nicht nennen, ist mir nicht geholfen," beklagte Charlotte. "Da bin ich anderer Ansicht," entgegnete Möchtegern, "im Gemeinplatz ist das Wesen der Sprache versteckt. Dies ist es was du begreifen musst, um die Grenzen der Sprache zu überqueren, um dir jenseits der Sprache einen Ort zu erobern, von wo es dir möglich ist zu handeln. Du musst lernen die Welt der Sprache, ich will nicht sagen zu überwinden, jedenfalls aber zu überblicken, um letztlich dich selbst, dein Leben, dein Wesen und deine Würde zu behaupten." KK 12. Kapitel KK In Ordnung >> Armand unterbricht Charlottens Zwiegespräch mit Möchtegern - 8836 << In diesem Moment wurden Charlotte und Möchtegern in ihrem Zwiegespräch von Armand unterbrochen. Der war schon vor einigen Minuten unbemerkt im Treuhändersaal erschienen und hatte auf die Gelegenheit gewartet, ohne das offenbar dringende und leidenschaftliche Gespräch zu unterbrechen, seine Besorgnis mitzuteilen. "Ich bitte um Entschuldigung," begann Armand, "aber es hat sich vor diesen Türen eine zunehmende Zahl von Menschen angesammelt von denen ein jeder behauptet er sei als Teilnehmer zu einer Besprechung über die Neugründung des Staates bestellt, und verlangt auf meine Erwiderung eine solche Konferenz sei schon im Gange und dürfe nicht gestört werden, umso dringender zugelassen zu werden. Ich befürchte, wenn wir es unterlassen zu handeln, rennen sie uns die leichtgebauten Wände ein die ja nur geringfügige Gefache sind, provisorisch aufgestellt um eine ausgedehnte Halle in zahlreiche kleinere Gesprächs- und Esszimmer aufzuteilen." Von dieser Nachricht war Charlotte verblüfft. Wieder hatte sie als Vorsitzende der Reichsregierung versagt, hatte ohne gewissenhaft eine Liste zu führen, etliche Einladungen ergehen lassen zu einem Zusammenkommen das nun sogar diese eleganten Räumlichkeiten zu überfluten drohte, besonders in Anbetracht der unerwarteten Ankunft von Moritz Möchtegern dessen Kenntnisse, nein, dessen Verstehen, wenn es nicht sogar Weisheit genannt werden sollte, jetzt unentbehrlich schien. Die Stille, die sich aus Charlottes verlegenem und Armands dienerischem Schweigen ergeben hatte, währte nicht lange. Sie wurde von Möchtegerns selbstverständlicher Baritonstimme unterbrochen. "Ich rate dir, Charlotte, so viele dieser demontierbaren Wände entfernen zu lassen wie nötig, um für die mehreren weiteren Teilnehmer an unserer Besprechung Platz zu machen. Ein jeder mag sich mit einem Stuhl aus den eröffneten Räumlichkeiten versehen, und sich dann im Kreis oder im Halbkreis um uns herum in dem erweiterten Raum niederlassen." Und so geschah es. KK Kapitel 12.3 KK In Ordnung >> Geladene und Ungeladene drängen sich in den Treuhändersaal - 8880 << Jetzt, indem die geringfügigen Gefache entfernt wurden, ertönten überall in der geräumigen Halle wo man den Treuhändersaal eingerichtet hatte, Stimmen und Schritte. Alle Türen standen offen. Charlotte konnte es nicht fassen, wie viele unbekannte Gäste sich herbei drängten. Wie würde sie Katenus und Elly die Vielzahl ungeladener und unerwarteter Gäste erklären? Es waren nicht nur die beiden Flüchtlinge die ihr in die Augen fielen, sondern auch der Richter Lemuel Adams, in Begleitung von Chuck und Liese, Polizist und Polizistin, ob als Wärter oder Ehrengarde, hätte Charlotte nicht zu entscheiden gewagt. Vielleicht sagte sich Charlotte, war sie wieder eingeschlafen. Vielleicht war auch Möchtegern ihr nur im Traum erschienen. Sie erhob den Kopf und blickte umher, und musste beschließen, dass sie nun endgültig erwacht war. Sie rieb sich die Augen um dies zu bestätigen. Sie erwartete dass man sie ansprach, dass man sie angriff, denn es war ja ihr Fehler, obgleich sie auch im Traum keinen Umweg entdeckt hatte auf dem sie ihn hätte vermeiden können. Aber dass sie als Vorsitzende eingeschlafen war, das war bestimmt ein Fehler, war ihre Schuld, denn als Vorsitzende wach zu bleiben, war doch ihre Pflicht, und die geringste die zu erfüllen, sie von sich erwarten konnte. Doch der erwartete Angriff kam nicht. Die vielen nunmehr um den Tisch Versammelten und auch die anderen an der Seite sitzenden, schienen zufrieden. Ihre Zahl zu bestimmen, war jetzt nicht Gelegenheit. Eine Stille herrschte, wie in der Kirche vor dem Gottesdienst, oder war es vor dem Gebet oder vor der Beichte. Plötzlich wusste Charlotte, es war an ihr die Stille zu entwirren. Es war an ihr etwas zu sagen. Sie musste handeln. Es war ihre Pflicht die Verwirrungen für welche sie verantwortlich war zu entflechten. Sie war sich der außerordentlichen Peinlichkeit der Situation bewusst. Am schmerzhaftesten war ihr die Enttarnung von Katenus und Elly welche deren Anwesenheit unvermeidlich nach sich ziehen musste. Wusste sie doch aus eigenster Beobachtung, wie viel Mühe, nach ihrer Ankunft von der Insel, sich die beiden gemacht hatten, unauffällig, unerkannt, inkognito zu bleiben, wie sie, um nicht erkannt zu werden, tagsüber ihr wenn auch großes und stattliches Zimmer gehütet, und ihre Spaziergänge auf Stunden der Dunkelheit verschoben hatten. Dann aber erinnerte sich Charlotte, dass es ja Katenus selbst gewesen war, der die Aletheia als den Ort dieser vermutlich streng vertraulichen Besprechung ausgesucht, und sie, Charlotte, hatte ihm zugestimmt um seine Mitwirkung an diesem Vorhaben in so hohem Maße wie möglich zu gewährleisten. Sie hatte Bedenken gehegt, er möchte sich weigern anderen Ortes überhaupt zu erscheinen. Den Fehler den sie gemacht hatte, war diese Ortsbestimmung des Gesprächs nicht von Schwiegel vorerst bestätigt haben zu lassen. Aber dann, wer hätte diesen Vertrauensbruch auf Seiten der Aletheiabehörden vorhersehen können, denn dass es ein solcher war, dessen konnte man sich nun nicht mehr täuschen. Sie überlegte, sie fragte sich, wer dieses vertrauliche Vorhaben verraten haben möchte. War es doch, abgesehen von der Döhringhausfamilie die außer ihr selber zur Aletheia und zur Reichsregierungszentrale keine Beziehungen hatte, nur Schwiegel, sie selber, und ja Jeremias Zehplus der in die Vorhaben eingeweiht war. Jetzt wurde es, jetzt war es ihr klar, jetzt bestand keine Frage mehr. Es war Jeremias Zehplus der sich für ihre Drohung mit der Folter an ihr gerächt, indem er eine unerwartete, unbekannte Besatzung zu dieser Besprechung angestiftet hatte, vielleicht auch um sich bei den neuen Machthabern beliebt und angenehm zu machen. Wie immer es auch sei, daran war jetzt nichts zu ändern. Und nun sah Charlotte klar, dass es doch kein anderer als Zehplus gewesen sein konnte, der Katenus und Elly und sie alle verraten hatte. Die Worte des Urverrats tönten ihr im Gemüt: "Welcher mit mir die Hand in die Schüssel tauchet, der wird mich verraten." Sie, Charlotte, hatte ihren Pfeil für Zehplus längst abgeschossen. Sie verfügte über keinen zweiten. Aber wie sie nun fortfahren sollte, wie das alte Thema abbrechen und ein neues einzuleiten, das wusste Charlotte nicht. Sie war verlegen und verfiel in Schweigen. Indem sie schwieg kam es Charlotte flüchtig in den Sinn, ob es nicht doch noch möglich wäre Katenusens und Ellys Identität zu verbergen. Sie besann sich einer Unterhaltung in scheinbar langer Vergangenheit, jetzt fast vergessen, denn so vielerlei war seitdem geschehen, kurz nachdem Katenus und Elly im Döhringhause erschienen waren, der Vorschlag ihnen neue Namen zu geben, also wie man heutzutage sagt, sie mit einer neuen Identität auszustatten, und nun versuchte Charlotte diese Namen zu erinnern. Aber vergebens. Sie war verblüfft und wusste nicht was sie sagen sollte. Die Stille wurde zunehmend tiefer. Auch Moritz Schwiegel, und besonders er, schien nicht zu wissen was er sich vorstellen, was er sich denken sollte, schien nicht zu wissen wie er sich äußern sollte, wohl war es deshalb dass auch er schwieg. Charlotte überlegte und gab sich den Rat das Schweigen nicht zu unterbrechen. Schließlich würde es ja auf alle Einberufenen, auf alle Anwesenden lasten, und die Stimme von einem von ihnen würde schließlich die Stille durchbrechen, und sein Begehren möchte dann die Gesprächsrichtung andeuten auf die man einlenken würde. Das Abtakeln der leichten Trennungswände, das Zuströmen der vielen scheinbar auf eigenen Wunsch Beteiligten, das Beschaffen und Anordenen der Sitzmöglichkeiten hatte Zeit genommen, im Rahmen der Eile des Gedankenflusses durch Möchtegerns Gemüt, hatte es so beträchtliche Zeit in Anspruch genommen, dass Möchtergern meinte das Gedankengefüge von dem ihn Armand mit seiner Mitteilung abgelenkt hatte sich wiederholt vorzuführen zu sollen. Und das hatte er getan. Schließlich war es so weit. Die hinzugekommenen Gäste saßen auf ihren herbeigezogenen Stühlen und erwarteten mit Ungeduld die Fortsetzung des Gesprächs in welches sie zur angemessenen Zeit, ihre Gedanken und Gesinnungen einfädeln würden. Inmitten dieser sich so rasch verwandelnden Szene blieb Charlotte sprachlos. Es war ihr unmöglich sich den eilenden und stürzenden Geschehnissen anzupassen. Moritz Möchtegern hingegen war in seinem Element. Er hatte lebenslang die Phantasie gepflegt vielleicht eines Tages die Gelegenheit zu haben seine Gedanken seinen Studenten an einer Universität in Vorlesungen vorzutragen. Niedergeschrieben hatte er sie schon vor einiger Zeit, aber seine Bücher hatten keine Leser gefunden. Jetzt aber war der ersehnte Tag gekommen, zu spät in seinem Leben um den Ruhm zu stiften den er sich auch nebenbei gewünscht hatte, aber zeitgemäß, und dies war das wichtigste, zu praktischer Wirkung. KK Kapitel 12.4 KK In Ordnung >> Das Gespräch des Moritz Möchtegern mit Jeremias Zehplus - 9029 << "Meine Damen und Herren," begann Moritz Möchtegern - es war ein stilistischer Übergang, eine metabasis eis allo genos - und indem die Worte in den eigenen Ohren widerhallten, widerhallte mit ihnen in seinem eigenen Gemüt der Einfall dass die Sprache, wie vor kurzem, an nur einen Einzelnen, im gegebenen Falle, an Charlotte, gerichtet, bündiger und einschlägiger sei als die großen Worte an eine zwar verhältnismäßig beschränkte Hörerschaft, die dennoch in ein denkbares Meer von Hörern, in eine quasi die Welt umspannende Vielzahl mündete. Von diesem Gedanken durfte er sich nicht weiter ablenken lassen, und fand es dennoch nötig sein Denken an einen Anfang zu verankern, und so wiederholte er, "Meine Damen und Herrn," und überließ sich nun seinem Thema um sich von seinen Gedanken forttragen zu lassen. "Erato, neuerdings meine Frau, seit Jahren aber schon meine Geliebte, hat mich beauftragt heute hier zu erscheinen um unsere Vorsitzende Frau Charlotte Graupe-Magus bei den schwierigen Verwaltungsproblemen die sich aus der Zersetzung unserer Regierung ergeben haben zu unterstützen, und sie etwa bei dem Entwurf einer neuen Verfassung zu beraten." Schon hier wurde Moritz Möchtegern unterbrochen, denn aus der vordersten Reihe des Halbmonds den die Versammelten bildeten, ertönte eine Stimme welche Charlotte sofort als die des Programmierers Jeremias Zehplus erkannte. "Und ich behaupte," hörte man Zehplus sagen, "der Entwurf einer neuen Verfassung ist eine rechtswidrige Verschwörung gegen die bestehende Regierung deren Bestimmungen von meinem örtlichen Rechnernetz mit ausnahmslos zuverlässigen und fehlerfreien Verfügungen absolviert werden." Gegen diese Ausführung von Jeremias Zehplus, wendete sich eine zweite Stimme, welche Charlotte als die ihrer Freundin, der Reinemachefrau Mathilde erkannte. Mathilde hatte zu den Zeiten, als es in den Regierungskanzleien noch Schreibtische gab, die Gewohnheit die darunter verstreuten philosophischen Brocken zusammen auf ihr Kehrblech zu fegen, um dieses umgehend in den sich nächst befindenden Mülleimer zu kippen. Das war eine Tätigkeit welche Mathilde in den Augen ihrer Mitarbeiterinnen zu einer Philosophin machte, und ihr die Befugnis verlieh maßgebliche Antworten auf ein breites Spektrum schwieriger Fragen zu erteilen. So antwortete Mathilde auf den Einwand von Jeremias, "Das ist ja Unsinn, was Sie da sagen: Ihre Rechner haben keine Gedanken, ihre Rechner haben keine Gefühle, ihre Rechner haben weder Verantwortung noch Gewissen. Ihre Rechner sind gehirnlose, herzlose Machinen, von bösen Menschen programmiert um den guten Katenus und seine liebevolle Elly zu zerstören." "Das lasse ich mir nicht bieten." Jeremias Zehplus brauste auf, "Das lasse ich mir nicht gefallen. Ich habe nichts getan als meine Pflicht, wie der kategorischen Imperativ sie mir vorschreibt. So darf ich mit Florestan singen, 'Willig duld ich alle Schmerzen, ende schmählich meine Bahn. Süßer Trost in meinem Herzen, meine Pflicht hab ich getan.'" Diese Auseinandersetzung zwischen Mathilde und Jeremias bot Moritz Möchtegern die Gelegenheit sich aufs Neue an dem Gedankenaustausch zu beteiligen, und dies tat er mit bewundernswürdiger Eleganz. "Für ihre Einwände, Herr Zehplus und Frau Mathilde, die mich als außergewöhnlich einschlägig anmuten, erstatte ich ihnen beiden vielen Dank. Ich betrachte was sie beide uns gesagt haben als bedeutend und bedenkenswert, möchte jedoch vorerst darauf hinweisen, dass es sich in beiden Perspektiven um Sprache handelt, und dass ein Verständnis des Sprechens und der Sprache auch jene Probleme welche von ihnen erörtert wurden, in Betracht auf die Sprache wesentlich verwandeln, wenn nicht gar beseitigt würden." Bei diesen Worten wurde Möchtegern sich bewusst, dass Folgerungen aus seinen Worten unmöglich waren, und dass er deshalb Unsinn redete, Zu seiner Entschuldigung sagte er sich, "Für das Ausarbeiten einer vernünftigen Rede hab ich keine Zeit. Ich muss mich beeilen." Das tat er, und fuhr fort: "Die Beziehungen zwischen uns Menschen bestehen, ich will nicht sagen ausschließlich, aber dennoch wesentlich, in der Sprache. Vergessen wir nicht, dass die Sprache dem Gedanken und Gefühlsaustausch von mindestens zwei Menschen und praktisch jedenfalls aus dem Gedanken und Gefühlsaustausch einer großen Zahl von Menschen, eigentlich des gesamten Volkes entspringt. Die Sprache ist Voraussetzung und Stoff des Verstehens. Diese Betrachtung gibt Ausschlag zu der Hypothese, ein Volk sei eine Menschengruppe deren Mitglieder dieselbe Sprache sprechen in dem Sinne, dass nur die Sprache es möglich macht, dass sie einander verstehen. Die Effizienz der neuzeitlichen Mitteilungsmittel, der Druckerei, der Photographie, des Telephons, des Radios, des Fernsehens, und jüngst der Rechner und des Internets, verdecken die Wirksamkeit, ja die Notwendigkeit, die Unentbehrlichkeit des unmittelbaren Austauschs der Sprache. Vor noch wenigen Jahrhunderten hatte jedes Land, fast jede Stadt, wenn nicht gar jedes einzelne Dorf seine eigene Sprache. Im gegenwärtigen Jahrzehnt hingegen ist die Sprache zu Ware geworden, und wird als Propaganda missbraucht. Man wird zu sprachlichem Ausdruck gezwungen weil die Gesellschaft das Denken eines jeden ihrer Mitglieder beherrschen will. Die Ausmaße in dem ein Sprachzwang wirksam ist, und die Ausmaße in welchen der Zwang der Sprache versagt, sind von großer Bedeutung und von hohem Interesse." "Nächstliegend und einschlägig in diesem Zusammenhang ist die rechnerisch organisierte Verfolgung von Maximilian Katenus und seiner Geliebten Elly Solmsen. Wenn ich recht informiert bin ist die Behebung dieser Verfolgung ein wesentlicher Antrieb zur Abänderung der Regierung, dem Zwecke also der uns heute hier zusammengeführt hat. Es liegt auf der Hand, dass die Verfolgung von Maximilian Katenus und Elly Solmsen nein, nicht auf Geschichte, sondern auf Geschichten beruhen, welche Mythen sind, und gestaltet, wie Mythen von Alters her durch die Gesinnungen der Gesellschaft und ihrer einzelnen Mitglieder. Die Bereitwilligkeit des Herrn Jeremias Zehplus die Verfolgungskarteien seiner Rechner zu Herrn Katenusens und Fräulein Solmsens Gunsten abzuändern erkenne ich mit Dankbarkeit an, und ich bin zuversichtlich, dass nicht nur Herr und Frau Katenus, sondern ihre Freunde und Familienmitglieder in der Linnaeusstraße mir beipflichten. Was immer in dieser Hinsicht getan wird, was immer wir in dieser Hinsicht tun, muss reiflich überlegt sein, denn das Gesellschaftsgewebe in das wir greifen ist verwickelt, verschlungen, ausgedehnt, umfangreich und äußerst zäh." "Auch möchte ich Einspruch erheben, betreffs der Annahme, es sei nötig eine neue Regierung von Grund auf zu entwerfen. Mich dünkt die vermutete Abwesenheit von Regierung ist nur Schein, denn Regierung entsteht, entwickelt sich, erwächst von selbst mit der natürlichen Entstehung einer jeden Gesellschaft, und ist so selbstverständlich wie die Gesellschaft selbst. Regierung entsteht und muss entstehen wann immer eine Anzahl von Menschen in Mitteilungsverbindung mit einander wirken. Wie die Gänse einem Instikt gemäß in V-Formation fliegen, so folgen die Menschen ihren Führern, sogar wenn diese sie ins Verderben leiten, und vielleicht besonders dann. Demgemäß schlage ich vor dass wir nicht eine Regierung sozusagen von Vorne, von Anfang an, de novo zu entwerfen versuchen, als hätten wir vor uns eine Tabula Rasa die wir mit der bröckligen Kreide unserer Vorhaben bekritzeln sollten. Vielleicht wäre es besser zu versuchen die einschlägigen Probleme eins nach dem andern zu identifizieren und dann in Reihenfolge wie es erscheint ein jedes Problem zu beseitigen versuchen, und dass wir mit dem Beheben der schändlichen Verfolgung von Maximilian Katenus und seiner Elly den Anfang machen." So hatte Möchtegern gesprochen. Jetzt machte er eine Pause. Er war jedenfalls vorläufig zuende. Da erhob Mengs seine Stimme. "Ihre Ausführungen über die Hinfälligkeit der Sprache," begann er, "haben mich stark beeindruckt und scheinen mir überaus einschlägig. Hinzusetzen möchte ich, dass uns die Sprache, ungeachtet ihrer Hinfälligkeit unentbehrlich ist. Wir sollten, wir müssen lernen, uns der Sprache perspektivisch zu bedienen." "Wie meinst du das?" fragte Joachim. "Ich meine," erwiderte Jonathan, "dass wir lernen sollten an der Sprache mehr als eine einzige Richtung zu erkennen und uns mehr als einer einzigen Dimension der Spache zu bedienen. Wir sollten es den Physikern nachmachen, die haben den drei klassischen Dimensionen des Raumes eine vierte, nämlich die der Zeit hinzugefügt. Schließlich haben die Mathematiker die Dimensionen ihrer Banach und Hilbert Räume bis ins Unzählbare vervielfältigt. Aber mein Vergleich hinkt, denn die Raumdimensionen der Mathematiker sind errechnet, sind weder angeschaut noch erlebt. Anders hingegen die vielfache Dimensionalität der Sprache, denn diese entspringt aus ihrer und unserer Natur als Erinnerung, als Poesie, als Erzählung, als Geschichte, als Chronik, als Beschreibung, als Gebet und als manches andere sonst. Bezeichnend ist dass gleich wie der Zoologe um es zu begreifen, indem er es seziert, das Tier tötet, so töten - oder sollte ich sagen - so entseelen, mit ihren vergeblichen Versuchen sie zu ordnen und zu beherrschen, die Grammatiker und Logiker die Sprachen. Darum sage ich euch: Es lebe die Polysemie, es lebe die mannigfaltige Geltung, es lebe die Unbestimmtheit des Wortes." So etwa deklamierte, wie vom Katheder, Jonathan Mengs. KK Kapitel 12.5 KK >> Karl Folterer kommt zur Sache - 9221 << In Ordnung "Erlauben Sie mir bitte," ertönte jetzt eine andere Stimme, ich heiße Karl Folterer und bin Regierungssachverständiger." "Was ein schrecklicher Name, besonders für einen der sich mit Regierung beschäftigt. Woher haben sie diesen Namen? Haben sie ihn sich selbst ausgesucht? Und wenn nicht, warum haben sie ihren Namen nicht abgeändert?" Wer von den vielen Anwesenden diesen Einwand erhob, ist nicht bestimmbar. "Ich habe meinen Namen ererbt," sagte Folterer, "wie alles andere das im Blute liegt. Man hat mir verschiedentlich geraten ihn abzuändern?" "Und scheinbar haben sie es nicht getan. Sind sie stolz auf ihren Namen? Wollen sie sich mit ihm zieren?" "Ich schäme mich nicht nur meines Namens. Ich schäme mich dessen der ich bin, ich schäme mich, dass ich überhaupt bin." "Da erlauben sie mir bitte sie mit dem Namen eines guten Psychiaters zu versehen." "Ich bedarf keines Psychiaters. Ich habe meinen Namen. Den bewahre ich mir um mich zu erinnern dass auch ich ein solcher hätte sein können. Ich benötige meinen Namen um mich zu erinnern wer ich bin. Nun eine Bemerkung zu dem eigentlichen Thema das uns beschäftigt, nämlich die Verfolgung von Maximilian Katenus und seiner Elly, denn das ist die Strapaze welche wir zu unterbinden suchen. Ich möchte mich der erwähnten verschiedendsten Perspektiven bedienen um darauf hinzuweisen, dass es keine Gesellschaft gibt die ein Paradies der Gleichmütigkeit wäre. Keine Gesellschaft ist ihrer Natur gemäß ein harmonisches Aggregat von Menschen die unbedingt einander wohlgesinnt, sich gegenseitig lieben, obgleich die Liebe hin und wieder unerwartet, fast überraschend, aus dem Maelstrom gegen einander strebender Menschen auftaucht. Das christliche Gebot der Nächstenliebe wurde in der Vergangenheit niemals verwirklicht, ist in der Gegenwart niemals verwirklicht, und wird in der Zukunft niemals verwirklicht werden. Es ist unser Schicksal dass wir Menschen von einander abhängig sind, daher zuweilen die Liebe zwischen einigen Einzelnen unter uns erblüht. Zugleich aber ist es unser Schicksal dass wir mit einander konkurriern, dass wir einander widerstreben, und zuweilen miteinander kämpfen." "Das bekanntlich, tun alle Tiere," warf Joachim ein. "Gewiss", bestätigte Karl Folterer, "auch Tieren stellt ihr Herdendasein einen Komplex von Widersprüchen, eine Dialektik dar, wenn es erlaubt ist so zu sprechen auch wo Tiere keine uns verständliche Sprache haben. Möglicherweise ist's weil in unserer Sprache so vieles klar und eindeutig zum Ausdruck gebracht wird, dass wir der Widersprüche die uns verstricken, so dringend bewusst sind. Die Gesellschaft zwingt uns zur Gleichförmigkeit. Dabei will ein jeder von uns einzigartig und ein Einzelner sein. Die Verfolgung ist Ausdruck und Ergebnis dieses Widerspruchs." KK Kapitel 12.6 KK >> Verfolgung und Religion - 9258 << In Ordnung Die Versammelten waren in nachdenkliches Schweigen verfallen. Schließlich sagte Hans, der Klempnertheologe: "Wir haben, vielleicht zufällig und unbeabsichtigt, ein großes Thema angeschnitten. Das Opfern und die Verfolgung haben in der menschlichen Gesellschaft eine übermäßige Bedeutung, auch in der Religion, und besonders hier. Mir fällt auf, dass bei aller Betonung der gebotenen Liebe des Nächsten, die Verfolgung des anders Denkenden, des anders Glaubenden der unmittelbarste Ausdruck allenfalls gesellschaftlichen religiösen Erlebens zu sein scheint. Ich erinnere den Heiligen Augustinus von Hippo der sich als junger Mensch zu den Manichäern zählte, und später, als er von dieser Geistesrichtung abfiel, seine Brüder welche noch vor kurzem ihm Glaubensgenossen gewesen waren, verfolgte. Ich betrachte Verfolgung als eine unveränderliche Gegebenheit, eine Eigenschaft des menschlichen gesellschaftlichen Geistes, deren uns zu entledigen unmöglich ist. Ich postuliere einen Vergleich des Verfolgers mit dem Reichen und Starken, einen Vergleich des Verfolgten hingegen mit dem Armen und Schwachen. In der Situation in welcher wir uns befinden, müssen wir entscheiden ob wir es zufrieden sind, Katenus und Elly vor der Verfolgung zu schützen und wenn nötig von der Haft zu befreien, oder ob wir versuchen sollen mehr weitreichende Verwandlungen, ins besondere in Hinsicht auf die Einrichtung einer weniger verderblichen Verfolgungspraxis in einer besseren Gesellschaft die wir uns wünschen, zu bewirken. Vielleicht," fuhr Hans der Klempnertheologe fort, "ist es verfrüht und überflüssig uns schon jetzt wegen des Ausmaßes der Verbesserungen unseres Staates die wir beabsichtigen festzulegen. In jedem Falle ist die Aufgabe die wir uns gestellt haben, verwickelt in einem Maß, dass wir die Problematik die uns bevorsteht nicht voraussehen können, und dass uns deshalb nichts übrig bleibt als bei jedem stolperndem Fortschritt hinzu zu lernen, unser Ziel klar vor Augen behaltend, unser Verstehen im Verlauf unserer Arbeit auszubilden und unsere Strategie und Taktik sich im Verlauf unseres Vorgehens entwickeln zu lassen." "Und was hat das mit Religion zu tun?" fragte eine Stimme aus der Menge. "Ach, das hat alles mit Religion zu tun," antwortete Hans der Klempner-Theologe, "denn der Herrgott ist der unbedingt Oberste von allen. Selbstverständlich, wenn einer verfolgt wird, ist es sein Gott der ihn verfolgt; und dieser Gott wäre überall und jederzeit in der Lage die Verfolgung zu unterbinden, wenn Er nur wollte. Das ergibt sich sehr eindrucksvoll in der jüdisch-christlichen Religion, wie ich sie pflege. Eine tief-greifende Wurzel entdeckte ich im 53. Kapitel des Propheten Jesaja. Daraus erlese ich einen früheren Versuch die Menschheit von den Verderbnissen des Opferns und des Verfolgens zu befreien." KK Kapitel 12.7 KK In Ordnung >> Über das Opfern und das Geopferte - 9317 << Hans der Klempner-Theologe fuhr fort. "Meine Damen und Herren, Ich bin ihnen eine Erklärung, vielleicht sogar eine Rechtfertigung schuldig. Von Beruf bin ich ein Klempner. In meiner Jugend aber habe ich Philosophie und Theologie studiert. Ich hoffte Universitätsprofessor zu werden, aber meine philosophischen Kollegen wollten nichts von mir wissen; sie ärgerten sich über ein Denken das mit dem Versuch durchtränkt ist zu verstehen was die Menschen meinen wenn sie von dem reden was sie als göttlich bezeichnen. Meine theologischen Kollegen wollten nichts von mir wissen; sie ärgerten sich über ein Denken das mit dem Versuch durchtränkt ist zu verstehen was die Menschen meinen wenn sie von dem reden was sie als Philosophie bezeichnen. So musste ich, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen, ein Klempner werden. Anfangs empfand ich mich gedemütigt und enttäuscht, denn meine Kunden wollten Waschbecken, Duschen und Klosettschüsseln eingebaut, ausgebaut oder repariert haben. Von dem geistigen Inhalt meines Lebens wollten sie nichts wissen. Ich habe es sagen hören, dass wir überleben, indem wir uns an die Welt die uns umgibt assimilieren. So ist es auch mir geschehen, und im Verlauf der Jahre hat sich in meinem Gemüt die Vorstellung eingenistet, dass die Klempnerei die wahre Philosophie ist, und der Klempner, der eigentliche Philosoph. Ich spüre euere Entrüstung, aber eh ihr 112 wählt um mich vom Rettungsdienst nach Königslutter überführen zu lassen, macht Euch die Mühe meine Erklärung anzuhören und zu erwägen. Als Klempner versorge ich meine Mitmenschen mit dem zum Leben unentbehrlichen frischen Wasser, und dem Armen und den Geizigen die nicht Zahlen können oder wollen, denen zitiere und erfülle ich die Worte meines Namensbruders Johannes “ὁ διψῶν ἐρχέσθω, ὁ θέλων λαβέτω ὕδωρ ζωῆς δωρεάν.” das heißt verdeutscht, "Und wen dürstet, der komme; wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst. (Offenbarung 22:17.) Das ist's was Hölderlin im Sinne hatte als er schrieb:' Drum, da gehäuft sind rings/ Die Gipfel der Zeit, und die Liebsten/ Nah wohnen, ermattend auf/ Getrenntesten Bergen,/ So gib unschuldig Wasser,/ O Fittige gib uns, treuesten Sinns/ Hinüberzugehn und wiederzukehren./(Patmos)' "Nicht weniger unentbehrlich und labend als die Versorgung mit frischem Wasser, ist die Entsorgung von Abbauerzeugnissen. Von den Abbauerzeugnissen des Körpers habt ihr eigens überreichliche Erfahrung. Davon, dass es aber auch entsprechende Abbauerzeugnisse von Geist und Seele geben möchte wurde ich in der Ausübung meines Klempnerberufes zunehmend beeindruckt. Und indem ich dies schreibe empfehle ich dieses Bekenntnis, um seine Arbeit zu erleichtern, jedem künftigen Rezensenten dieses Buches. Die Entsorgung der Abbauerzeugnisse von Geist und Seele hat Maximilian Katenus als Entidealisierung bezeichnet, und da er anwesend ist wäre der Anspruch meinerseits die Entidealisierung Euch zu erklären ungebührend." "Hingegen nehme ich diese Gelegenheit euch mein Bibelverständnis zu erläutern. Vor Jahren hab ich ein unbedeutendes Buch gelesen in dessen ersten Kapitel ein Doktorand über die Heiligkeit der Schrift berichtet: "Ich bin, wissen sie, in einem protestantischen Glaubensbekenntnis auferzogen worden. Man hat mich überzeugt, dass die Bibel das Wort Gottes sei, und dass des Menschen Beziehung zu Gott darauf beruhe, dass ihm die Möglichkeit gegeben ist, dieses Wort Gottes für sich selbst, auf eigene Weise zu deuten. Sehen sie, es ist doch genau dies was wir in unserem Berufe zu leisten beanspruchen. Hat nicht die Reformation das Literaturverständnis zur Religion erhoben, und die Religion als Literaturverständnis gedeutet?" Hans schwieg. Er wartete auf Charlottes Urteil. Diese aber blickte auf einen Kugelschreiber, den sie wie einen Zauberstab zwischen ihren Fingern drehte, und ließ auf ihre Antwort warten. Dann erklärte sie, "Da haben sie etwas sehr originelles und sinnvolles gesagt, Herr Klempner." Durch Charlottes Zusprache ermutigt, fuhr Hans fort, "Das Flattern vom einem Buche zum nächsten, wie es in unserem Beruf die Gepflogenheit ist, wird nie ein Ende haben und wird nie zu einem Beschlusse führen." Er wartete auf Charlottes Antwort. Diese aber blickte ihn mit richterlicher Miene an, und befahl in strengem Ton, "Fahren sie fort, Herr Klempner." "Die Vielzahl der verhandenen Bücher, ließe sich, wenn überhaupt, nur in einem einzigen Erlebnis, nämlich in dem Erlebnis des Lesens selbst, einbegreifen. Im Grunde lassen sich die vielen Bücher nur im Glanze des Lesens einer einzigen Schrift deuten. Dementsprechend zieht sich der Blick des Geistes von der Unzahl der Bücher die ihn umgeben auf ein einziges Buch zurück. Der begriffliche Rahmen für diese Entdeckung ist auch geschichtlich vorbereitet, denn es gibt ja eine Schrift welche in der Ursprache eine Bezeichnung trägt die darauf hindeutet, dass alle Bücher im Grunde ein und dieselbe Eigenschaft besitzen, welche in der Bibel ihren deutlichsten Ausdruck findet." Hans schwieg. Er fürchtete Charlotte mit seinen absonderlichen Einfällen zu belästigen. Diese aber fand sich von Hansens Ausführungen gereizt. Sie waren sinnvoll. "Ich habe den Eindruck," sagte sie, "Sie sind noch nicht zu Ende. Unterbrechen Sie sich nicht. Fahren Sie fort." "Begrifflich formell," fing Hans wieder an, "findet diese Umkehr von den vielen Büchern zu dem einen Buch ihren Ausdruck in der These, dass die Bibel nicht nur in theologischem sondern auch in hermeneutischem Sinne als das Urbuch, als das Buch aller Bücher, gedeutet werden müsse. Das Buch also in dem ungezählte Menschengeschlechter die Weisung Gottes zur Seligkeit erkannt haben, wird jetzt für uns ausgerechnet das Buch an welchem vornehmlich die Kunst des Lesens, des Verstehens und des Deutens klar gelegt werden kann." "In theologischer Hinsicht hat die Bibel ja schon immer als ein Buch ohne seinesgleichen gegolten, als die Schrift Gottes, getrennt von den Schriften der Menschen durch einen qualitativen absoluten Unterschied. Nun scheint es mir," fuhr Hans fort, "dass die Bibel in hermeneutischem Sinne einen vergleichbaren Vorang als das Muster aller Bücher hat. Die Bibel ist das Buch vor allen anderen, welches durch den Glauben, und nur durch den Glauben, verständlich wird. Schaltete man beim Lesen der Bibel den Glauben vorsätzlich aus, so bliebe nichts als ein literarisch recht armseliges Gefüge von kaum glaubwürdigen Geschichten und Märchen, dem Verstande ein Ärgernis, geschweige denn, dass es dem Geiste den Leitfaden zur Erlösung bieten könnte." "Die unüberlegte Meinung würde es wahr haben, dass auch in diesem hermeneutischen Sinne, zwischen der Heiligen Schrift und anderen Schriften ein qualitativ absoluter Unterschied besteht, dass die Bibel zwar gläubig gelesen werden muss, andere Bücher jedoch ungläubig gelesen werden können. Wenn wir aber die Glaubensgebundenheit des Bibelverständnisses näher und tiefer bedenken, und diese mit dem vermeintlich glaubensfreien Verständnis weltlichen Schrifttums vergleichen, so fällt uns auf, dass unser Begreifen von weltlichen Büchern, alle Voreingenommenheiten ungeachtet, durchaus nicht im Raum des Unglaubens stattfindet." "Vorerst entdecken wir bei uns, wann immer wir lesen, den Glauben, dass das Geschriebene Sinn hat. Das Geschriebene, so glauben wir, bedeutet etwas außer ihm. Es war des Schriftstellers Pflicht, dieser Bedeutung Ausdruck zu geben. Es wird des Lesers Pflicht sie aufzufinden. Der Glaube an eine gemeinsame, den Schreibenden mit dem Lesenden verbindende Bedeutung ist zugleich ein Glaube an eine Wirklichkeit welche sie beide umfasst. Nun ist es aber offensichtlich, dass der Schriftsteller sich des Sinnes seiner Schrift durchaus nicht im Voraus im Klaren ist. Denn seine Schrift wie seine Sprache entfließen einem Unterbewusstsein, das erst im Augenblick des Ausdrucks offenbar zu werden beginnt. Der Sinn des Gesprochenen, das weiß jeder aus eigener Erfahrung, wird erst erkennbar, indem es gesprochen ist. Der Sinn des Geschriebenen wird gleichfalls erst erkennbar, wenn es geschrieben ist. Dass Sinn erkennbar wird, heißt jedoch noch nicht, dass Sinn erkannt wird. Den Sinn begreifen der Hörer und der Leser jeweils nur zum Teil. Aber auch der welcher spricht und der welcher schreibt, der Sprecher also und der Schreiber, begreifen den Sinn dessen was sie gesprochen oder geschrieben haben immer teilweise. Insofern aber als das Wort über sich selbst hinausdeutet, nicht nur über das Verstehen des Empfängers, sondern auch über das Verstehen des Wortgebenden, deutet das Wort auf eine sonst unerreichbare Wirklichkeit die beide umschließt; und in diesem Sinne, ist das Wort, ist jedes Wort, heilig. Es mag sein, dass der Evangelist auf diese Wirklichkeit, jenseits und letzthin unerreichbar von allen sprechenden und hörenden, schreibenden und lesenden Menschen, aufmerksam machen wollte, als er schrieb: 'das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.'" "Aus diesen Erwägungen, geht hervor dass alles Geschriebene etwas Biblisches an sich hat, insofern es auf Wahrheit und Wirklichkeit hinausdeutet die nicht nur jenseits des Wortes selbst, sondern auch jenseits des Wortgebenden und Wortnehmenden sind. Diese Einsicht würde an der Art des Schreibens weniger ändern, als an der Art des Lesens, denn paradoxerweise ist der Schreibende, ungeachtet all seiner Geschäftigkeit, der passive Vermittler eines Wirklichen in dessen Dienst er schreibt, während der Lesende, ungeachtet seiner scheinbaren Passivität, die Aufgabe hat, mittels der ihm gebotenen Schrift, einen Teil jenes Wirklichen zu begreifen, worauf sie deutet. So finde ich, dass alles ernste Schreiben ein Dienst am Heiligtum ist, und alles ernste Lesen dessen Offenbarung." "Indem ich mich diesen Gedanken hingab, fiel es mir auf, wiederum paradoxerweise, dass der Begriff des Glaubens dessen wir uns bedienen, mit dem der Skepsis durchaus übereinstimmt. Denn der Glaube um den es sich handelt ist Glaube nicht an Worte oder Begriffe oder an andere sichtbare oder unsichtbare Dinge. Der Glaube ist ein Suchen nach Wirklichkeit jenseits der sich uns aufdrängenden Welt, und somit ist der Glaube an erster Stelle Skepsis und Zweifel am gegebenen Wort. Es handelt sich nicht um einen mystischen Glauben der die Augen schließt und die Welt nur im Inneren erkennt. Im Gegenteil, der Glaube ist blickend, suchend, und sperrt im Suchen die Augen auf. Es ist ein skeptischer Glaube, und für ihn sind alle Bücher nur ein Buch, das Buch, der Weiser zum Wirklichen. So bin ich zu dem Beschluss gekommen, dass das Lesen und das Verständnis aller Bücher schließlich als Abwandlung des Bibellesens erklärt werden kann, vielleicht sogar erklärt werden muss. Welches das Buch das gelesen wird auch immer sei, insofern das Lesen mehr als ein nichtssagendes Wiederholen des schon Bekannten wäre, muss es ein geistig-seelischer Vorgang sein, vergleichbar mit dem Lesen der Bibel." "Menschlich im eigentlichen Sinne ist nur das gesprochene Wort. Lesen ist also das Vernehmen des übermenschlichen Wortes. Es gibt eine selbstverständliche, vernunftgemäße Erklärung wie Geschriebenes zustande kommt. Wir stellen uns vor, dass irgendwo jemand saß und schrieb, und wir gedenken seine Mitteilung nicht anders als sein gesprochenes Wort aufzufassen. Das gesprochene Wort, jedoch, ist unmittelbar; es wird von den Gesten, vom Tonfall, vom Gesichtsausdruck des Sprechenden begleitet und erläutert. Bleibt die erwartete Reaktion des Hörenden aus, so wird das Gesprochene wiederholt, eventuell in veränderter Weise. Allenfalls geht der Sinn des gesprochenen Wortes im Zusammensein des Sprechers und des Hörers auf. Das gesprochene Wort ist ein Band zwischen dem Aussprechenden und dem Angesprochenen, ein Band das in dem Einverständnis der beiden aufgeht und erlischt. Das geschriebene Wort hingegen, mag es auch seinen Ursprung im möglichen Ansprechen eines Hörenden haben, wird durch die Dauerhaftigkeit der Schrift ein grundsätzlich anderes. Es ist unvermeidlich, dass im Laufe der Zeit dem Geschriebenen eine vom Autor unabhängige Existenz zukommt, so dass es dem der es schrieb, fremd und abgetrennt gegenüber steht, in einer Weise, wie das gesprochene Wort sich vom Sprechenden nie entfernen könnte. Das geschriebene Wort präsentiert sich dem Leser als unabhängig bestehende, unvergängliche geistige Substanz. Als solche vermag das Wort ihm als göttlich zu erscheinen. Wenngleich es überschwänglich wäre zu behaupten, dass alles Geschriebene den Schimmer des Göttlichen trägt, so ist es nicht zu leugnen, dass allem Geschriebenen ein Schatten des Dämonischen anhaftet. Aber so sehr sind wir ans Schrifttum gewöhnt, dass wir das Magische, das Unheimliche, das allem Geschriebenen anhängt, nur noch mit Mühe erkennen." "Weil das Unheimliche das an allem Geschriebenen haftet uns entgeht, stehen wir dem Geschriebenen, welches uns unverstanden bleibt, ratlos gegenüber. Es gibt eine Perspektive aus welcher alles Geschriebene unverstanden bleibt. Aus dieser Sicht bedeutet unsere Behauptung eine Schrift 'verstanden' zu haben, unser Unverständnis und unseren Unverstand. Es gibt nämlich einen Sinn in dem ein Geschriebenes nie ausführlich und erschöpfend verstanden wird. Dass dies der Fall ist, geht daraus hervor, dass es für einen zweiten und dritten Leser jeweils eine zweite oder dritte Bedeutung haben muss, lediglich weil drei Leser drei verschiedene Menschen sind, und weil die Bedeutung welche das Geschriebene für jeden Einzelnen hat, schließlich doch nicht von seinem individuellen Erleben getrennt werden kann. Von mir als Einzelnem bleibt dies Geschriebene heute unverstanden nicht weil es mir heute sinnlos erscheint, sondern weil es mir morgen oder übermorgen einen anderen Sinn darbieten wird. Auch bleibt das Geschriebene dem Einzelnen im Rahmen der Gesellschaft unverstanden, insofern es für jeden anderen Menschen eine etwas unterschiedliche Bedeutung hat. Der Sinn des Gelesenen kann weder bei einem einzigen Durchlesen noch bei vielmaligem Durchlesen erschöpft werden. Durch diese seine Unerschöpfbarkeit gewinnt das Geschriebene eine Bedeutung und eine Macht welche weit über das Vermögen des Schreibenden hinaus gehen. Das Geschriebene bedeutet stets weit mehr als der Schreibende vermochte, und darum betrachten wir es als unheimlich oder als heilig." "Wenn wir das Lesen in der Bibel nun als Urtyp alles Lesens bezeichnen, so hat dies Sinn, weil wir von vorn herein die Unverständlichkeit der Bibel als Wort Gottes eingestehen. Genaugenommen wäre es nichts weniger als Gotteslästerung zu behaupten, dass wir die Bibel verstünden, denn die Bibel zu verstehen, die Bibel zu begreifen, hieße Gott zu begreifen, dessen Wesen doch gerade darin besteht, dass er unbegreiflich ist. Wir lesen also die Bibel in Angesicht unser zugegebenen Machtlosigkeit, das Wort das sie verkündet, erschöpfend zu begreifen. Tatsächlich aber sind andere Bücher welche wir lesen, uns unverständlich in ähnlicher Weise wie die Bibel." "Verständnis ist jeweils immer nur relativ, verhältnismäßig. Absolutes, unbedingtes Verständnis entgeht uns. Das Lesen, sei es nun der Bibel oder irgend eines anderen Textes, erfordert, dass wir dem Unverstandenen tapfer und zuversichtlich begegnen. Im Falle der Bibel, so leiden wir, dass das Unverstandene über uns siegt. Im Falle weltlicher Bücher, bewirkt diese Begegnung dass der Einzelne über das Unverstandene siegt. Besser gesagt, insofern das Unverstandene über uns siegt, lesen wir Bibel; insofern wir aber wähnen über das Unverstandene gesiegt zu haben, ist das Buch in dem wir lesen ein weltliches." "Die Heiligkeit der Schrift ist ein Spiegelbild der Frömmigkeit des Lesers. Glaubenslos gelesen ist die Bibel ein lächerliches Buch. Erst der Glaube des Lesers verwandelt sie in ein sinnvolles, in ein heiliges. Ebenso ist es der Glaube der anderen Schriften Bedeutung und Sinn gibt. Man bedenke mit wieviel Hingabe und Pietät wir zum Beispiel die Schriften der Vorsokratiker studieren, obgleich ihr Sinn, bei der Zerstückelung des Textes so dunkel ist, dass wir ihn kaum mehr als raten können. Und wie zahlreich sind nicht die Gedichte deren Sinn so undeutlich ist, dass wir ihn kaum zu begreifen vermögen. Und gerade dafür, dass wir sie kaum verstehen, für ihre Undeutlichkeit, werten wir sie. Wäre ihre Bedeutung jenseits allen Zweifels, hätten sie keinen dichterischen Wert und wären nichts als Mathematik." "Ja," sagte Charlotte, und sie meinte Hans Klempner schließlich doch unterbrechen zu sollen. Bisher hatte sie es unterlassen, teils aus Höflichkeit, denn jener gab einen Vortrag auf welchen er sich offensichtlich tage-, wenn nicht gar wochenlang, vorbereitet hatte, teils aber auch aus dem Bewusstsein, dass Hans Klempner eine neue und vielleicht sehr wertvolle Betrachtungsweise ausführte. "Da haben Sie ein großes Thema angeschnitten." Aber Hans der Klempner-Theologe war noch nicht fertig. "Diese ausführliche Erklärung, deretwegen ich um Entschuldigung bitte möchte als Einleitung zum Verständnis der Verfolgung dienen wie sie in der Bibel dargestellt wird. Ich zitiere die Septuaginta als einen ursprünglichen Text, und dazu verschiedene Übersetzungen, deren jede unvermeidlich vom Verständnis des Übersetzers beschränkt ist: In LXX Exodus 12 steht: 12 καὶ διελεύσομαι ἐν γῇ Αἰγύπτῳ ἐν τῇ νυκτὶ ταύτῃ καὶ πατάξω πᾶν πρωτότοκον ἐν γῇ Αἰγύπτῳ ἀπὸ ἀνθρώπου ἕως κτήνους καὶ ἐν πᾶσι τοῖς θεοῖς τῶν Αἰγυπτίων ποιήσω τὴν ἐκδίκησιν ἐγὼ κύριος 13 καὶ ἔσται τὸ αἷμα ὑμῖν ἐν σημείῳ ἐπὶ τῶν οἰκιῶν ἐν αἷς ὑμεῖς ἐστε ἐκεῖ καὶ ὄψομαι τὸ αἷμα καὶ σκεπάσω ὑμᾶς καὶ οὐκ ἔσται ἐν ὑμῖν πληγὴ τοῦ ἐκτριβῆναι ὅταν παίω ἐν γῇ Αἰγύπτῳ 12 Denn ich wil in der selbigen Nacht durch Egyptenland gehen / vnd alle Erstegeburt schlahen in Egyptenland / beide vnter Menschen vnd Vieh / Vnd wil meine straffe beweisen an allen Göttern der Egypter / Jch der HERR. 13 Vnd das Blut sol ewr Zeichen sein / an den Heusern darin jr seid / das / wenn ich das Blut sehe / fur euch vbergehe / vnd euch nicht die Plage widerfare die euch verderbe / wenn ich Egyptenland schlahe. 12 For I will pass through the land of Egypt this night, and will smite all the firstborn in the land of Egypt, both man and beast; and against all the gods of Egypt I will execute judgment: I am the LORD. 13 And the blood shall be to you for a token upon the houses where ye are: and when I see the blood, I will pass over you, and the plague shall not be upon you to destroy you, when I smite the land of Egypt. Man bemerke dass der ursprüngliche Verfolger nicht sein Engel, sondern der Herrgott selbst war, und diesmal nicht wie auf dem Moriahberge, sich als sein Opfer einen Erstgeborenen des eigenen auserwählten Volkes bestimmte, sondern sämtliche Erstgeborenen der Ägypter, die das auserwählte Volk unterdrückten. Der Begriff und somit das Erleben des Opfernden und des Opfers möchten sich im Verlauf der Jahrhunderte und Jahrtausende verwandelt haben. Der Anspruch diese Entwicklung jetzt nachzuziehen scheint zugleich überflüssig, leichtfertig und unmöglich. Nur so viel: Anfangs, und wer möchte vom wann und wo des Anfangs zu wissen behaupten - , war wohl das getötete Tier ein Beitrag zur Nahrung des Gottes. Später wurde das Töten zum Merkmal der Macht der Opfernden über das Leben. Und heute, oder allenfalls seit den Tagen des Jesaja, erscheint die Verfolgung als die Auswahl eines besonderen Menschen der zum Wohl der Gesellschaft bestraft werden soll, ins besondere um bestimmte Vorsätze, Regeln und Richtwerte der Gesellschaft zu stützen, und somit diese zu erhalten, wenn nicht gar sie überhaupt zu ermöglichen." "Wichtig ist im Auge und im Gemüt zu behalten, dass Verfolgung das Ausschließen derjenigen Mitglieder beabsichtigt von denen man urteilt, dass sie die Gesellschaft bedrohen, dass aber dies Urteil nicht nur von gegebener Handlung abhängt, sondern auch von den Umständen unter welchen sie geschieht. So betrachtet unsere Gesellschaft zum Beispiel das Töten der eigenen Familienmitglieder als schwerstes Verbrechen, indessen das Töten von tausenden von Fremden im Krieg, wie zum Beispiel in den Bombenangriffen auf Coventry, Lübeck, Braunschweig, Hamburg, Dresden, Hiroshima und Nagasaki den Verantworlichen als Heldentaten angerechnet werden. Mir scheint," so schloss Hans, der Klempner-Theologe, "die Verfolgugen der Menschen von einander sind göttlich eingesetzte Verfahren. Ich weiß nicht ob es uns gelingen wird sie zu unterbinden." KK Kapitel 12.8 KK >> Richter Adams spricht - 9443 << In Ordnung Jetzt sagte Richter Adams mit einiger Erregung, "Ihre Betrachtungen in Ehren, Herr Hans Klempner, die zeugen von einer gewissen politischen, vielleicht auch ethischen oder gar philosophischen Befangenheit, und als Instrumente die Verfolgung von Maximilian Katenus und Elly Solmsen zu unterbinden, sind sie untauglich und belanglos." So lautete das Urteil des Richters Lemuel Adams, etwa zum Erstaunen von Charlotte Graupe, die ehr gemeint hätte, Adams sei gegenüber den Vorgängen im Döhringhaus feindselig gestimmt. Von den sentenziösen Ausführungen des Klempner-Theologen war Charlotte keineswegs begeistert oder auch nur beeindruckt; und so hieß sie den Beitrag des in praktischen Angelegenheiten so erfahrenen Richters willkommen. "Welch einen modus operandi würden denn Sie uns vorschlagen, Herr Richter?" fragte Charlotte, und tat dies in einem Ton so anerkennend und fast liebevoll, dass des Richters Herz vor gedämpfter Glückseligkeit ein Paar Takte überschlug eh er antwortete. "Der Brennpunkt unserer Untersuchung hat sich wie mir scheint von selbst ergeben. Wir müssen uns mit den zugegeben belanglosen, wenn nicht gar gefälschten Tatsachen in der von Herrn Zehplus geführten Rechnerkartei befassen, welche als zukünftigen Vorwand dienen möchte Herrn Katenus zu verklagen, zu verurteilen, zu bestrafen und denkbarer Weise sogar hinzurichten." "Das geht zu weit, Herr Richter, das kann ich mir nicht vorstellen, das finde ich, nein, nicht nur unglaublich, ich finde es jenseits aller Vernunft. Auch nur die Erwähnung dient das Undenkbare anzustiften." So lauteten die empörten Worte von Jonathan Mengs. "Ich stand unter dem Eindruck," erwiderte der Richter Adams, "sie wären ein Gelehrter, sogar Professor an unserer berühmten Veritas Universität. Unter diesen Umständen meinte ich, Sie wären mit den Legenden über Sokrates und über Jesus von Nazareth vertraut. Zuweilen werden unsere Gesellschaften sehr empfindlich und reizbar. Dann stoßen sie von sich den der nicht fähig oder willens ist sich ihnen zu fügen, reichen ihm den Schierlingsbecher oder lassen ihn kreuzigen." "Leider, Herr Mengs," sagte jetzt der ehrliche Anwalt Moritz Schwiegel, und er scheute sich, als stünden sie vor Gericht, den Freund mit Vornamen zu nennen, "leider muss ich aus vielen wiederholten Erfahrungen, die sich weit in die Vergangenheit erstrecken, bestätigen, dass ich in den Urteilen der Gerichte, die Unterschiede zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, nur selten zu bestimmen vermag." "Herr Schwiegel," entgegnete Adams mit unterschwellig verärgerter Stimme, "Hier muss ich mir ihre Unverschämtheiten gefallen lassen. Hörte ich auf dem Richtstuhl so etwas von ihnen, würde ich Sie wegen Missachtung des Gerichts mit einer Beugungsstrafe von mindestens fünfzehn Tagen im Gefängnis verurteilen." "Das verstehe ich sehr wohl, Herr Richter," entgegnete Schwiegel, "bin aber als erfahrener Anwalt von unerschütterlicher Zuversicht, dass ich hier nicht vor Gericht stehe." Inzwischen hatte Adams sich beruhigt und machte den Versuch an den gerissenen Gedankenfaden aufs Neue anzuknüpfen. "Wir müssen die Quellen bloßlegen aus denen die Verleumdungen in den Verfolgungskarteien des Herrn Zehplus zusammenfließen. Dann müssen wir feststellen zu welchen vorstellbar strafbaren Taten die mutmaßlichen Vergehen der bezichtigten Verfolgungsopfer zusammenschmelzen oder sich zusammenschmelzen lassen. Ja, und zuletzt kommt es auf die Art und auf das Ausmaß der Verbreitung des angeblich belastenden, verfänglichen Stoffes an." "In Bezug auf die Verbreitung der Staatsfeindkarteien," unterbrach Jeremias Zehplus, "kann ich ihnen vielleicht dienliche Mitteilungen machen. Die Staatsfeindkarteien sind grundsätzlich allen Benutzern des Internet verfügbar. Die Datenkartei von dem die Verleumdungen abgerufen werden können ist zwar allgemein zugänglich, ist aber programmiert so dass über alle Zugriffe akribisch Protokoll geführt wird, und es genau feststellbar ist, an welchen Daten und an welche Internetadresse, gegebene Informationen, Mitteilungen, Auskünfte abgesandt worden sind. Da gibt es scheinbar Gezeiten vergleichbar mit den von Mond und Sonnenstellung ausgelösten Fluten und Ebben des Meeres. An manchen Tagen an denen die Verleumdungen von hohem Interesse scheinen gibt es viele Nachfragen; an anderen Tagen ist die Zahl der Anfragen so gering, dass man sich fragen muss, ob es nicht vielleicht ein technisches Versagen ist, das den Austausch unterbindet. Besonders bei den Anfragen der Staatsanwaltschaft macht sich ein erklärlicher Rhythmus bemerkbar. In den Wochen wo die Zeitungen die sensationsdurstigen Leser mit einem hohen Angebot von schwerkriminellen Strafverfahren befriedigen, werden die Subversivskarteien kaum angerührt. Wenn hingegen in den strafrechtlichen Verfolgungen eine Flaute eintritt, dann erscheint plötzlich ein lebhaftes Interesse an den Staatsfeindsregistern. Das ist verständlich, denn die Staatsanwaltschaft ist in ihrer Weise ein Geschäft das um zu bestehen, einen gewissen Umsatz bedarf nicht nur um die bestehenden staatlichen Subventionen zu rechtfertigen und womöglich zu steigern, sondern auch um dem Versickern von Interesse und Eifer auf Seiten der Angestellten vorzubeugen." KK Kapitel 12.9 KK >> Jeremias Zehplus spricht - 9543 << In Ordnung Es ergab sich ein Schweigen, dann ergriff erneut Jeremias Zehplus das Wort und sagte mit lauter Stimme: "Ich möchte die Verfahren der Rechnerregierung in Einzelheiten beschreiben; es soll ausdrücklich gesagt sein, damit den Beteiligten an dieser Konferenz jeglicher Grund zu Besorgnissen über die denkbare Verfolgung von Herrn Katenus und Fräulein Solmsen abhanden kommt. Die einschlägigen Verfolgungskartei ist mit dem Namen Kat_Sol_Persecution bezeichnet. Diese Kartei hab ich mit dem Befehl 'cat > Kat_Sol_Persecution' geleert, so dass der welche sie hinfort abruft auf nichts als einen leeren Bildschirm stößt. Zwecks doppelter und vielleicht übertriebener Sicherheit, hab ich diese Kartei außerdem mit dem Befehl 'chmod 000 Kat_Sol_Persecution' verschlossen. Dieser Befehl 'chmod 000' bewirkt dass diese Kartei von keinem, auch nicht von mir selber, gelesen, beschrieben oder ausgeführt zu werden vermag." "Aber heißt das nicht," fragte jetzt Katenus, "dass Elly und ich unser Glück, unsere Freude, vielleicht sogar unsere Leben auf Kosten eines oder zweier anderen erstehen, die um unsrer Willen ins Unglück, in die Verbannung, wenn nicht gar in den Tod gestürzt werden? Wie vermag ich, wenn ich mich heute Abend ins Bett lege, dann einzuschlafen?" "Da möchte ich ihnen als Schlafmittel eine statistische Analyse verschreiben," sagte Zehplus mit freundlicher Ironie. "Sie reden als ob sie meinten das einzige verfolgbare Opfer zu sein. Ich gebe zu, das ist manchmal der Fall. Meistens aber befindet sich der Staatsanwalt vor einer reichen Tafel, vor einem smörgåsbord zur Verfügung stehender Martyrer, deren er sich so viele auszusuchen vermag wie es ihn beliebt. Von diesem üppig mit Verleumdungen ausgestatteten Tisch mag der Staatsanwalt sich jenes Opfer wählen, das ihn als das ruhmträchtigste verlockt. Oftmals kommt ihm auch seine Frau, wie einst Potiphars Weib zu Hilfe, und weist auf den nach dem sie am meisten lüstet, oder wenn auch seltener, ergeht es ihm wie Pilatus von dem erzählt wird, 'Als er aber auf dem Richtstuhl saß, schickete sein Weib zu ihm und ließ ihm sagen, Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten, denn ich habe viel im Traum gelitten um seinetwillen.'" "Ich finde," sagte jetzt Mathilde, "in Bezug auf ihre beiden Frauen, zwischen Potiphar und Pilatus kaum einen Unterschied. Auch nicht zwischen jenen beiden längst verstorbenen biblischen Richtern und unserem hier anwesenden in Fleisch und Blut amtierenden Lemuel Adams den eine ihm innig bekannte Frau, meine Freundin Charlotte Graupe hierher bestellt hat um ihm einzuflüstern 'habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten, denn ich habe viel im Traum gelitten um seinetwillen.'" Diese Ausführungen von Zehplus und Mathilde hatte sich der Richter Adams mit zunehmendem Unmut angehört. Er wiederholte die Drohung die er kürzlich an Moritz Schwiegel hatte ergehen lassen. "Herr Rechnerprogrammierer Zehplus und Frau Reinemacherin Mathilde," fauchte Adams mit unterschwellig tobender Stimme, "Hier muss ich mir ihre ketzerischen Unverschämtheiten gefallen lassen. Hörte ich auf dem Richtstuhl so etwas von ihnen, würde ich Sie wegen Missachtung des Gerichts mit einer Beugungsstrafe von mindestens fünfzehn Tagen im Gefängnis verurteilen." "Das verstehen meine Mandanten sehr wohl, Herr Richter," sagte Moritz Schwiegel, und wiederholte, "Ich bin aber als erfahrener Anwalt von unerschütterlicher Zuversicht, dass weder ich noch meine Mandanten hier vor Gericht stehen." Hans dem Klempnertheologen erschien es nun dringend wünschenswert die Unstimmigkeiten hier im Treuhändersaal der Aletheia zu schlichten. Deshalb lenkte er bewusst und berechnend auf ein anderes Thema ab. "Das ist eine sehr sinnvolle, fast hätte ich gesagt, eine sehr gerechte Frage die sie da an sich selbst, und vielleicht auch an uns gestellt haben," sagte er, ohne seinen Hörern mitzuteilen was denn die Frage sein möchte auf welche ihr Interesse abzulenken bedacht war. Doch dann erklärte er, "Es handelt sich um den Ursprung, um die Quelle des Bösen. Die Legende im 1. Buch Mose welche die Schlange der Stiftung der ursprünglischen Sünde bezichtigt, verweise ich Tierliebhaber der ich nun einmal bin, als sittenwidrigen Schlangenrassismus. Ich erhebe keinen Anspruch die Frage nach dem Ursprung des Bösen, der Sünde, beantworten zu können, und möchte mir nur zwei kurze Randbemerkungen erlauben. Vorerst die Vorstellung, dass das Unrecht, dass die Schuld, nichts mit dem Pflücken und Verabreichen eines zur Sünde verlockenden baumelnden Apfels zu tun hat. Unrecht entspricht nicht einer beliebigen Untat meinerseits. Unrecht entspringt schlicht und einfach der Gegebenheit meines Seins. Bei dieser Vorstellung verlasse ich, und beziehe ich mich auf Anaximander. Bei der zweiten Vorstellung beziehe ich mich auf den englischen Volkswirt Adam Smith der meinte erkannt zu haben, dass das Streben der Menschen mit und gegen einander ein gesundes, für alle Beteiligten vorteilhaftes Verfahren ist, welche zu dem Ergebnis der größten Wohlstands der größten Anzahl der an einer Gesellschaft Beteiligten führt. Was aber soll werden aus den Schwachen, aus den Überwundenen, das frage ich mich, das frage ich euch, da Adam Smith zu keiner Antwort mehr fähig ist. Charles Darwin meinte eine Welt zu erkennen in welcher der Stärkere nicht nur überlebt, sondern wo das Überleben des Stärkeren das Gedeihen der Natur im Allgemeinen und, um das verfehmte Wort Rasse zu vermeiden, die Fortpflanzung der Art des Lebendigen nach sich zieht. Wir fragen 'Was ist böse? Was ist schlecht? Woraus ergibt sich die Schuld?' Wäre es nicht triftiger vorerst zu fragen, 'Was ist Gut? Was ist Tugend?'" So etwa sprach Hans, der Klempner-Theologe. Katenus aber war von den Vorstellungen des Unheils in welches er verwoben werden sollte, zu dringend eingenommen, als dass er bereit gewesen wäre sich den wohlgemeinten Vorschlägen des Programmierers Jeremias Zehplus zu fügen. "In einer solchen Welt bin ich nicht zuhause. Sie hat mit mir nichts zu tun," sagte er. "Lieber Katenus," erwiderte Elly, "Denk doch an mich, und genehmige meinetwegen die Entfernung unserer Namen aus der Liste der Verfolgungskandidaten." Joachim versuchte Elly in ihrer Bitte zu unterstützen. "Mir fällt auf,"sagte er, "dass mit der Bereinigung der Verfolgungsliste sich uns zugleich eine außerordentliche Gelegenheit zu einer gründlichen Revision und Sanierung unserer Regierung bietet, die es uns ermöglicht eine bessere, mehr erbauliche, mehr gerechte, mehr konstruktive Rechtsordnung zu entwerfen." "Viel Spaß und viel Glück, good luck and have fun", sagte Richter Adams. Joachim errötete wegen der naiven Dreistigkeit seiner Worte, aber es war zu spät sie zurückzunehmen. KK 13. Kapitel KK In Ordnung >> Charlotte gibt eine Erklärung - 9673 << "Ich bin einigen von Euch eine Erklärung schuldig," began Charlotte von neuem, "Anscheinend ist ein Missverständnis unterlaufen. Einige von euch hatte ich zur Besprechung einer besonderen, einer ausgesprochen vertraulichen Sache eingeladen. Von wem die Einladung an die sonstigen ausgegangen sein möchte, ist mir unbekannt. Es wird sich aber herausstellen. Doch möchte aber die Gelegenheit einer Plenarsitzung wie dieser nicht unausgenützt verstreichen lassen, und möchte zu Anfang einen jeden von Euch aufzufordern sich an den Diskussionen wie sie sich hier entwickeln zu beteiligen. Ich schlage vor, dass ein jeder von euch sich bei passender Gelegenheit euch in unser Gespräch einfädelt, indem er sich mit seinem Namen vorstellt, uns seinen Beruf und sein besonderes Interesse mitteilt, um dann unser Gespräch in jene Richtungen zu lenken welche ihm für uns alle am günstigsten erscheinen. KK Kapitel 13.1 KK >> Katenus spricht - 9695 << In Ordnung Da, unerwartet, kam Katenus selber der Situation zur Hilfe. "Ich möchte sie alle um Entschuldigung bitten," sagte er, "denn ich, und nur ich, bin die Ursache ihrer, oder sollten wir uns duzen und sollte ich sagen, eurer Verlegenheit. Meine Frau und ich wohnten jahrelang auf jener Insel die man mit gutem Grund die Lügeninsel nennt. Dort hat man mich und meine Elly verfolgt. Wegen dieser Verfolgung sind wir aufs Festland geflohen, aber umsonst, denn auch hier gibt es keinen Frieden für uns. Fräulein Graupe hat mir erklärt, diese Tagung sei in dem Bestreben angesetzt worden die Verfolgung Ellys und meiner selbst zu unterbinden. Soviel ich weiß, war es vorgesehen, dass Fräulein Graupe, Herr Schwiegel, Herr Zehplus, meine Elly und ich uns hier um eine neue Identität für mich beraten sollten, um eine Dichtung, um ein Kunstwerk das dann von Herrn Zehplus in die Reichsrechnerkarteien eingegeben würde. Und nun hat man scheinbar, als Frau Graupe, die offensichtlich sehr müde war, noch schlief, und eh sie erwachte, anstelle meines Namens, Maximilian Katenus, den Namen Gottfried Jedermann in die Verfolgungskarteien eingetragen. Das ist ein Widerspruch, denn einen Gottfried Jedermann hat es nie gegeben, gibt es nicht, und wird es nie geben; denn es ist keinem je von uns möglich mit Gott in Frieden zu leben. Mit der Anweisung also Gottfried Jedermann zu verfolgen, zieht man den Staatsanwalt, die Richter, das Revisionsgericht und das Berufungsgericht an ihren Nasen herum insofern sie Nasen haben; insofern sie aber keine Nasen haben lassen wir ihre Prätensionen als ihre Nasen gelten, und ziehen sie an ihren Prätensionen herum. Mit diesem Vorhaben war, und bin ich zufrieden, denn ich beschließe, dass es mit mir nichts zu tun hat. Ich existiere in meinen Gedanken und in meinen Gefühlen. Man mag es als eine Erscheinung der Altersschwäche deuten, dass ich mich dieser Gelegenheit bedienen werde, ihnen ein Abbild der Welt in der ich mich befinde, einbeschlossen eine Beschreibung meiner selbst, zu geben. An der Entwickelung von Propaganda ist mir nicht gelegen." Der Richter Lemuel Adams hatte Katenusens Bemerkungen mit zunehmender Erregung über sich ergehen lassen. Schließlich war es ihm zu viel geworden und die Worte platzten, sprühten, sprudelten, spritzten ihm aus dem Munde: "Du Maximilian Katenus oder wie immer du heißt, ich kann deine wahnsinnigen Einfälle, deine Spitzfindigkeiten, deine Afterweisheiten, deine Witzchen und Witzeleien nicht mehr ertragen. Scher dich zum Teufel in die Hölle wo du hingehörst, und wenn ich jemals in der Stellung sein werde, dir auf den Weg dorthin zu helfen, sei gesichert und getrost, ich werde es tun." Darauf erwiderte Moritz Schwiegel, "Ihre Worte, Herr Richter, werde ich ihnen als Zeugnis ihrer Befangenheit zitieren, sollten, Gott bewahre, diese meine Mandanten jemals in ihrem Gerichtssaal erscheinen." Die Stimme eines Zuschauers auf herangezogenem Stuhl der sich nicht weiter auswies, hörte man sagen, "Unter uns Anwälten sind die Umstände der Gerechtigkeit ja längst in einer Binsenwahrheit zusammengefasst: die Revisionsrichter sind nichts als Wirtinnen welche die Huren verwalten." Katenus ließ sich durch diese Worte nicht stören. "Die Umstände sind folgende: Man verfolgt Elly weil sie meine Frau ist. Man verfolgt mich weil ich kein Mitglied ihrer Herde geworden bin, und weil es mir scheinbar unmöglich ist, ein solches zu werden. Gott weiß, ich habe es versucht. Ich habe einen beträchtlichen Teil von meinem Hab und Gut verschenkt an Menschen die ich zu meinen Freunden machen wollte. Doch ausgerechnet durch meine Geschenke wurde ich ihnen zum Ärgernis. Ich war ihnen lästig und sie scheuten sich als meine Freunde zu erscheinen. Warum ich nicht zum Herdenmitglied tauge, warum es mir nicht gelungen ist, einer von ihnen zu werden, das weiß nur der Liebe Gott, und dem widerstrebt es seine Geheimnisse zu offenbaren." Katenus fuhr fort: "Meine Beziehung zum Döhringhaus begann vor mehreren Jahren, bei Gelegenheit eines Besuchs auf der Lügeninsel der damaligen Bewohner des Hauses in der Linnaeusstraße, Jonathan Mengs und seines Schülers Joachim Magus. Wir begegneten uns bei der Fahrt in einem kleinen Autobus zwischen der Inselstadt und dem Meer. Da beklagte ich, in der mir eigenen ungestümen Weise, die gedankenlose und eigentlich verantwortungslose Freigiebigkeit mit der ich den Grundbesitz an beiden Seiten der Chaussée wo wir entlang fuhren in meinem Versuch mich, nein, nicht beliebt, sondern geliebt zu machen, verantwortungslos verschenkt hatte. Das habe ich getan. Das bin ich. Das ist meine Person weswegen sie mich verfolgen." "Wenn ich Euch recht verstehe," fuhr Katenus fort, "habt ihr in Fürsorge, vielleicht sogar aus Liebe für mich, euch hier versammelt um die Verfolgung von mir abzuwenden, indem ihr mich mit einer neuen Identität verseht. Ich bitte Euch mich zu entschuldigen, wenn ich darauf hinweise, dass dies unmöglich ist, denn wenngleich derjenige der ich bin, im Laufe der Jahre durch die Zeit verändert, verwandelt wird, so ist dieses ein Vorgang der sozusagen von selbst geschieht, dessen ich mir zwar bewusst bin, der aber jedoch außerhalb meiner Kontrolle ist, denn obgleich ich mir jeweils bewusst bin, was ich tu und lasse, so bin ich mir zugleich bewusst, keinerlei Kontrolle darüber auszuüben. Gleichfalls habe ich keine Kontrolle über das Sein des Menschen der ich bin, dessen, darf ich es sagen, gefälschte Biographie Herr Zehplus seinen Rechnern einzugeben beabsichtigt. Auch ich habe zuweilen Romane und Novellen geschrieben über den der ich zu sein meine. Und das muss ich euch erzählen, das müsst ihr euch von mir anhören, eh ich mich an der Dichtung die ihr vorschlagt zu beteiligen vermag." "Die Welt in der wir leben ist die Welt der Erzählung. Was wir von einander durch eigenes Erleben, durch eigene Erfahrung wissen, ist im Verhältnis zu dem umfassenden Weltbilde das wir hegen sehr gering. Zwar unterscheiden wir zwischen dem was ein Mensch einst erlebt hat und gegenwärtig erlebt, und wie er sich diesem Erleben entsprechend sich selber vorstellt, und darüber hinaus, wie er den Menschen die ihn kennen, die von ihm gehört oder gelesen haben, erscheint. Ich muss es gestehen," fuhr Katenus fort, "dass einst auch ich das Begehren nährte, berühmt zu werden. Auch gebe ich zu, dass es sein mag, weil dies mir nicht gelang, dass ich heute empfinde, dass dergleichen öffentliche Vorstellungen zu dem was der Mensch eigentlich ist, in sehr zweideutigem Verhältnis stehen. Da muss ich mich fragen, und da frage ich euch, ob nicht vielleicht die öffentliche Vorstellung, und nichts anderes, bezeichnet was ein Mensch in der Wirklichkeit ist, und dies nicht anzuerkennen, dies zu leugnen, heißt sich und seine Hörerschaft zu täuschen, wenn nicht gar zu betrügen. Andererseits sagt man, dass es einen Gott gibt, dessen Amt es ist unsere Seelen hinter ihren Schleiern zu erkennen. Welch ehrlicher Mensch hätte davor keine Angst? So viel muss ich zugeben, und es muss einem jeden von euch überlassen bleiben, wie er meine Rede, wie er meine Ausführungen deutet." "Ich berichte euch was und wie ich es erinnere. Somit entfalte oder entrolle ich vor euch mein Gemüt in einer fortwährenden Handlung die sich aus sich selbst entwickelt, und die sich selber speist. Denn die Vergangenheit ist keinem von uns zugänglich, auch nicht die eigene. Alles Berichten von der Vergangenheit ist mythisieren, wenn ihr mir diese Neuwortbildung erlaubt, ist das Entdecken oder Entwickeln eines Mythos. Und das ist auch der Fall wenn man aus seiner eigenen Vergangenheit berichtet. Das ist eine Einsicht die mir sehr teuer ist, und die ich deshalb nicht oft genug zu wiederholen vermag. Ich begründe und bestätige meine Erinnerung mit Bildern und Briefen und anderen Dokumenten aus der Vergangenheit, die ich wie Gegenstände in einem Museum aufbewahre um mir die vergangene Wirklichkeit zu gewährleisten. Und doch ist dies unmöglich, denn was ich jetzt vor mir habe, was ich jetzt lese oder was ich mir jetzt anschaue, das mag zwar an die Vergangenheit erinnern, aber jegliches resurrexi oder resurrexero täuscht, für die Vergangenheit gibt es kein Auferstehen, denn die Vergangenheit lässt sich in keine Gegenwart heraufbeschwören oder zitieren." "Nun fragt ihr mich: Was ist Gegenwart? Und damit öffnet ihr ein bedeutendes Kapitel der Physik. Man unterscheide die Zeit als messbar von der Zeit die ich erlebe, und die ein jeder anderer von uns erlebt. Die messbare, or vermeintlich messbare Zeit erstreckt sich in eine unendliche Vergangenheit und in eine unendliche Zukunft. Die unendlich weite Vergangenheit ist von der unendliche weiten Zukunft durch eine infinitesimale Gegenwart, durch die sogenannte Hyperfläche der Gegenwart getrennt. Im Englischen nennt man diese Gegenwart, the hypersurface of the present. Die erlebte Zeit ist der Gegensatz der errechneten Zeit. Die erlebte Zeit ist die Gegenwart, und die Gegenwart lässt sich nicht messen oder zählen. Die Zeiten die sich messen oder zählen lassen liegen in der Vergangenheit oder in der Zukunft, wo sie als vergangen oder künftig niemals erlebt werden können." "Entscheidend sind sie Vorgänge des Zählens, des Messens und des Rechnens, denn sie sind unmittelbare Erlebnisse welche in einer bleibenden Symbolik niederschlagen, in mathematischen Formeln mit der Eigenschaft das künftige Denken nicht nur des Einzelnen, sondern der Vielzahl der denkenden Menschen zu bestimmen, zu fesseln und zu kontrollieren. Dies geschieht in einem genaueren, mehr präzisen und mehr verlässlichen Sinn als die sich unablässig verwandelnde Sprache. So ergibt sich das Rechnen als ein Instrument das Raum und Zeit, das Hier und Jetzt, weit über das gegebene Erleben hinausdehnt, eben in dem Sinne, dass es dem Menschen allenfalls nominell gelingt mit dem Rechnen, das Entfernteste und Entlegendste ins unmittelbare Erleben der Gegenwart hinein zu ziehen, oder es an dieses zu fesseln. Die Problematik welche sich aus diesem Übergreifen des Erlebens ergibt wird anschaulich beim Bedenken der errechneten und doch unabänderlich unanschaulichen Vorgänge einerseits in den kosmischen Ausmaßen des Urknalls, der behaupteten seither fortschreitenden Erweiterung des Alls mit Lichtgeschwindigkeit, sowie auch in den berechenbaren möglichen Zusammenbrüchen des Weltalls, und andererseits in den infinitesimalen Dimensionen der Quantenmechanik, der Lichtmechanik und der Teilchenphysik. Diese von der Mathematik gestiftete Problematik erfordert intimste und intensivste Behandlung, die Ein- und Ausarbeitung in Versuchen, in Experimenten, deren Deutung dann aber doch nicht selbstverständlich ist, sondern ein unmittelbares existenzielles Erleben des Wissenschaftlers erfordert. Die Uhr ist das Instrument das mittels des Schattens, des Zeigers, des Sandstroms oder des Bildes, mit seinem Ticken, oder mit dem Pendelschlag, den Verlauf der Zeit sichtbar und hörbar macht." "Die sogenannte Philosophie aber, der auch ich jahrelang gefrönt habe, beansprucht über eine Wirklichkeit jenseits der menschlichen Sprache und somit auch jenseits des menschlichen Denkens, mittels einer Kunst die sie so etwas wie Metaphysik bezeichnet, auszusagen. Das ist ein hoffnungsloses Bestreben über das man nur lachen oder weinen kann, wenn nicht beides zugleich." "Meine Damen und Herrn," unterbrach jetzt Charlotte, "Soeben hatten Sie die Ehre einem erstaunlichen Vortrag über unser menschliches Denken von Professor N.S. Witzig beizuwohnen, wo 'N' für 'nicht', und 'S' für 'sehr' steht. N.S. Witzig ist der Deckname den wir einst für Maximilian Katenus aussuchten. Heute aber bin ich froh und dankbar zu wissen, dass er diesen Namen nicht länger benötigt. Ich weiß nicht ob ich mich rühmen soll seine Ausführungen verstanden zu haben. Vielleicht sind diese ihrem Wesen gemäß unverständlich. Dann wäre es lediglich zulässig diese Ausführungen als Ansatz zu eigenem Denken zu nutzen. Bitte scheuen Sie nicht sich der Gelegenheit zu bedienen sich mit Fragen an ihn ein tieferes Verständnis seiner Gedanken zu erwerben. Ich betrachte diesen Vortrag als passende Einleitung zu der Bearbeitung der bedeutenden Regierungsaufgaben die sich uns aufdrängen. Ich fordere einen jeden von den Mehreren die hier versammelt sind mit Fragen, mit Kommentaren, mit Vorschlägen, ja, und auch mit Kritik an unseren Besprechungen teilzunehmen." "Ist das auch Ihre Meinung?" fragte eine Stimme, der Katenus folgende Antwort gab. "Es ist mir peinlich zuzugeben, dass ich grundsätzlich versuche mich der Meinungen zu enthalten. Ich versuche mit allen Strähnen des Gedankennetzes das wir weben und in dem wir uns von Zeit zu Zeit verfangen, vertraut zu werden und vertraut zu bleiben. Die These behauptet: Wahrheit ist was verlässlich mitgeteilt zu werden vermag, ist Objektivität, Die Antithese lautet: Wahrheit ist was nicht mitgeteilt zu werden vermag, ist Subjektivität. 'Die Subjektivität ist die Wahrheit' ist eine Behauptung die von dem berühmten Denker Søren Kierkegaard vertreten wurde." "Das glauben Sie doch selbst nicht," sagte die Stimme. "Das Glauben, so scheint mir," sagte Katenus, "ist hier nicht so einschlägig wie das Verstehen. Ich betrachte die Dialektik von Innen und Außen, von Subjektivität und Objektivität einen unentbehrlichen wenngleich problematischen Beitrag zu dem Verstehen unserer Erkenntnis, unentbehrlich, weil sie darauf hinweist, dass all unser Empfinden, auch wenn wir in vollem Chor singen, und besonders dann, leidenschaftlich, inwendig, vereinzelt, also subjektiv ist, und problematisch weil es mit dem Irrtum des Lügnerparadoxes behaftet ist." "Wie meinen Sie das?" "Das Lügnerparadox ist die Verlautbarung einer Unmöglichkeit die behauptet 'Dieser Satz ist nicht wahr.' Denn er ist unwahr wenn er wahr ist, und wahr wenn er unwahr ist. Ich entnehme diesem Widerspruch die Lehre, dass Wahrheit sprachlich, und in der Sprache gegründet ist, und dass wir demgemäß eines weiteren außersprachlichen Kriterions des Verlässlichen bedürfen, nennen wir es Wirklichkeit, das die Bereiche des Zwingenden und Triftigen die außerhalb der Widersprüchlichkeit des Sprachlichen liegen sowohl als auch das Sprachliche umfasst." Jetzt schwieg Katenus. Es schien als hätte er sich in den Maschen seines eigenen Gedankennetzes verfangen, und bedürfte nun der Zeit sich zu befreien. Keiner aber wagte dies auszusprechen, wohl wegen des eindrucksvollen Auftritts dieses außerordentlichen Mannes. Es hatte sich wiederum eine Stille ergeben. Dieweil Katenus am Sprechen gewesen war, hatte Charlotte empfunden, dass diese Tagung einen Sinn hatte, wenngleich es ihr unmöglich gewesen wäre, diesen Sinn zu beschreiben. Die Stille aber beunruhigte sie, erinnerte sie an ihre Verantwortung für die ungeheure Problematik die sie sich aufgeladen hatte, und an ihren Entschluss die Wahrheit darzustellen, obgleich Katenus zu behaupten schien, dass es keine unbedingte Wahrheit gibt. Jetzt jedenfalls war nicht Gelegenheit dieses schwierige Problem anzuschneiden. Es galt die zunehmend bedrohliche Stille zu beheben. Das war ihre Aufgabe, und diese Aufgabe würde sie erfüllen. KK Kapitel 13.9 KK >> Karl Folterer spricht - 9992 << In Ordnung Aber eh es Charlotte gelungen war sich zu sammeln ergriff der Regierungssachverständige Karl Folterer das Wort: "Wir sind gewohnt die Gliederung des Einzelnen in die Gesellschaft vorauszusetzen. Die Dialektik von Ich und Du, von Wir und Sie, von Subjekt und Objekt, vom Einzelnen und der Gesellschaft in welche er sich fügt oder aus der er heraustritt ist umso problematischer als die Beziehungen in denen ein jeder von uns sich befindet ihm undurchsichtig sind. Es ist uns schwierig bis zur Unmöglichkeit, aus der Stellung, aus dem Verhältnis in welchem wir uns befinden herauszutreten um es so zu sagen von außen zu betrachten und zu bedenken. Denn dazu müsste unsereiner aus der Gesellschaft entfernen und nicht nur die Gesellschaft sondern auch sich selber abgetrennt, - ja wovon - abgetrennt von sich selber - beobachten. Und das ist schlechthin unmöglich. So bleibt nichts übrig als wiederholte Hinweise auf die Unstimmigkeiten welche aus diesem Thema nicht zu entfernen sind. Dennoch, und vielleicht sogar ausgerechnet darum, sollten die Vergesellschaftung des Einzelnen und die Individualisierung der Gesellschaft wesentliche Themen dieser Auseinandersetzung werden." "Ganz am Anfang ist zu bemerken, um das Verständnis zu erleichtern wenn nicht gar zu ermöglichen, dass die Kohäsionen der Gesellschaft und die Selbstbehauptungsbedürfnisse der Einzelnen, in weiten Spektren erscheinen, und dass die einschlägigen Kräfte von jeweiligen Umständen abhängig, und umstandsspezifisch sind. So wächst die Festigkeit der Gesellschaft im Krieg, wo alle Mitglieder von außenstehenden Feinden bedroht sind, und so lockert sie sich in Friedenszeiten die dem Einzelnen mehr Gelegenheiten bieten, nach eigenen Zielen zu streben. Auch ist zu bemerken, dass im Rahmen einer größeren umschließenden Gesellschaft, einzelne Menschen sich als unabhängig ablösen, um dann aber, weil es ihnen unmöglich ist als Einzelne zu existieren, sich umgehend in andere Gesellschaften zusammenfügen, Gesellschaften die vorerst kleiner sind, dann aber wachsen mögen und die ursprüngliche Gesellschaft von außen bedrohen, bis sie ihr in den Weg treten, und sie schließlich durch Bürgerkrieg zu ersetzen suchen." "Überall erscheinen eris, Konflikt, Zwist, Streit, Zwietracht ... zwischen einzelnen Menschen, zwischen Einzelnen und Gruppen, und zwischen Gruppen, zwischen Staaten gegeneinander, unvermeidlich zerstörerisch und die Beteiligten schwächend, schließlich aufgewogen durch Sehnsucht und Streben, durch das Bedürfnis nach Frieden, so dass Zwietracht und Harmonie, dass Krieg und Frieden sich ewig abzulösen scheinen." "Weiterhin zu betrachten und zu bedenken ist, wie eine bestehende Gesellschaft einerseits den Einzelnen aufnimmt, naturalisiert, einbürgert, unterstützt und erhält; und wie sie ihn andererseits aber ausscheidet, absondert und zerstört. Auch müssen wir überlegen und betrachten, wie der Einzelne die Gesellschaft zu beeinflussen, zu leiten, zu verwandeln strebt, indem er sich zu ihrem Führer, Präsidenten, Vorsteher, wählen oder anderweitig küren lässt; und wie die Gruppe das Wesen, die Handlung, das Betragen des Einzelnen kontrolliert und bestimmt." "Unter dem Strich: die Unvollkommenheit mag als notwendiger Bestandteil der Vollkommenheit betrachtet werden, so etwa Leibniz über das Regiment Gottes. Dann wären auch nicht weniger als das Streben nach Frieden, Besserung und Wohlstand, der Streit, der Krieg, die Armut, das Leiden, der Tod, Bestandteile des allumfassenden vollkommenen Guten. Dies sollte unsere Perspektive sein, indem wir uns um die Gestaltung einer besseren Gesellschaft sorgen. Den Widerspruch in dem Versuch das vermeintlich längst allerbeste noch besser zu machen, vermag ich nicht zu entwirren." "Es möchte scheinen, dass beim entwerfen und entwickeln von Regeln und Gesetzen wir uns auf unseren 'freien' Willen verlassen, dass in diesem Vorgang die bewusste Bestimmung unserer Gedanken und Begriffe offenbar wird. Aber diese Vorstellung ist verhängnisvolle Täuschung. Die Gedanken welche die Willentlichkeit der Handlung zu bezeugen, wenn nicht gar zu begründen scheinen, sind nichts als deren Begleiterscheinung, und sind ebenso unwillentliche Ausdrücke unsres Wesens wie die Handlungen welche sie vertarnen. Je mehr ich darüber nachdenke, desto stärker wird meine Überzeugung, dass die Wirklichkeit und Wirksamkeit meines Lebens im Unbewussten - oder Unterbewussten - verläuft und besteht; und dass das vermeintlich vernünftige Wissen und Verstehen nicht dazu dienen diese Wirklichkeit zu offenbaren sondern sie zu verbergen." "Bei unserem Versuch eine neue Gesetzgebung zu entwerfen, müssen wir entdecken und erfahren wer wir sind, denn letzten Endes sind wir es selbst, denen wir Gesetze geben. Die Gemeinsamkeit dieses Wir birgt die Unbestimmtheit, dass wir nicht wissen wer wir sind. Wir wissen dies nicht, weil ein jeder von uns zugleich Einzelner und Herdenmitglied ist, und jeweils unschlüssig ob er als Einzelner oder als Herdenmitglied handeln sollte, oder zu handeln vermag. Dann aber auch, wenn wir genau hinschauen, sehen wir dass es nicht nur eine einzige Herde ist in der wir uns befinden, sondern dass diese Herde von vielen anderen Herden umgeben ist, und dass wir, wenn auch nur unbewusst, wählen welche der verschiedenen Herden wir angehören oder uns anschließen sollten." KK 14. Kapitel KK In Ordnung >> Charlotte beichtet - 10106 << Jetzt erklärte Charlotte: "Meine Damen und Herren, oder sollte ich sagen, Verehrte Mitglieder ich bedanke mich und ich entschuldige mich bei ihnen für die Mühen welche dieses Zusammenkommen Sie kostet. Ich hatte nur eine kleine Gruppe zusammen gerufen, aber da wir uns nun einmal hier befinden, sollten wir diese Gelegenheit wahrnehmen zu versuchen unserer Gesellschaft, unserem Volk, unserer Regierung, die Sanierung welche sie so dringend benötigt, angedeihen zu lassen." "Äußerlich und oberflächlich möchte unsere Versammlung daraufhin gedeutet werden, dass wir einander kennen. Tatsächlich aber kennt fast keiner von uns den anderen. Ist es doch fraglich wer von uns sich selber kennt." "Ich bin die Tochter einer alleinerziehenden Mutter die mich im Stich gelassen hat. Von meinem Vater weiß ich nichts. Ich wuchs auf als Pflegekind in einer mir fremden Familie die sich meiner angenommen hatten, nicht aus Liebe, sondern wegen der geringen Geldsummen welche ihr vom Wohlfahrtsamt für meinen Unterhalt bezahlt wurden. Nach dem Abitur bekam ich ein Stipendium das mir das Universitätsstudium ermöglichen sollte. Aber die Vorlesungen langweilten mich, oder ärger noch, sie stießen mich ab, denn ich fand sie hatten mit mir, mit meinem Leben, mit dem was mich bekümmerte, mit dem was mir notwendig war, nichts zu tun. Das einzige was mich begeisterte war die Musik, aber ich vermag bis heute kein Instrument zu spielen. Ich bin fast auf den Tag, 26 Jahre alt." Charlotte fuhr fort: "Meine Damen und Herren, oder sollte ich sagen, meine Freundinnen und Freunde, oder vielleicht sogar, verehrte Reichsregierungskabinettsmitglieder, die Unbestimmtheit meiner Anrede und Einführung, möchte sie nicht besagen, dass ich nicht weiß, dass ich unsicher bin, wie ich fortfahren soll, denn tatsächlich ist dies der Fall." "Vorerst kam mir der Gedanke, dass da wir einander nur wenig, vielleicht überhaupt nicht kennen, dass wir eine Tafelrunde begehen sollten, und dass ein jeder von uns sich den anderen vorstellen sollte, wenn nur um seinen Namen anzugeben, und dass ich selber den Anfang machen sollte, mich Euch - oder Ihnen - vorzustellen. Da sah ich ein, wie wenig doch der Name bedeutet. dass der Name verhüllt, was der Mensch ist, was er erlebt hat, was das Leben ihm angetan hat, wenn nicht gar, was er dem Leben angetan hat. Infolge dieser Gedanken sah ich ein, wie schlechthin unmöglich es mir wäre über mich selbst zu berichten, eben darum weil es mir unmöglich ist was ich erlebt habe in Worte zu kleiden." "Ich weiß von wem und zu welchem Zwecke diese Runde vorgeschlagen wurde, denke aber es sollte ein Geheimnis bleiben; wer aber Euch alle einberufen hat, weiß ich nur zum Teil. Das mag aber auch ein Geheimnis bleiben, welches aufzudecken mir überflüssig erscheint. Nun aber bin ich ratlos, wie ich, die diese Versammlung vorgeblich zusammenberufen hat, fortfahren soll." So sprach Charlotte. "Deine Verlegenheit," es war die Stimme von Jonathan Mengs die ertönte, "ist mir verständlich, und doch finde ich, lässt sie sich sehr leicht beheben." "Und wodurch, in welcher Weise?" fragte Charlotte. "Eben dadurch," erwiderte Jonathan, "dass man einem jeden der hier Versammelten die Gelegenheit gibt, den Versuch zu machen, was ihn beschäftigt, was ihn begeistert, was ihm im Gemüt rumort, auszusprechen, verständlich zu machen, mitzuteilen, und somit eine Gesellschaft, ins besondere, eine geistige Gemeinschaft zu gründen. Das bedeutet unter Umständen, eine neue Sprache zu entdecken und zu erlernen. Ich rühme mich, wie einige von Euch wissen, als Professor, will sagen als Lehrer der Literatur, des Lesenswerten, des Niedergeschriebenen zu wirken. Aber eins führt unvermeidlich zum nächsten. Das Niedergeschriebene zum Schreiben, das Schreiben zum Sprechen, das Sprechen zum Denken, das Denken zum Erleben, und das Erleben zur Wirklichkeit. So befinden wir uns hier an diesem länglich sich erstreckenden Tisch mit seinen Chippendale Leuchtern, mit zwölfeckigen Tellern, und mit silbernen Bestecken geschmückt, potentiell jedenfalls, an einer außerordentlichen Quelle der Wahrheit und der Wirklichkeit. Ich stelle an jeden von Euch die Frage, ich erteile jedem von Euch die Bitte, Versuche auszusprechen was dein Gemüt beschäftigt, versuche uns anderen zu erzählen was dir am Herzen liegt." Da erhoben sich unerwartet viele Stimmen; fast schien es, sie hätten nur gewartet aufgerufen zu werden, um nun alle zusammen auf einmal und durcheinander zu reden. Dann aber tat sich die am meisten klare und eindeutige Stimme hervor. "Ich heiße Karl Folterer," sagte sie. Ich betrachte mich als Regierungssachverständigen. Ich biete euch meine Dienste an, die ihr die Regierung dieses Landes seid, und wenn ihr sie nicht seid, dann werden sollt." Karl fuhr nun ohne weitere Aufforderung oder Einladung mit seiner Rede fort. "Ich stehe unter dem Eindruck, dass die Regierung welche diese Stadt, diesen Staat, dieses Reich verwaltete, zuletzt eine lediglich nominelle Regierung war, insofern als die zuständigen, verantwortlichen Regierungsmitglieder untätig und abwesend waren, obgleich sie dennoch ihre Gelder bezogen. Das wären größtenteils Bestechungssummen die uns Untertanen zwar verboten, welche aber den Regierungsmitgliedern erlaubt sind und nicht untersagt werden können, weil die Regierungsmitglieder der Befolgung der Gesetze, mit ihrer Macht sie zu erlassen, zugleich enthoben sind." Da wurde Karl Folterer von Joachim unterbrochen. "Entschuldigen Sie bitte," Herr Folterer, "Aber was sie beschreiben, ist mit dem Begriff des Rechtsstaats unvereinbar. Spielt denn in ihren Vorstellungen der Rechtsstaat überhaupt keine Rolle?" Da antwortete Karl Folterer, "Im Gegenteil, das vermeintliche Bestehen des Rechtsstaates ist eine edle Täuschung welche heutzutage beträchtliche Teile der Menschheit verführt, verleitet, begeistert, tröstet und enttäuscht." "Das, bitte, müssen Sie mir eindeutiger erklären," bat Joachim. "Die Erklärung ist einfach, sehr einfach. Ich meine erkannt zu haben, dass unser ganzes Leben fast nur aus Täuschung besteht, dass das vermeintliche Begreifen einer Wahrheit, dass das eingebildete Erreichen einer Wirklichkeit, die letzten, äußersten, höchsten oder tiefsten Täuschungen sind. Es handelt sich dabei um unentbehrliche Täuschungen. Die Täuschung, die Illusion ist es was die Gesellschaft zusammenhält. Bar jeglicher Täuschung ist einem jeden von uns als Einzelner und als Gesellschaftsmitglied das Leben unmöglich. Das große Geheimnis ist, dass nicht nur die Täuschung unabkömmlich ist, sondern dass es uns auch obliegt, uns über die Täuschung zu täuschen." "Das finde ich fast selbstverständlich," unterbrach Joachim, "denn wenn einer unterlässt sich über die Täuschung zu täuschen, dann ist ja die Täuschung aufgehoben." Es entstand eine Pause. Dann fuhr Karl fort; "Es ergibt sich die Frage, ob auch die Täuschung über diese Täuschung lebensnotwendig ist. Fast meine ich die Antwort als 'Ja' zu erkennen insofern es sich um das Leben, um das Überleben der Gesellschaft handelt." So sprach Karl Folterer. Dann setzte er hinzu, "Aber unsere bisherige Reichsregierung auf welche wir uns selbsttäuschend verließen, ist verschwunden, spurlos verschwunden." "Lieber Karl Folterer," unterbrach jetzt Charlotte, in liebenswürdigem aber doch fest entscheidendem und bestimmendem Ton, "da vermag ich dir nicht beizupflichten. Da muss ich dir widersprechen. Denn schon die Tatsache, dass wir uns hier auseinandersetzen, dass wir zusammen an diesem Tisch und um ihn herum sitzen, die beweist, dass dies Reich eine Regierung hat, eine Regierung deren ein jeder von Euch ein Mitglied ist, eine Regierung deren Vorsitzende ich selber zu sein behaupte." "Ja, was soll, warum brauchen wir überhaupt eine Regierung?" Es war die Polizistin Liese an der rechten Seite des Richters Lemuel Adams welche diese Frage gestellt hatte. Wieder huschte durch Charlottens Gemüt die Unbestimmtheit ob Liese hier als Wächterin oder als Ehrengarde des umstrittenen Richters erschienen war; bedeutender noch, ob Liese die als Polizistin von der Notwendigkeit eines Polizeistaats überzeugt sein sollte, glaubte was sie selber behauptete, oder ob es die Herausforderung eines advocatus diaboli war, oder ob es der Fall war, und dies schien jetzt Charlotte möglich wenn nicht gar wahrscheinlich, dass Liese dieser kleinen Gesellschaft eine Falle stellte, in dem Sinne, dass Liese bewusst und mit Vorbedacht eine Atmosphäre, eine Ambienz gestaltete in welcher abtrünnige Freiheits- und Unabhängigkeits- sympathisanten, Anarchisten also, sich durch ihre Äußerungen von selbst enttarnen würden. Dennoch war Charlotte es sehr zufrieden, dass Liese sich an den Verhandlungen beteiligte und somit die Gültigkeit dieses Zusammenkommens bestätigte. Karl Folterer ließ auf seine Antwort nicht warten. Das Gespräch hatte ihn zum Denken angeregt, lebhafter als seit Jahren, vielleicht lebhafter denn je. "Die Regierung ist uns wegen unserer Gesellschaft unbedingt notwendig; und die Gesellschaft ist einem jedem von uns notwendig, weil es keinem Menschen möglich ist abgeschieden, getrennt von anderen zu leben. Dies schon offensichtlich weil jeder Einzelne von Eltern gezeugt, von einer Mutter geboren wird, weil seine körperliche, und mehr noch, seine geistige Entwicklung von seinen Mitmenschen, von der Gesellschaft also in der er lebt, abhängig und bedingt ist. Vornehmlich ist die Gesellschaft Vorbedingung der Sprache, und wiederum, ist Sprache Vorbedingung für das Denken. So ist die Gesellschaft der Menschen ein Zusammenwirken, und als solches die Quelle ihres und unseres geistigen Lebens." "Das aber erklärt immer noch nicht, weswegen wir der Regierung bedürfen," verlangte die beharrliche Polizistin. "Wir bedürfen der Regierung," erklärte Karl Folterer, "um uns Einzelne gegeneinander und gegen unsere Gesellschaft zu schützen, und um die Gesellschaft, die ja anderweitig chaotisch irren und toben möchte, auf ersprießliche und konstruktive Ziele, Zwecke, Tätigkeiten und Bestreben zu richten. Bekanntlich gibt es Regierungen verschiedenster Arten. Sie aufzuzählen finde ich überflüssig. Unsere Regierung hat sich von selber aufgelöst." Hier wurden die Ausführungen Karl Folterers von Jeremias Zehplus unterbrochen. "Da muss ich ihnen widersprechen," sagte er, "denn unsere Regierung ist modernisiert, und ist somit Regierungen anderer Staaten weit voraus. Die Mühen und die Sorgen welche einstmals Regierende bei uns belasteten, sind ihnen abgenommen und den mir anvertrauten Rechnern übertragen, die ich so gewissenhaft versorge und saniere wie ich vermag." Dem entgegnete Karl Folterer: "Es ist mir klar, dass Rechnerprogramme wenn sie eingelaufen sind, dann auf unabsehbare Zeit weiter zu laufen vermögen. Ich sollte aber meinen dass Anfangseinstellungen und Kurskorrekturen sich aus besonnenen Überlegungen ergeben müssen." Dem antwortete Jeremias Zehplus mit einem Anflug bewusster Überlegenheit, "Ihre Ausführungen entsprechen den Umständen der Vergangenheit. Neuerdings bedient man sich der sogenannten künstlichen Intelligenz. Die Rechner überwachen das Betragen der Bevölkerung und erschließen somit deren Bedürfnisse, Sorgen, Hoffnungen und sonstige Gesinnungen, eichen dann all ihnen eingeflößte Angaben, und errechnen somit die günstigsten Einrichtungen nicht nur für einzelne bevorzugte Gesellschaftsmitglieder, sondern ebenfalls für verschiedene Gesellschaftsgruppen, um diese entweder zu bevorzugen oder zu benachteiligen, in Hinsicht auf unterschiedliche Altersgruppen, Berufsgruppen, und dergleichen mehr." "Mir ist die Regierungswissenschaft, wenn ich sie so nennen darf," begann Joachim, "ein bisher gänzlich unbekanntes Gebiet. Ich hab es nie beachtet und deshalb nie bedacht. Ich möchte mit meinem Verstehen den Anfang machen indem ich betrachte und beschreibe was beim Regieren tatsächlich vor sich geht. So möchte ich zuerst fragen, wie wir in die bestehende Lage versetzt worden sind, wo die Regierenden, die Abgeordneten, die Minister - heißt dies Wort nicht Diener? - ihre Stellen verlassen haben, und dies, so möchte es mir scheinen nicht aus Schlechtigkeit sondern aus Fehlanpassung, Missverhältnis, aus Missverständnis." "Nein," sagte Zehplus, "die Minister sind fort, weil sie überflüssig geworden waren, weil meine Rechner ihre Pflichten übernommen hatten." Er zögerte, aber nur vorübergehend, und fuhr dann fort. "Wenn sie sich dennoch bezahlen ließen, so war es Arbeitslosenunterstützung, Stempelgeld, das sie kassierten. Dass die alte Regierung außer Betrieb gesetzt wurde, - oder sich außer Betrieb setzte, besagt nicht, dass sie schlecht oder minderwertig war, denn auch das Gute ist nie so gut, dass es nicht denkbar besser zu werden vermöchte. Aber das Urteilen wird sofort zur Selbstbestätigung oder zu abschätziger Kritik das dem Verständnis und der Assimilierung den Weg verbaut. Besser also, die Welt in der wir leben ohne Einschätzung anzuerkennen." Folterer war von diesen Ausführungen unbeeindruckt. "Am Anfang glaube ich," sagte er, "wäre es gut einen Überblick zu bekommen, wie die Regierung entstand, wie sie sich entwickelte, wie sie funktionierte, wo sie versagte, was sie kostete, warum sie einging. Darüber hinaus, da wir nun, allenfalls vorübergehend, über keine Regierung verfügen, meine ich dies sei eine günstige Gelegenheit eine neue Regierung in überlegter Weise aufzubauen." "Man bezeichnet es als eine Demokratie, als eine Regierung des Volkes, deren Vertreter entsprechend den Bedürfnissen und Wünschen des Volkes, entdeckt, gewählt, angestellt werden, mit Wiederwahlen in 2, 4, oder 6 Jahren. Man erwartet von ihnen, dass sie die Interessen der Wähler vertreten, ob sie nun als selbstständig Einzelne handeln oder als Mitglieder einer Gruppe, welche die Anliegen ihrer Teilnehmer gegeneinander abwägen und kompromittieren. Dabei sehe ich eine grundlegende Begrenzung, eine Problematik, welche sich auf unsere Handlungen im Allgemeinen, auf unser Leben überhaupt erstreckt, nämlich dass es unserem Denken, unserer Sprache, nicht gelingen will der Wirklichkeit in der wir leben und gedeihen müssen, gerecht zu werden, wenn nur, weil alle Menschen von einander verschieden sind, ein jeder von uns von dem nächsten, die Worte aber nach einem einzigen unabänderlichem Sinn streben." "Ich wähne in meinem Denken eine große Dialektik, oder sollte es sein, eine tiefe Kluft zu erblicken, nämlich einerseits zwischen dem Einzelnen, Individuellen und Persönlichen, dem Subjektiven auf welches unsere Religion, - oder sollte ich schreiben, mein Seelenerlebnis, mich immer wieder hinweist oder steuert, und andererseits, dem gesellschaftlichen, objektiven Zusammensein, dem Zusammenleben dem ich entsprungen bin, das ich für mein Fortleben bedarf, und das mir die so angebetete innerliche inwendige Existenz überhaupt erst ermöglicht. So scheint es mir demgemäß nicht nur passend, sondern sogar notwendig, die Öffentlichkeit der ich so geflissentlich entflohen bin, oder sollte ich schreiben, vor der ich mich so sorgfältig versteckt habe, mit eben demselben Eifer mit dem ich die Theologie als die wahre Psychologie erforsche, nun auch die Soziologie, oder sollte es heißen die Staatswissenschaft, als die geistige Kosmologie, oder als Geisteskosmologie zu untersuchen." "Schon finde ich es bezeichnend, dass wir hier alle vierzehn, darf ich vergleichen wie die Zeilen eines Sonnets, um diesen langen Tisch gefügt sind, besonders wo wir als einzelne so anders sind und waren, und nun durch dies Zusammensein, durch das Geheimnis der Assimilation einander ähnlich verwandelt werden. Und auch, darf ich es fragen, ist es nicht erstaunlich, ist es nicht wunderbar, dass ein Hurenhaus, wie die Aletheia es unverkennbar ist, sich in diese heilgen Hallen, in einen Weisheitstempel verwandeln konnte, und dass wir von unseren Schicksalen als Einzelne gelöst, in Bestimmungen als Vertreter, als Abgeordnete, nein nicht des Volkes, sondern des Geistes, hier zu erscheinen vermögen?" "Ein jeder von uns hat hier die Gelegenheit sich zu erklären, vielleicht sich zu entschuldigen, zu beichten, und uns, und damit auch sich selber, zu zeigen wer er wirklich ist. Und dies soll unser Wahlspruch sein: Das alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden." Da erhob sich eine andere Stimme: "So will auch ich erneuten Anfang machen." Es war Herr Jeremias Zehplus der es sagte, "Ich hab meine magischen Geräte missbraucht um Wahrheit zu verdecken, manches Mal unbewusst, aber allzuoft absichtlich. Das möchte ich nun korrigieren." "Das finde ich," sagte Jonathan Mengs, "und es soll ohne Herablassung gesagt sein, aufrichtig und verantwortungsvoll von ihnen, aber es scheint mir wünschenswert auf verschiedene Umstände hinzuweisen. Erstens, dass ihr Rechner, wie ich das englische Wort Computer übersetze, weder die Wahrheit noch die Unwahrheit kund gibt, aber geeignet ist auf soetwas wie Wahrheit hinzuweisen oder es zu verdecken. Und indem ich dies sage, fällt mir auf, wie schwierig, wie problematisch, die Beziehung des Einzelnen, so wie auch die Beziehung der Herde, zu jeglicher Wahrheit ist. Den Rechner betrachte ich vergleichbar mit einem Instrument mit dem ich wie mit einem Fernrohr in die Himmel blicke, wo mir jedoch bei hellem Tag die Sterne vom Glanz der Sonne verdeckt bleiben und sichtbar werden nur bei Nacht, oder vergleichbar mit einem Mikroskop dessen ich mich bediene indem ich das beliebige Gewebe in dünnster Schicht mit starker Beleuchtung in maßgeblicher kritischer Entfernung betrachte, so dass sich wie von selbst die Frage ergibt, ob nicht schon die Umstände welche das Instrument brauchbar machen, die Umstände also welche das Instrument hervorruft oder erfordert, die Maße, die Dimensionen, die Parameter der Wahrheit verändern, verwandeln oder überhaupt erst schaffen. Diese Erwägungen weisen darauf hin, dass es jeweils nötig ist, im unmittelbar gegebenen Umstand zu erwägen, nicht eigentlich was die Wahrheit ist, sondern wie, mit welchen Mitteln, mit welchen Methoden, mit welchen Instrumenten, man versuchen sollte sie festzustellen." "Um den Blick, um die Gedanken auf das was vor uns liegt, auf das was uns eigentlich beschäftigt zurück zu steuern, schlage ich vor, dass wir den Menschen als Tier betrachten, und das Betragen der Menschengruppe oder der Menschenmasse, die Verhaltensweise unserer Gesellschaften als die einer Herde, als Ausdruck eines dreifachen Triebes: a) sich anzupassen, sich ununterscheidbar von anderen Menschen zu machen; b) sich in die Herde zu fügen, mit dem innigen Wunsch sich führen, sich leiten zu lassen, um sich in dieser Weise als Mitglied und als Gefolgsmann in die Herde eingebunden zu fühlen; c) sich hervorzutun, die eigene Individualität als Vorbild zu behaupten, und somit als Führer der Herde aufzutreten. Diese herdischen Eigenschaften auch nur zu erwähnen, deutet auf unumgängliche Spannungen in der Gesellschaft. Denn wir Menschen stehen scheinbar vor der Wahl: Einzelne oder Herdenmitglieder. Wir müssen aber beides sein. Ein jeder von uns will führen und geführt werden, sehnt sich zugleich einzeln zu sein und gemeinsam. Diese widersprüchlichen und scheinbar unvereinbaren Bedürfnisse mit einander zu vergleichen, ist die Aufgabe der Regierung. Es ist kein Wunder, dass sie zuweilen versagt." "Versuchen wir nun einmal in die Geschichte, nein, in die Welt der Mythen zurückzublicken. Was vermögen wir aus dem Rückblick zu schließen? Der Führer, der Leiter, der König, der Kaiser des Herdenvolkes war der Held, dessen Stärke es ihm ermöglichte seine Mitbewerber, seine Konkurrenten im Kampf zu überwinden. Später wurde die Macht erblich, und so gelang es dem König seine Macht seinen Nachkommen zu übertragen. Die Gewalt blieb in der Familie. In diesem Zusammenhang ist die Geschichte der griechischen Titanen einschlägig. Denn die Titanenväter fürchteten von ihren Söhnen verdrängt zu werden, und deshalb verschlangen sie diese bei der Geburt!" "Die Herrscher erhalten ihre Macht indem sie ihre Untertanen einschüchtern und ängstigen. Terrorisieren ist heute das Modewort. Doch um sie zu beherrschen, bedürfen die Herrscher ihre Untertanen. Zuweilen stellen sich die Herrscher ihren Untertanen als väterliche Beschützer vor. Es mag wegen eines allgemein steigenden Niveaus der Bildung sein, der Fähigkeit zu lesen, zu schreiben, und sich anderweitig mitzuteilen, oder wegen zunehmender Wirksamkeit anderer Kommunikationsmittel, des Radios, des Fernsehens, des Rechners und des Internets, oder auf Grund anderer kultureller Einflüsse, dass heutzutage etwa drei viertel der Erdenbevölkerung in sogenannten Demokratien leben, während das restliche Viertel tyrannischen Regierungen unterworfen ist." "Wir müssen überlegen was unter Demokratie zu verstehen ist. Es heißt, Regierung vom Volk; aber wie vermag das Volk zu regieren, wie vermag das Volk überhaupt nur zu wissen was es will? Was heißt der Wille eine Volkes, und wie bestimmt man ihn? Sobald diese Fragen aufgeworfen werden, wird es klar, dass Demokratie ein Wort ist, das auf unscheinbare gesellschaftliche Verwicklungen hinweist welche wohl von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit verschieden sein möchten, deren Bezugnahme jedoch für die Bearbeitung des Regierungsproblems unerlässlich ist. In jeder Demokratie sind Besprechungen und Diskussionen über Regierungsfragen unter der Bevölkerung weit verbreitet. Es herrscht die Meinung dass infolge dieses regen Mitteilungshaushalts der 'Wille des Volkes', wenn man, und wie immer man, sich so etwas vorzustellen vermag, in die Gesetzesverabschiedung und Ausführung einverleibt werden, und dass diese den willentlichen Entscheidungen des Volkes entsprechen." "Wenn ich jetzt wiederum betone, dass sprachliche Fassungen weder das Erleben einzelner Menschen noch das kollektive Erleben der Gruppen, beziehungsweise Herden in welche sie sich zusammenfügen, auszuschöpfen in der Lage sind, so gilt es doch darauf hinzuweisen, dass diese sprachlichen Fassungen in hohen Maßen beide, das individuelle und das gemeinschaftliche Erleben bestimmen. Aus diesen Tatsachen ergibt sich sofort die wesentliche Anfälligkeit der Demokratie für Missverständnisse und Täuschungen mit möglicherweise sehr zerstörerischen Folgen, zugleich aber auch das Vermögen der Demokratie sich in konstruktiver Weise sprachlich beeinflussen und verbessern zu lassen." "Die vorbildliche konstruktive Gesellschaftsverwaltung welche wir anstreben, ließe sich auf zweierlei Wegen vorschlagen. Erstens mittels der Erziehung und Ausbildung der Bevölkerung zu günstigem Denken und Handeln, nennen wir es zum Tugendhaften, und zweitens mittels der Ernennung, Berufung von verlässlichen berufsmäßigen Regierungssachverständigen welche die Verwaltung des Staates übernehmen würden." "Das sind löbliche Vorschläge", sagte ein anderer. "Nun aber gilt es in weiteren Vorschlägen zu entwickeln, wie man diese wünschenswerten Vorhaben verwirklichen möchte. Ich erinnere den amerikanischen Ausdruck, 'to pull oneself up by ones bootstraps.' Das ist eine physikalische Unmöglichkeit." "Ich meine," antwortete Jonathan Mengs, "wir müssen den Anfang machen, indem wir uns über unsere gegenwärtige Verortung orientieren, wie Wanderer die sich in dichtem Wald oder auf offener Heide verlaufen haben, nicht nur eines Kompasses, sondern auch eine Bestimmung ihres gegenwärtigen Standorts bedürfen um sich aus der Irre in welche sie geraten sind, auf ihren rechten Weg zurück zu finden, wenn es einen solchen überhaupt gibt." "Um einen vernünftigen Ausgangspunkt zu ermitteln sollten wir die dichterische Phantasie ausschließen und uns auf das Unmittelbare besinnen, nämlich wie geisterhaft nicht diese Versammlung entstanden ist, insofern wir nicht einmal wissen von wem und warum wir alle berufen wurden. Vor allem müssen wir erkennen, in welchem Maße unsere Regierung erlogen ist, dass wir uns unter keiner Regierung befinden, dass ein jedes Mitglied unserer Gesellschaft also in Wirklichkeit vogelfrei ist." "Dieser Feststellung, entschuldigen Sie mich bitte, vermag ich nicht beizupflichten." Es war wieder Jeremias Zehplus, der Einspruch erhob. "Ich wünsche nicht im eigenen, aber im Interesse meiner Rechner, dass wir, dass unsere Gesellschaft, dass unser Land, von AI, von künstlicher Intelligenz regiert werden sollte. Ich gebe zu, auch künstliche Intelligenz möchte nicht vollkommen einwandfrei ist, behaupte aber dennoch die Kosten wären wesentlich geringer, denn es entfielen die Schmiergelder welche die abwesenden Minister beziehen, um ihre Enthaltsamkeit zu vergüten. Auch sind die Kosten der Rechneranlage um manches geringer als die Bezahlungen mit denen ordentliche, wirksame, verantwortungsvolle Volksvertreter besoldet würden." "Sie haben recht, Herr Zehplus. Richten Sie bitten ihren Rechnern meine Entschuldigung für unsere hiermit zurückgezogene Verunglimpfung aus. Mit ihrem Einspruch aber haben sie uns einen Ausgangspunkt für unsere Erwägungen beschert. Das Inventar ihrer Rechner sollten wir untersuchen, bedenken, und wenn möglich verbessern. Wo sollen wir anfangen?" So sprach Jonathan Mengs. "Meine Rechnerprogramme," erklärte Jeremias Zehplus, "sind aus verschiedensten Kategorienschichten zusammengestellt. Grundlegend, und wahrscheinlich für uns alle am wesentlichsten, sind die Wahleinstellungen. Die Programmierung der Wahlmaschinen ist nämlich so eingerichtet, dass grundsätzlich die Personalien der einzelnen Wähler zusammen mit ihren Entscheidungen gespeichert werden. Hinzu kommt, dass Rechnerprogramme die Abstimmungen der einzelnen Wähler systematisch abändern, mit dem Ergebnis, dass bevorzugte Kandidaten grundsätzlich mit unbestreitbaren Mehrheiten gewählt werden. Ich möchte ihnen vorschlagen, Frau Graupe-Magus, dass auch Sie sich dieser besonderen Einrichtung des Rechnersystems bedienen." "Und wer entscheidet, wer bestimmt die erfolgreichen, oder sollte es heißen, die bevorzugten Kandidaten?" fragte Charlotte. "Ja," antwortete Zehplus, "das weiß auch ich nicht, das kann ich ihnen nicht sagen. Ich weiß nur dass jahrelang für jede Wahl ein Bündel Stimmzettel unter die Tür meines Arbeitszimmers, also der Rechnerabteilung, geschoben wurde, manchmal auch in mein Postfach gelegt, auf denen die Namen der erwünschten Sieger abgehakt waren. Wer die Entscheidungen traf, und wer überhaupt für das ganze System verantwortlich war, wüsste ich nicht zu sagen. Das Reichsregierungskabinett hatte mir befohlen diese Anweisungen in ein besonders eingerichtetes Programm einzuspeisen. Es war dann das Programm das entschied, wie viele Stimmen abgeändert werden mussten, und wie dies in der möglichst unauffälligsten Weise zu bewerkstelligen; so dass keiner auf den Gedanken kommen könnte, dass die berichteten Wahlergebnisse nicht den Absichten der Wähler entsprächen." "Sie sprechen von vormals. Ist es denn jetzt nicht mehr so? Ist es jetzt anders?" fragte Charlotte. "Ach, ja, alles war zuletzt verändert, bis schließlich die Regierung sich auflöste." "Das müssen sie uns erzählen." "Die Wahleichungen wie wir sie nannten, waren so zufriedenstellend, dass das Reichsregierungskabinett sich entschied die erfolgreichen Methoden, auf andere, tatsächlich auf alle denkbar digitalisierbaren Bereiche des gesellschaftlichen, öffentlichen Lebens auszudehnen. Die Regierung gab vor, allgemeine Daten, wie etwa Temperaturen und Niederschlagsmengen so zu berichten, wie sie aus politischen Gründen am günstigsten schienen. Gleichfalls Wirtschaftsdaten, wie Preise von Lebensmitteln, Benzin, Heizöl, Gas, die Löhne in den verschiedenen Gewerben, Zahlen von Beschäftigten und Arbeitslosen, sie alle, es versteht sich nun von selbst, wurden im Einklang mit der raffiniertesten mathematischen Technik geeicht, justiert, 'adjusted', berichtigt oder gefälscht, wie immer man es erklären, entschuldigen, loben oder bezichtigen will. Und eine Zeitlang schien auch alles gut zu gehen, vielleicht zu gut, weil nunmehr die Regierung überflüssig schien. Beamte jeglichen Ranges wurden entlassen, Arbeitzimmer wurden entleert, Schreibtische und Kartotheken, Aktenschränke, Bücherregale wurden verschrottet und mit aufwendigen Rechnern ersetzt. Mittlerweile fanden auch die Reichskabinettsmitglieder sich überflüssig und befürworteten die Auflösung des Kabinetts, vorausgesetzt dass ihre Tantiemen nicht gestrichen würden. Schließlich wusste keiner mehr was vor sich ging. Das Einfachste war sich auf die Aussagen der Rechner zu verlassen, und die Rechner waren eingestellt auch unter den katastrophalsten Umständen zu versichern dass alles in Ordnung sei." "So etwa war die Lage der Dinge, liebe Frau Graupe-Magus, als Sie auf der Bildfläche erschienen und vom Justizminister Adams als Oberprokuristin vorgeschlagen wurden." "So einfach aber war es schließlich doch nicht, denn um diesen Vorschlag zu verwirklichen, bedurfte es einer formellen Ernennung durch das Präsidium des Reichsregierungskabinetts," ergänzte Charlotte. "Weil weder Vorsitzende noch Vorsitzender des Kabinetts zu finden waren blieb diese Ernennung aus; auch kein einzelnes der Kabinettsmitglieder war verfügbar, weil wohl infolge der durchgängigen Digitalisierung die Pflichten des Kabinetts automatisch elektronisch abgewickelt wurden. Da aber die Oberprokuristin von der Kabinettsvorsitzenden ernannt werden musste, und diese nicht auffindbar war, musste ich, es blieb mir nichts anderes übrig, um mein Amt als Oberprokuristin anzutreten vorerst eine Kabinettsvorsitzende ernennen, und da ich in dieser Hinsicht freie Wahl hatte, schien es das unbeschwerlichste, mich selber als solche zu bestimmen." "Auch möchte ich bei dieser Gelegenheit hinzufügen, dass Ihr alle die ihr euch an diesem festlich gedeckten Tisch und um ihn herum befindet, euch als zu Reichsregierungsratsmitgliedern ernannt betrachten möchtet, unter der Bedingung, dass ein jeder sich in unseren Abstimmungen grundsätzlich meinen Vorschlägen fügen und seine Stimme in entsprechendem Sinne ablegen wird." "Gesellschaftliche Beziehungen," sagte jetzt Karl Folterer, "sind dermaßen verwickelt und verflochten, dass ich nicht weiß ob der Versuch sie begrifflich zu entwirren überhaupt Sinn hat. Möglicherweise würden unsere Verhältnisse zu einander durch einen solchen Versuch statt entwirrt, umso fester verknotet. Jeder Mensch ist nicht nur ein getrennter Körper, sondern auch ein getrennter Geist, auf sich selbst gerichtet und zugleich an eine andere Wirklichkeit außerhalb, an die Gesellschaft und an die Überlieferung gebunden." "Wir mögen über die Verbesserung unserer Regierung so lange und so ausführlich debattieren wie wir wollen, um aber der Problematik der wir uns gegenüber befinden nachzukommen müssen wir sie zuerst erkennen." "Über diesen Punkt bin ich mir nicht ganz sicher," sagte Mengs, "man möchte auch behaupten, dass keine Beschreibung einer Wirklichkeit gerecht zu werden vermag, dass es eigentlich erst die Anmaßung einer Wirklichkeit gerecht werden zu können ist, die eine Wirklichkeit die anderweitig ausbliebe, erschafft, eben aus dem Grunde, dass nicht nur einzelne Menschen, sondern auch Gesellschaften sich an die Umstände in welchen sie sich befinden, unauffällig und unbewusst assimilieren." "Die Digitalisierung unserer Regierung hat, so wie ich es verstehe, uns alle auf einen besonderen Punkt gebracht, den ich nicht zulänglich zu bezeichnen vermag. Als einen 'toten Punkt' möchte ich ihn nicht bezeichnen, gewiss aber müssen wir einen neuen Anfang auf freiem Feld wagen, ohne irgendwelche Vorbestimmungen." "Wie meinen Sie das? Wie sollen wir das auslegen?" "Wenn ich es recht verstehe, sind alle Regeln und Gesetze in die Rechner eingetragen, und können mit einem kurzen schnellen Tastenschlag gelöscht werden." "Und dann?" "Ja dann befänden wir uns auf einer Tabula Rasa, und vermöchen einzutragen, was immer uns sinnvoll, wünschenswert oder notwendig erscheint." Die Stille welche auf diese Ausführungen von Jeremias Zehplus folgte wurde schließlich von Maximilian Katenus unterbrochen. Der war von seinem Sitzplatz am länglichen Tisch aufgestanden und blickte über die ovale Runde als habe er sie zusammengerufen, als sei er ihr Vorsitzender, und begann in gesetzter ruhiger Weise seine Tischgenossen anzusprechen: "Wir müssen mit dem neuzeitlichen Denken auf dem Laufenden bleiben," sagte er, "Vergesellschaftung ist das Stichwort, - oder wäre es das Schlüsselwort zu einer Geistesrichtung die Jahre lang auf die Verinnerlichung - auf den Glauben - gepocht hat. Nun aber ist's vorbei. Nicht 'ich glaube' sondern 'wir glauben' ist die Losung unserer Zeit. Es handelt sich um unsere Religion, oder um unsere Religionen; denn alle Mitteilung zwischen uns die nicht rein äußerlich, ist Religion." "Die Religion - alle Religion ist Vergesellschaftung der Seelen - und unsere neuzeitlichen Religionen heißen Wissenschaften, Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften, an ihrer Spitze die theoretische Physik, nein, weiter bedacht, die Mathematik am Ruder der theoretischen Physik ist der Heilige Geist unserer Religionenhierarchien. Die Mathematik ist es die letztlich den großen unwiderrufbaren Anspruch auf unsere Subjektivität, genauer, auf die Subjektivität des Einzelnen, auf sein Innerstes macht. Die Mathematik ist der Gipfel unserer geistig-seelischen Vergesellschaftung. Die Mathematik ist es die unsere Seelen unverbrüchlich verbindet und somit die Heiligkeit des gemeinsamen Wissens gewährleistet. Unser Valhalla finden wir in den Universitäten, Harvard, Göttingen, Heidelberg oder wie immer sie heißen mögen, oder erhabener noch, im Institute for Advanced Study in Princeton. Nicht der Papst, nicht Jesus Christus, nicht Heilige oder Kirchenväter sind unsere Propheten, sondern die berühmten Wissenschaftler. Albert Einstein ist der Prophet, der Moses dem wir in das Gelobte Land der Wasserstoffbomben gefolgt sind." "Wie können Sie das sagen?" fragte jemand. Es war die Stimme des Richter Adams. "Weil dem so ist," sagte Katenus. "Es geht nicht darum, wie ich es sagen kann, sondern warum ich es sagen muss." "Und also weshalb müssen Sie es sagen?" drängte der Richter. "Es ist mein Schicksal," sagte Katenus. "Ich muss meine Gedanken aussprechen, so wie ich ausatmen muss." "Da könnte ich ihnen eine gröbere Metapher vorschlagen." "Ich weiß, ich weiß," sagte Katenus, "und ich danke Ihnen für ihre höfliche Zurückhaltung." "Aber ihre Ausführungen ziehen weitere, und beträchtliche Folgen nach sich." "Und die wären?" fragte Katenus. "Unsere Gesellschaft, und ich glaube das gilt für die Gesellschaft überhaupt, erträgt nur ein beschränktes Maß von Dissonanz, von Meinungsverschiedenheiten," sagte Richter Adams. "Das sollten Sie mir bitte erklären." "Den Streit zwischen den verschiedenen politischen Parteien zum Beispiel, den hält man für durchaus verständlich, und die Spiele der Sportler denen es um nichts geht als den Ball ins Tor des Gegners zu treten oder ihn durch dessen Korb zu werfen. Das sind unbeträchtliche gesellschaftliche Gegensätze." "Ja was wären denn dann die beträchtlichen Unterschiede," fragte Katenus, "welche die Ausschließung aus der Gesellschaft verursachen oder rechtfertigen?" "Verbrechen und Wahnsinn, nennt man sie," sagte Adams, "aber indem ich diese Worte überhaupt nur erwähne, möchte ich darauf hinweisen wie willkürlich, ja, und auch wie veränderlich der Gebrauch dieser Worte ist. Was die sogenannten Verbrechen anbelangt, so werden diese bekanntlich schriftlich in Gesetzen festgelegt, mit dem Ergebnis, dass sich hernach die Anwälte darüber streiten, und die Richter sich die Köpfe zerbrechen, genau was es denn sein möchte, was vom gegebenen Paragraphen des Gesetzes verlangt oder verboten wird, mit dem Ergebnis, dass den Geschworenen die Pflicht auferlegt wird, das Unbegreifbare das geschehen ist, dennoch zu begreifen. Und sehen Sie, dies ist ihr großer Fehler, dass es ihnen entgeht zu erkennen, es ist die grundlegende Bürgerpflicht, die unauflöslichen Widerprüche als löslich oder als nicht bestehend zu verleugnen," so etwa der Richter. "Und, finden sie nicht," fragte Katenus in vorsichtig langsam ausgesprochenen Worten, "dass die Anerkennung dieser Bürgerpflicht, die Legitimierung eines Widerspruch, der Ausweis des Wahnsinns ist?" "Da muss ich ihnen recht geben," gestand Adams. Da vermag ich ihnen nicht zu widersprechen." "Ja, wissen Sie," sagte ein anderer von unten am Tische, "ich folge Ihren Ausführungen, die genügen aber dennoch nicht die Brutaltät, die Grausamkeit der Verfolgungen von anders denkenden und anders fühlenden Menschen zu erklären." "Da sind Sie völlig im Recht, und es ist, so scheint mir, ein weiteres Motif im Spiel." "Und das wäre?" "Das wäre die Neigung, fast möchte ich sagen, der Seelenzwang zu opfern." "Zu opfern sagen Sie? Bitte erklären Sie sich eindeutiger." "Ach, ich bin kein Anthropologe, aber ich meine dass in Urzeiten die Menschen ihre Mitmenschen töteten um sie ihren Göttern als Opfer zu bereiten. Später wurden dann die Menschenopfer mit Tieropfern ersetzt, und so etwa bis auf den heutigen Tag." "Ich weiß es nicht," fuhr Jonathan Mengs fort. "Das Vergesellschaften ist ein verwickelter Vorgang. Es handelt sich nicht nur um die Zusammenfassung einer Anzahl einzelner Menschen in eine Gruppe, in eine Gesellschaft, in ein Volk, wie das Zusammenfügen einzelner Tiere in eine Herde oder in einen Schwarm. Es entstehen auch Abgrenzungen und Zusammenfügungen der Gruppen mit und gegeneinander. Ich betrachte als eine schicksalhafte menschliche Eigenschaft den Hang, die Neigung aller tierischen Gesellschaften die Nonkonformisten, die Nichtübereinstimmenden, die sich nicht Einfügenden, die sich nicht Anpassenden, als Fremde, als Feinde zu verfolgen um sie zu zerstören. Ich erinnere mich an einen Besuch nach Cape Saint Mary auf Newfoundland. Da, an der südöstlichen Spitze der ungefähr drei-eckigen Insel, ragt ein Felsen eng besetzt von einer Kolonie zahlreicher Seevögel alle der gleichen Art. Ich erinnere die Leiche eines nicht zu ihnen gehörigen Vogels, ein Fremdling anderen Geblüts, den sie zu Tode gehackt hatten, ganz wie die Menschen. Ich weiß nicht ob oder wie es uns gelingen möchte, dieses Schicksal von uns und unserer Gesellschaft abzuwenden." "Ich denke, allenfalls nicht durch den Entschluss des Willens eines Einzelnen von uns. Noch weniger durch den Entschluss der Gruppe. Denn ich glaube nicht, dass auch nur ein Einziger von uns es vermag, seinen Willen hierhin oder dorthin zu bestimmen, weniger noch vermag es die Gruppe. Ein jeder von uns als Einzelner, und so auch die Gruppe, bringt mit ihrer Handlung zum Ausdruck nicht was sie will sondern was sie ist." "Da stimme ich zu. Ich aber würde behaupten, dass das Sein des Einzelnen und auch der Gruppe bestimmt und verändert wird von allem was sie wissen. Und was wir als Gruppe sind, meine ich, wird wesentlich beeinflusst von dem was hier besprochen wird." "Da stimme ich überein. Das glaube ich auch." "Ich habe in den verstrichenen Monaten," begann Katenus, der jetzt den Gedankenfaden übernahm, "nein, wenn ich zurück denke, sollte ich vielleicht sagen, in den vergangenen Jahren, wenn nicht gar im Verlauf fast meines ganzen Lebens, versucht zu lernen. Ich wollte wissen, ich wollte alles wissen. Fragt ihr mich warum, so muss ich bekennen, dass ich selbst es nicht weiß. Ich hab mich oft erinnert, dass allenfalls historisch, der Anspruch, das Verlangen, der Wunsch, das Bedürfnis zu wissen, große Problematik hervorgerufen hat, und dies schon ganz am Anfang, als Eva sich von der Schlange verführen ließ ihrem Adam den Apfel der Erkenntnis anzubieten. Zwar ging es nicht um was wir heute als wissenschaftliche Erkenntnis bezeichnen würden. Es handelte sich damals im Paradiesesgarten um das Wissen von Gut und Böse. Aber wenn ich Kriterien des Wahren und Unwahren, von Wahrheit und Täuschung, von Verständnis und Missverständnis einbeziehe, dann scheint mir, dass das Wahre sich vom Guten und das Unwahre sich vom Schlechten nicht trennen lassen. Jedenfalls begann mein Leben mit Neugier und Wissbegierde, die mit dem Auseinandernehmen und Reparieren der verschiedensten Geräte und Maschinen zum Ausdruck kamen; und mit dem Lesen von Büchern, von allen Büchern die mir auf dem Lande wo ich aufwuchs zur Verfügung standen. Hernach kam erst die Schule, und dann, um vieles ergiebiger, das Studium wo ich mir die Eröffnung einer Welt des Wissens versprach. Ich habe gelernt mich selber zu lehren und bin dann fortgefahren mich als mein eigener Lehrer fortzubilden. Bis heute. Und heute ist es die allgemein anerkannte Wissenschaft die ich analysieren möchte und sie sozusagen auseinander nehmen, um sie zu begreifen, wie einst die Radioapparate und die Ventilatoren. Aber ich muss bezweifeln, dass mir ein so großspuriges Unternehmen gelingen wird. Ich mache mich schon jetzt lächerlich. Findet ihr das nicht auch?" "Schließlich, wo ich alt bin und müde, erkenne ich in welchem Maße die Schule mir zum Schicksal wurde. Wir alle, ein jeder von uns, führt ein doppeltes Leben, als Einzelner und als Gruppen-, oder sollte ich schreiben, als Herdenmitglied. Die Schule, und besonders das Universitätsstudium erscheinen mir heute vornehmlich als Instrumente der Vergesellschaftung. Das von der Schule mitgeteilte und begutachtete Wissen ist wesentliches Zement welches die Gesellschaft zusammenhält und wirksam macht. So war mein Begehren der Erste in der Schule zu sein, Ausdruck meines Bedürfnisses nach einer besonderen Beziehung zur Gesellschaft. Dieser Wunsch, dieses Verlangen wurde mir versagt. Vielleicht ist es ein Unmut der aus diesem Versagen quillt der meinen Zweifel nicht nur am Schulwissen, sondern an allem Wissen nährt. Vielleicht ist der Zweifel aber auch ein unentbehrlicher Schritt der Entidealisierung auf einem Weg der Suche nach Wirklichkeit." "Die Gesetze der klassischen Mechanik haben die besondere Eigenschaft, in jedem Inertialsystem gleichermaßen zu gelten. So verstehe ich das Relativitätsprinzip. Ein Inertialsystem ist ein Bezugssystem, in dem sich jeder kräftefreie Körper geradlinig gleichförmig bewegt oder im Zustand der Ruhe verharrt. Die fehlerhaften Galileitransformationen sollen mit gültigen Lorentztransformationen ersetzt werden. Man bemerkte aber dass die zugegebene Fehlerhaftigkeit der Galileitransformationen die behauptete Gültigkeit der Lorentztransformationen keineswegs gewährleistet, sondern im Gegenteil, infrage stellt und verhältnismäßig unwahrscheinlich macht. Der bürokratische Staat als gesellschaftliches Gefüge wurde von der Digitalisierung verwandelt, und erwies sich als so unvereinbar mit ihr, dass sie ihn auflöste." "Wer die Wahrheit sagt wird verfolgt, denn die Gesellschaft, jede Gesellschaft verlangt Einmütigkeit welche nur die Lüge ermöglicht. Deshalb ist die Gesellschaft auf Lüge angewiesen. Sie vermag ohne und außer der Lüge nicht zu bestehen." "Das würde ich anders ausdrücken. Ich würde sagen, die Wahrheit ist ein Instrument der Gesellschaft. Die Gesellschaft bestimmt die Kriterien der Wahrheit. Die Wirklichkeit kann nur vom Einzelnen bestimmt werden. Die Wirklichkeit ist die Wahrheit des Einzelnen." "Warum und wieso besteht Gesellschaft in der Lüge?" "Weil sie durch Sprache verbunden ist." "Wie kannst du das sagen?" "Die Frage ist verfehlt. Die richtige Frage wäre: Warum musst du das sagen?" KK 15. Kapitel KK In Ordnung >> Mathematische Physik und Regierung - 10973 << Da ertönte eine Stimme. "Ich bin mathematischer Physiker." sagte sie. "Wir brauchen eine Quantenlogik nicht nur um unsere Gesellschaft zu verstehen sondern um unsere Gesellschaft zu begründen und zu erhalten." "Das verstehe ich nicht. Wieso denn das?" "Die Quantenmechanik ist ein Schema das unser herkömmliches Verständnis welches in der sogenannten klassischen Mechanik zum Ausdruck kommt berichtigt. Ich meine, dass das herkömmliche Verständnis der Wahrheit einer entsprechenden Korrektur bedarf." "Also, Metawahrheit oder Lüge per Quantenlogik, Metawahrheit oder Lüge per künstliche Intelligenz, Metawahrheit oder Lüge per Quantenrechnen, Quantencomputing. Die Quantenlogik verschränkt Wahres und Unwahres, Wahrheit und Lüge, und macht demgemäß Wahrheit und Lüge ununterscheidbar. Die Quantenlogik berechnet Wahrscheinlichkeiten und vermittelt verschränkte Wahrheit wie Schein der als Wirklichkeit auftritt. Durch Quantenüberlagerung erscheint das EPR Paradox in neuer Form. Nicht Modelle der Teilchenphysik oder Kosmologie werden die Probleme der Gesellschaft und der Regierung lösen. Aber die Quantenlogik, die Quantenlüge gewiss. Es lebe die Unverfrorenheit!" "Die Quantenmechnik behauptet grundsätzliche Überlagerungszustände wo ein Gegenstand gleichzeitig zwei oder mehr Stellungen oder Verhaltensweisen einnimmt, sogenannte Superpositionen bei denen die Örtlichkeit eines 'delokalisierten' Dinges unbestimmbar wird. Beschleunigt man Teilchen wie etwa Ionen, Protonen, Elektronen, Atome oder kleine Moleküle einem Doppelspalt entgegen, so erscheinen Interferenzmuster von welchen man nicht nur auf Materienwellen sondern auch auf quantenmechanische Überlagerungen schließt." "Quantenmechanik die im Hinblick auf kleinstdenkbare Gebilde erfunden wurde, verfügt über einen beträchtlichen Lockruf zu dem Versuch sich ihrer Ungereimheiten wie etwa Superpositionen und Verlagerungen zu bedienen um Erscheinungen in normoskopischen und makroskopischen Erfahrensbereichen, in Gebieten so maßlos wie die der Kosmologie, zu erklären. Das bekannte Märchen von Schrödingers Katze ist ein treffendes Beispiel. Diese Versuche versagen, ohne dass man aus ihrer Hinfälligkeit die gehörigen Schlüsse zu ziehen lernte, nämlich, die Quantentheorie als eine elegante und raffinierte Gedankenspielerei zu verstehen deren scheinbare Gültigkeit darauf beruht, dass die Gegenstände die sie zu ordnen beansprucht, der unmittelbaren Beobachtung, der unmittelbaren Erfahrung, dem unmittelbaren Erleben nicht zugänglich sind." Um die vermeintliche Gültigkeit der Quantenmechaniik in den ihr zugestandenen Bereichen der Teilchenphysik zu gewährleisten und zu schützen, behauptet man eine besondere Empfindlichkeit quantenmechnischer Wirkungen entdeckt zu haben. Man beschreibt quantenmechanische Effekte als sehr zerbrechlich, und meint ihre makroskopische Abwesenheit mit feindseligen zerstörerischen Einflüssen ihrer Umgebung zu erklären und zu entschuldigen. Welche Bedeutung die Quantenmechanik in der Teilchenphysik auch haben mag, ihre erbarmungswürdige Zartheit verbietet ihr jegliche Beteiligung an der Politik." "Und was hat es mit den Relativitätstheorien an sich? Sollten auch diese für die Neugründung unseres Staates nicht einschlägig sein?" "Das ist eine sehr große Frage, an deren Schwelle wir bestimmen müssen, was es sein möchte, das wir uns unter Relativität vorstellen. Bedeutet nicht Relativität dasselbe wie Verhältnismäßigkeit? Was wäre als verhältnismäßig zu beurteilen?" "Die spezielle Relativitätstheorie will voraussetzen, dass es Naturgesetze gibt die in allen Intertialsystemen Bezugsrahmen, Bezugssystemen, Referenzrahmen die gleichen sind, und dass es letzten Endes nur die Bezugsrahmen sind die es unterlassen mit einander übereinzustimmen." "Die spezielle Relativitätstheorie (SRT) beschreibt die räumliche und zeitliche Bewegung. Das galileische Relativitätsprinzip wird durch sie ersetzt. Das speziellen Relativitätsprinzip behauptet dass alle Gesetze der Physik in allen Inertialsystemen einander gleich sind, einbeschlossen der Gesetze des Elektromagnetismus. Die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum ist überall und zu allen Zeiten dieselbe." "Das Relativitätsprinzip lehrt, Raum und Zeit, Entfernung und Dauer, ensprechender Geschwindigkeit des Betrachters. Unabhängig von dem der sie erlebt, haben Zeit und Raum keinen Bestand. So erkläre ich mir die Dilatation der Zeit und die Lorenzkontraktion des Raumes. Sie sind die Bedingung der Äquivalenz von Masse und Energie." "Ich zögere," sagte Jeremias Zehplus, den diese Ausführungen beunruhigt hatten, "dem Herrn, ich will ihn Witzig, N.S. Witzig nennen, ich zögere dem Herrn Witzig, der mit so tiefer Leidenschaft deklamiert, zu widersprechen. Denn meinerseits spüre ich einen Mangel, einen beträchtlichen Mangel an Leidenschaft. Die Rechnertechnologie in die ich verstrickt bin, weiß nichts von Gefühl, kennt keine Leidenschaft, kennt weder schönes noch hässliches, weiß auch nichts von wahr und falsch, weiß nur ob eine regelmäßige kanonische Datenausgabe vorliegt oder nicht." KK Kapitel 15.1 KK >> Cujus regio, ejus veritas - 11030 << In Ordnung "Gewiss seid ihr alle mit der Redensart 'Cujus regio, ejus religio' vertraut. Ich möchte dieser Gesinnung ein Echo zufügen, Cujus beneficium, ejus veritas.' 'Die Wahrheit die ich erkenne ist die Wahrheit dessen der mich bezahlt.' Es war also nicht unbedingt aus Gerechtigkeitssinn oder Menschenliebe dass ich vor einigen Tagen, vielleicht erst vorgestern, Frau Graupe-Magus versprach die Verfolgungskartei in unserm Rechner betreffs den Herrn Maximilian Katenus und seine Haushälterin Elly Solmsen gegen andere Personalien auszuwechseln. Ich gab dies Versprechen weil ich Frau Graupe-Magus als Regierungsleiterin anerkannte, und dem gemäß bereit war, wie ich auch jetzt noch bereit bin mich ihrer Vorstellungen von Wahrheit und Wirklichkeit zu fügen." Diese Ausführungen von Jeremias Zehplus hatte Joachim mit Interesse und wachsender Spannung zur Kenntnis genommen. Joachim hegte für Zehplus besondere Dankbarkeit weil dessen bedingungslose Bereitschaft Katenus und Elly durch Abänderung der elektronischen Verfolgungskarteien die Möglichkeit der einzig in Aussicht stehenden Rettung bot. Hinzu kam, dass Joachim die Kompetenz von Zehplus im Bereich der Rechnerprogrammierung bewunderte. Es mag sein, dass er deren Bedeutung überschätzte, weil er sie nicht verstand. Hingegen war Joachim von Zehplusens Gleichgültigkeit gegenüber einer Wahrheit die diesseits oder jenseits gesellschaftlicher Übereinstimmung liegen möchte tief beunruhigt. Noch während Zehplus seine Gesinnungen mitteilte, widerstritten sich die Ungereimtheiten in Joachims Gemüt. Und eh er sich der möglichen schicksalshaften Folgen seiner Einwände bewusst werden konnte, hatte er sie ausgesprochen. "Aber Herr Zehplus," sagte Joachim indem seine Stimme mit Spannung zitterte, "Aber Herr Zehplus, abwesend ein Maßstab der Wahrheit ist doch das Denken, ist doch das Leben unmöglich." Die Antwort auf Joachims flehentlichen Einwand wurde Zehplus erspart, denn Mengs, Katenus und Schwiegel fädelten sich alle drei zugleich, ins Gespräch. Es war Schwiegels Stimme die überwog, "Ach Joachim," sagte Schwiegel, "wenn dem doch nur so wäre. Aber die Welt ist anders als wir sie uns wünschen, als sie uns im Traum erscheint." "Gewissermaßen aber hast du doch recht," sagte Zehplus indem er sich zu Joachim wandte. "Erklären Sie uns bitte den Widerspruch," das hatte Katenus gesagt. Das Gespräch bezeugte nun eine außerordentliche Stufe der Intensität. "Ich will versuchen ihnen zu erzählen," fuhr Zehplus fort, "wie ich mich sehe, wie ich mich selbst zu verstehen meine. Zwar erscheine ich ihnen als Techniker, dessen Amt es ist die großen gewaltigen Rechner die gewiss unsere menschlichen Fakultäten weit übertreffende Fähigkeiten besitzen, zu programmieren, anzuschalten, zu bedienen, zu reparieren und schließlich auch zu gegebener Zeit wieder abzuschalten. Diese Pflichten werden mir erleichtert, nein werden eigentlich erst ermöglicht, indem ich Vorschriften, indem ich Regeln befolge." Zehplus schwieg, er wurde nachdenklich. "Manchmal," sagte er, "scheinen die Regeln nicht zu genügen, scheint der Rechner ungeachtet meiner sorgfältigsten Befolgung der Regeln mir den Gehorsam zu verweigern." "Ja, und dann, was ist dann ihr Vorgehen?" Es war Mengs der diese Frage gestellt hatte, und mit einer Dringlichkeit die unerwartete Mitleidenschaft bekundete. "Ja dann," erklärte Zehplus, "wird mein Vorgang zum Versuch. Dann gehe ich experimentell, versuchsweise, empirisch vor. Beides aber, das Befolgen von Vorschriften und das Ergänzen dieser Vorschriften schätze ich als Abzeichen der Gültigkeit, der Wirklichkeit, der Wahrheit." "Ich weiß nicht," fuhr Zehplus fort, "wie ich Euch die Weise zu erklären vermöchte, in welcher meine Tätigkeit als Programmierer und als Wärter dieser mächtigen Ehrfurcht erheischenden Maschinen, zugegeben menschlicher Provenienz,...." Er verfiel in Schweigen, dann fuhr er fort: KK Kapitel 15.2 KK In Ordnung >> Rechnervernunftgesteuerte Regierung - 11103 << "Ja," sagte Zehplus, ich will mein Bestes tun euch zu helfen." "Sagen Sie nicht 'Euch', sagen Sie 'uns', unterbrach Charlotte, "denn uns helfen, vermögen Sie nur als ein Teil unserer Gruppe. Von außen scheint mir, kann uns keine Hilfe erreichen." "Trotz aller guten Vorsätze, hat die Digitalisierung die Regierung geschwächt, hat sie, genauer gesagt, aufgelöst oder zerstört." "Findet ihr nicht auch, wir haben jetzt die Gelegenheit eine auf Vernunft gegründete Regierung zu erfinden oder zu entwickeln?" "Ach, Versuche in diesem Geist hat man schon so oft angestellt, und was daraus geworden ist war nichts rechtes, und manchmal, fürchte ich, war es sehr schlecht." KK Kapitel 15.3 KK >> Wissenschaft und Regierung - 11118 << In Ordnung Danach war Zehplus dem Schweigen verfallen, und kein anderer der um den langen Tisch versammelten schien sich eine Lösung für die unübersichtliche Problematik zuzutrauen die sich aus der Neugründung einer Regierung ergeben müsste. Schließlich durchbrach Katenus die Stille: "'Mir wird von allem dem so dumm, Als ging’ ein Mühlrad mir im Kopf herum.'" hatte er sich sagen hören. Nun fasste er sich und fuhr fort. "Nein, so ist's zu pessimistisch. Ich will nicht vorgeben über eine Antwort zu verfügen. Die einzige Antwort die es gibt, und der zu widersprechen unmöglich, ist das Leben, das Geschehen selbst. Es verlangt akzeptiert zu werden, hingenommen, wie es sich ergibt. Aber die Vorgänge in denen sich die Lebensantworten ergeben, sie zu betrachten, über sie nachzudenken, damit habe ich meine Tage verbracht, in dieser Beschäftigung habe ich mich verloren und wiedergefunden." "Der Vorschlag unser Denken sei in der Logik verankert, und deshalb müsse man die Gültigkeit seines Denkens an der Logik eichen, ist verlockend. Ich weiß nicht was treffender ist, Euch zu sagen, dass die Logik bestrebt ist, die Sprache in Mathematik zu verwandeln, oder Euch zu sagen, dass die Mathematik bestrebt ist die Sprache in Logik zu verwandeln. Wie immer es auch sei, die Bestreben sind umsonst. Sprache ist Sprache, Mathematik ist Mathematik, und die Logik beansprucht vergebens eine Brücke zwischen Sprache und Mathematik zu schlagen. Die Sprache ist unbewusster Ausdruck meines Erlebens. Die Mathematik ist berechnetes Ergebnis meines Denkens. Mit meinem Erleben der Welt außer mir hat die Mathematik nur beschränkt zu tun. Vieles wäre zu erklären, vieles wäre zu sagen davon." "Und wie steht es mit den Relativitätstheorieen, mit der Speziellen und mit der Allgemeinen," fragte Joachim. "Man sagt diese Theorieen begründeten unser Verständnis unserer Welt. Wenn dem so ist, sollten sie nicht auch unser Vorhaben eine vortreffliche Regierung zu entwerfen begünstigen?" "Ich möchte versuchen uns einer Antwort auf deine Frage zu nähern, indem wir uns überlegen was die Theorie, im gegebenen Fall die Spezielle Relativitätstheorie denn eigentlich besagt, woher sie stammt, und wohin sie hinaus will. Vorerst ist nicht eindeutig klar, wovon verlangt wird dass es als verhältnismäßig betrachtet werden soll. Auch ist die Unterscheidung einer Speziellen von einer Allgemeinen Relativitätstheorie erwägungswürdig." "Die Theorieen der Wissenschaft sind vergleichbar mit Landkarten wo Städte und Länder mit Bergen, Flüssen und Straßen aufgezeichnet sind, als Nachbildungen, als Skizzen an denen man sich orientiert, nach denen man sich richtet, denen man folgt, die unerlässliche Instrumente und Modelle sind, an Hand derer man sein Ziel erreicht, und ohne welche es unmöglich wäre den Weg zu finden. Selbst im hellsten Sonnenschein ist die Zeichnung um vieles übersichtlicher als die Landschaft. Dennoch ist es ein Fehler die Zeichnung in ihrer Idealität mit der Landschaft in ihrer unmittelbaren Erlebbarkeit, in ihrer Wirklichkeit zu verwechseln." "Das Verwechseln der scheinbaren Wirklichkeit des Erdachten mit der tatsächlichen Wirklichkeit des Erlebten ist mir unvermeidbar, denn das Denken mutet mich an als das Erleben einer inneren Welt, indessen die Wahrnehmung durch die Sinne mich als ein Erleben einer äußeren Welt anmutet. Wäre was ich beschreibe vielleicht eine untere Stufe einer Phänomenologie des Geistes? Es ist auch ein uraltes Problem in der Geschichte des Wissens, zum Beispiel in der Geschichte der Geometrie, bei Fragen wie etwa, ob Punkt, Linie, Strich, Fläche, Kugel, Zylinder, ob das Unzählbare, Unmessbare, Unteilbare, über eine Wirklichkeit in einer von meinem Denken unabhängigen Natur verfügen. Die Antwort, welche mir unentrinnbar scheint, liegt in der Dialektik des Zusammenfallens der schicksalhaften Untrennbarkeit mit der schicksalhaften Trennung, des Widerspruches von Subjektivität und Objektivität, von Seele und Leib, von Ich und Welt, von Gott und Natur. Diese Dialektik hat keine Lösung. Aber noch mehr: sie gebiert eine zweite Dialektik. Diese zweite Dialektik ergibt sich aus dem Widerspruch dass die Aufarbeitung, die Bearbeitung, das Versagen, das Scheitern, das Leiden an der ersten Dialektik, am Widerspruch von Subjektivität und Objektivität eine Lösung von mir fordert welche über meine Fähigkeiten, welche über meine Kräfte geht. Ich müsste mich entschuldigen und schämen immer und immer wieder das zum Versagen Vorbestimmte zu versuchen, ich müsste mich aber auch entschuldigen wenn ich das zum Versagen Vorbestimmte nicht immer und immer wieder versuchte." KK Kapitel 15.7 KK in Ordnung >> Religion als Vorführung der Problematik des Daseins - 11215 << "Ich erkläre mir, es ist die Unzufriedenheit mit den Beschränkungen des Menschseins, dieselbe Unzufriedenheit weswegen wir den Gott, der all unsere menschlichen Mängel, Fehler und Unzulänglicheiten aufwiegt, gefunden oder erfunden haben. Die Neigung, die systematischen Versuche, der Zwang, die naturgegebenen Schranken meiner Existenz zu überwinden, die unablässigen, unentrinnbaren Bemühungen, die Kälte, den Durst, den Hunger, die Schmerzen zu beschwichtigen, das alles sind unumgängliche Bedingungen, Voraussetzungen meines Lebens." "Die zeitgenössische Physik raubt mir mein Erleben, denn die zeitgenössische Physik kennt keine Gegenwart. Indessen meine geistig-seelische Existenz, mein ganzes Leben, in einer Gegenwart verläuft deren Anfang und Ende unbestimmbar sind. Hingegen behauptet die Physik, Gegenwart sei nichts als eine Grenze mit zwar unendlichem Ausmaß im Raum, aber mit infinitesimalem Ausmaß in der Zeit wo sie als nominelle Schnittfläche das Vergangene von Zukünftigem trennt. Den möglichen Anfang der Vergangenheit sucht man in einer mathematischen Singularität, in einem Urknall, wo einst sich alles, Zeit, Raum Stoff und Energie plötzlich aus einem Nichts ins ein All schleuderten. Man meint die Welt der Zukunft, von einer infinitesimental geringen Gegenwart abhebend, erweitere sich mit Lichtgeschwindigkeit in eine Zukunft ohne absehbares Ende. Mir scheint dass der Rat der Schlange an Adam und Eva, wie Gott zu werden, sich geistig wie Gott zu betragen, nicht eines Zukunftstages zum Wahnsinn führen wird, sondern seit geraumer Zeit schon zum Wahnsinn geführt hat." "Ist es aber möglich, wenn man sich schon einmal auf das Gebiet der Psychosendiagnostik begibt, die Vermutung zu umgehen, dass das Konstatieren eines allmächtigen allwissenden allgütigen Gottes, der diese Welt geschaffen hat, und innerhalb ihrer, ewiges Paradies und Hölle, bedrohlicher Tod und verlockendes Leben, dass die Konstellation dieser Vorstellungen das unverkennbare Zeichen des Wahnsinns ist? Oder sollte ich fragen, ob nicht deren Verkennung ein solches Zeichen sein möchte?" "Ist es ein Fehler zu behaupten die Subjektivität sei die Wahrheit? Ist es ein Fehler zu behaupten die Objektivität sei die Wahrheit? Vielleicht ist es ein Fehler die Wahrheit überhaupt nur zu erwähnen. Unser Ziel ist der Entwurf eines Staates, die Organisation einer Gesellschaft. Dabei muss für beide, für den Einzelnen und für die Gemeinschaft, gesorgt sein." KK Kapitel 15.7 KK >> Psychophysik - 11262 << in Ordnung "Jetzt meine ich zu sehen, dass es Unfug ist zu behaupten, ich tue was ich will. Dass ich mein Tun im voraus wissen sollte ist eine Täuschung. Die Verspätung meines Wissens von jeder Handlung, ist vergleichbar mit der Verspätung meines Wissens um einen Knall in meiner Hörweite; denn diese Verspätung ist erkenntlich daran, dass ich bei jedem Knall zusammenzucke, und dass ich dieses vom Knall ausgelösten Zusammenzuckens gewahr werde. Eh ich den Knall höre, und das vom Knall ausgelöste Zusammenzucken als knallverursacht erkenne, verstreicht ein wahrnehmbarer Verzug. Die Existenz einer angeborenen Verzögerung des Hörens lässt sich experimentell so oft beweisen wie man will. Es wäre sinnvoll die einschlägigen Latenzzeiten durch elektronisch audiometrische, enzephalographische und myographische Studien festzustellen, und ins Besondere zu vergleichen wie sich diese Latenzzeiten mit der Tageszeit, mit Müdigkeit. mit Stimmung, mit Ablenkung verändern." "Zwar habe ich bei plötzlicher Erregung des Lichtsinnes kein vorschnelles Zucken beobachtet, aber bemerkenswert scheint mir die Beobachtung, dass die Wahrnehmung des Stillstands eines sichtbaren Gegenstandes einer messbaren Dauer bedarf, und dass ein Gegenstand dessen Standort sich in schneller Folge ändert, einer Bewegung unterzogen scheint die sich kaum löschen lässt dadurch dass das Auge oder der Blick sich an den gezielt gesichteten Gegenstand fesselt und sich mit ihm dreht um ihm zu folgen. Aus diesen Beobachtungen schließe ich, dass nicht nur das Hören (von Ereignissen) mit den Ohren, sondern auch das Sehen, das sichtliche Erkennen mit den Augen nicht zeitlich unverzögert, unmittelbar ist. Weiterhin schließe ich aus diesen Beobachtungen, dass die Welt meiner Vorstellungen, wie immer auch angeregt von Reizen der Außenwelt, dennoch als subjektives Gebilde entsteht und erhalten wird; dass trotz aller Anregung von ihr, auch die mir objektive Außenwelt als ein Geschöpf meines Geistes verstanden werden muss, ein Geschöpf meines Denkens, meiner Vorstellung, meiner Subjektivität. Ich vermute diese Auslegung der Vorgänge meiner Erkenntnis hat erhebliche Folgen für die Bedeutung von Urteilen der Mathematik und der Physik, für die Heisenbergsche Unbestimmbarkeit, für Verschränkung und Überlagerung in der Quantenmechanik; so wie auch für die Relativitätstheorien von Albert Einstein. Diese erheblichen Folgen werde ich, wenn mir Zeit und Kraft gegönnt sind, anderen Ortes zu anderer Zeit erwägen." "Unter den gegebenen Umständen, möchte ich diese metapsychologischen An- und Einsichten, wenn ich sie so nennen darf, an die Bearbeitung der Frage der neuen Verfassung unserer Gesellschaft die uns hier zusammengeführt hat wenden. Man hat vorgeschlagen wir sollten unsere Bemühungen hier im Geiste Auguste Comtes auf die mathematische Logik, auf die Mathematik, auf die Physik, und auf andere Wissenschaften gründen. Diesem Prinzip von Comte beanspruche auch ich zu folgen, aber in meiner eigenen, ich behaupte, mehr gültigen, mehr konsequenten Weise, indem ich vorerst auch die heiligen angebeteten Wissenschaften auf ihre Solidität oder Hohlheit beklopfe, so wie auch die Gemeinschaft und Gesellschaft die uns hier zusammenführt, und vor allem mich selber. Soll mein Denken eine zuverlässiges Zuhause für mich selber, und eine behagliche Behausung für meine Freunde und Gäste werden, so muss ich es auf eine feste, starke Grundmauer aufziehen, und die einzige Grundmauer die mir zur Verfügung steht, das bin ich selber, das ist mein Gemüt." "Tatsächlich ist mir nur mein Tun. Erst wenn mir klar geworden ist, was ich getan habe, bestätigt sich mein Sein mit der Behauptung dass meine Handlung einem unabhängigen Willen entspricht. Meine Gedanken entspringen mir unbewusst, und gewiss ungeplant - denn wer sollte die Planung planen - oder sonst die Planung der Planung - es würde ein regressus ad infinitum. Also hat mein Denken keine Begründung außer sich selbst." "Die Verfassung des Staates, besonders die Verfassung eines demokratischen Staates, einer Republik, einer Bundesrepublik verlässt sich auf die rührende Voraussetzung dass die Handlungen und das Betragen der Menschen, der Bürger, der Regierung, der Untertanen, der Herrscher, sich in Worten bestimmen, vorausbestimmen, festlegen ließen. Wenn dem so wäre, dann müsste das Wort endgültig, für ein und alle Mal gelten. Dem zuwider hat Goethe geschrieben: 'Denn, daß ein Wort nicht einfach gelte, Das müßte sich wohl von selbst verstehn.'" "Tatsächlich gelten Worte in hohem Maße vielfach. Ihre Bedeutungen entsprechen den Gesinnungen dessen der sie bedenkt, der sie spricht, der sie hört, der sie versteht. Wäre der Wähler sich der Unbestimmbarkeit der Worte bewusst, würde es ihm nie gelingen, seinen Wahlzettel auszufüllen. Auch wir dürfen uns der Unbestimmbarkeit unserer Worte nicht bewusst werden, Sonst müssten wir verstummen." "Ja," unterbrach Möchtegern, "der Worte sind genug gewechselt, lasst uns nun endlich Taten sehen." KK Kapitel 15.8 KK >> Eine neue Stimme - 11360 << In Ordnung "Da möchte ich, lieber Herr Möchtegern, ihnen in aller Bescheidenheit widersprechen, denn der Worte werden niemals genug gewechselt sein. Die Sprache ist der Inbegriff des Geistes, und der Geist ist unser Leben." Diese Worte kamen von einer bisher unerhörten Stimme. "Über das Thema welches uns aufgegeben ist, wäre noch manches weitere zu erläutern, und ich bitte um Erlaubnis zu dieser Erläuterung beizutragen." Die Stimme aber unterließ es auf Erlaubnis zu warten, und fuhr unerlaubt fort. "Seit uralten Zeiten, allenfalls seit den Vorsokratikern, seit Thales und Anaximandros, sind Denker bestrebt ihre Gedanken auf einen Ursprung zurückzuführen. Für Thales war dieser Ursprung das Wasser, für Anaximandros das Apeiron, für Aristoteles der unbewegte Beweger. ὃ οὐ κινούμενον κινεῖ. Indem ich mich unserer Auseinandersetzung hingab, kam mir der Gedanke dass bei der starken Betonung auf das Individuum als einzelnes unabhängiges Wesen, wir die Gefahr laufen die unentrinnbare Abhängigkeit dieses Wesens von anderen ähnlichen Wesen zu übersehen. Der Vergleich mit der Physik ist nächstliegend. Auch in der Naturwissenschaft sucht man das Unteilbare, das Atom als Erklärung für alles, meint dann immer und immer wieder ein solches gefunden zu haben um enttäuscht zu werden. Heutzutage gibt man sich mit der Vorstellung eines Teilchenmodells zufrieden. Das wäre ein universelles durchgängiges dynamisches Gefüge fast unendlich vieler und winziger Teilchen die ewiglich mit einander tanzen, sich mit einander vereinen, sich voneinander trennen und sich ineinander verwandeln Tatsächlich sind fromme, gläubige Physiker der Überzeugung, dass ihre progressiven Forschungen irgendwo und irgendwann zu endgültigen Lösungen und Klärungen all der Problematik die uns heute beschäftigt und belastet führen möchten. Und tatsächlich gebe ich ihnen recht, nur nicht in der groben simplistischen Weise die sie fordern. Ihre Untersuchungen weisen heute, und haben seit mehr als zwei tausend Jahren auf die Unerforschbarkeit der Probleme die sie und uns beschäftigen hingewiesen, und vielleicht wesentlicher noch auf die Gesellschaftlichkeit der Forschungen und der unentrinnbaren Enttäuschungen die diese Forschungen nach sich ziehen. Erlaubt mir zu betonen, überall wo wir ihr begegnen ist die Problematik unmittelbar und lädt zu unmittelbarem Verstehen ein, wenngleich leider auch nicht zu unmittelbarer Lösung, die des öfteren darin besteht, dass wir uns mit der Unlösbarkeit abfinden müssen und können. Die Beziehung des Einzelnen zu der gesellschaftlichen Vernetzung die seine Existenz ermöglicht, möchte vergleichbar sein mit der Auflösung des Atombegriffs durch das Teilchenmodell. So schlage ich vor, allenfalls versuchsweise, statt den Einzelnen als den Urgrund, als τὴν ἀρχήν unseres menschlichen Daseins zu betrachten, der Menschengruppe, der Gesellschaft, der Menschenherde diese Bedeutung zuzuweisen. Dann wäre die Verfremdung, die Verfolgung, die Vertreibung wie immer schmerzhaft und zerstörend, ein Naturgeschehen wie Krankheit und Sterben dem wir entgegensteuern so gut wir es vermögen." "Es ziemt uns, wie allen guten Ärzten, den Blick auf die Besonderheiten der Umstände zu lenken. Katenus und Elly sind uns zugegen. Die Gefahr ist von ihnen abgewendet. Wir haben das große Glück des Verständnisses und der Unterstützung von Herrn Zehplus. Der hat die Verfolgungskartei die Herrn Katenus bezichtigt geleert und hinzu noch verschlossen. Wir sollten Herrn Zehplus bitten die überholte Kartei mit einer Täuschung zu ersetzen. Was weiteres sollten wir uns wünschen? Etwa die Abschaffung der Verfolgung? Bin ich ein Feigling oder schlimmeres noch, wenn ich ahne dass dies unmöglich ist?" Hier wurde der Unbenannte von Hans dem Klempner-Theologen unterbrochen. "Ihre Ausführungen," sagte er, sind mir von großen Interesse, doch möchte ich hinzufügen, dass die ersten Worte unseres Alten Testaments: ἐν ἀρχῇ ἐποίησεν ὁ θεὸς τὸν οὐρανὸν καὶ τὴν γῆν, Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, des Herrgotts Schaffen von Himmel und Erde als das bezeichnet was ἐν ἀρχῇ, am Anfang, geschah." Da sagte Mathilde, "Ein Anfang setzt voraus die Zeit in der er zustande kommt. Wie sollten wir uns einen absoluten Anfang, ich meine den Anfang nicht in der Zeit, einen Anfang dem nichts, dem keine Zeit, voraus geht, vorstellen?" "Ausgerechnet davon erzählt unsere Bibel. Sie weist darauf hin, dass wir uns den Uranfang nicht als ein objektives Geschehen in der Zeit, sondern als ein subjektives Erwachen in eine voraus bestehende Zeit gedeutet werden muss." "Gerade indem und wie du dies sagst, fließt dir mit deinen Worten, der Fehler aus dem Munde. Ein objektives Erwachen ist ein Erwachen in eine bestehende, verlaufende Zeit. Das subjektive Erwachen ist die Schöpfung der Zeit. Es ist ein Geheimnis das ihr den Leuten nicht verraten dürft, sonst bringen sie euch um. ἐν ἀρχῇ ἐποίησεν ὁ θεὸς τὸν οὐρανὸν καὶ τὴν γῆν, am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, besagt zwar objektiv die Schöpfung der Welt, besagt aber subjektiv, das Entstehen Gottes." "Wie meinst du das?" "In diesem Akt des Schaffens, entdeckte Gott zum ersten Mal sich selber, wurde Gott zum erstem Mal seiner selbst bewusst, wurde, wie jeder andere Mensch von dem unvorstellbaren Urknall der Schöpfung geweckt, und ins Leben gerufen." "Bei dem sich über Tausende von Jahren erstreckenden Theologisieren sind die unverkennbaren Ähnlichkeiten von Gott und Mensch all zu oft unerwähnt geblieben. Steht es doch schwarz auf weiß geschrieben, dass Gott den Menschen als Gottes Ebenbild geschaffen hat. Was könnte selbstverständlicher sein als dass wenn, was unvermeidbar ist, der Mensch sich seinen Schöpfer vorstellt, dieser gleichfalls ein menschliches Gepräge hat, ein menschliches Antlitz trägt, und mit menschlichen Worten seine Gedanken, seinen Zorn, seine Wünsche, seine Befehle verkündet." "Und was wäre die Bedeutung ihrer theologischen Ausführungen für die Sicherheit, für den Schutz, für die Rettung von Maximilian Katenus und Elly Solmsen?" "Ich sollte meinen, das wäre selbstverständlich." "Für mich scheinbar nicht. Bitte erklären Sie es mir." "Es handelt sich um die Qualität des Denkens überhaupt. Mir scheint dass wir uns systematisch täuschen, wenn wir annehmen, wenn nicht gar voraussetzen, dass es uns möglich sein sollte, wie in getrennten Gärten, in gesonderten Fächern unsere Urteile zu säen, pflanzen jäten, wässern, ernten und zuletzt zu bewahren. Das ist aber nicht der Fall. Alles hängt zusammen. All unser Denken spiegelt umfassend unsere Welt. Man irrt wenn man meint es sei möglich das Denken, das Wissen, den Glauben und den Aberglauben über das Irdische vom Himmlischen zu trennen. Novalis hat geschrieben, wo keine Götter sind walten Gespenster. Vielleicht sind Götter nichts als Dämonen. Dann möchte man behaupten, wo Götter sind, walten Dämonen. Jedenfalls bin ich überzeugt, dass Himmel und Erde, oder sollte ich sagen, dass Himmel, Hölle und Erde nicht zu trennen sind, und dass um auf der Erde zu gedeihen man nicht nur mit dem Himmel sondern auch mit der Hölle angemessene diplomatische Beziehungen pflegen und unterhalten muss." KK Kapitel 15.9 KK >> Jedermann ist die Antwort - 11467 << in Ordnung "Ich meine zu unserem Problem, dem Schutz von Katenus und seiner Elly, eine sehr einfache Lösung zu erkennen," sagte jetzt Moritz Schwiegel. Der fand dass das Gespräch sich in Belanglosigkeiten verlaufen hatte. "Vor einigen Wochen, als wir im Familienkreise unser Problem besprachen, wurde der Vorschlag gemacht, ich weiß nicht mehr von wem, für Maximilian Katenus einen Decknamen, ein Pseudonym zu erfinden. Bei der damaligen Auseinandersetzung fielen die Worte Witz und witzig, und der Deckname N.S. Witzig, bot sich wie von selbst an. Die Ironie, einen so ernsten Menschen wie Katenus als einen Spaßmacher zu vertarnen, die Anfangsbuchstaben N.S. möchten als Kürzel für "Nicht Sehr" gemeint sein, - schien bei anfänglicher Erwägung allenfalls auf eine mögliche Lösung zu weisen und schien doch bei weiterem Überlegen zu hapern. Denn weit entfernt, den Träger des Namens N.S. Witzig unscheinbar und anonym zu machen hätte dieser Name bewirkt ein besonderes Interesse auf ihn zu lenken, und eine Situation zu schaffen wo es einem opferbedürftigen Staatsanwalt gleichgültig erscheinen möchte ob er Maximilian Katenus verfolgte oder N.S. Witzig." "Ja, da finde ich," sagte Joachim, "haben Sie recht. Was aber würden Sie stattdessen vorschlagen?" "Wenn ich mich recht besinne, fiel in unserer Erwägung des Opfers der Verfolgung, das Wort Jedermann, das in einer modernen Fassung von Hofmannsthal des altenglischen Moralitätsspiels Everyman heutzutage allsommerlich bei den Salzburger Festspielen aufgeführt wird. Der Hinweis dass 'Jedermann' als Ziel und Opfer des Verfolgungsbedarfs dienlich sein möchte, würde der geforderten Besonderheit des Opfers Abbruch tun. Die Allgemeinheit und Banalität jenes für religionspropagandistische Zwecke gefeierten Bösewichts Everyman möchten den die Besonderheit rächenden Staatsanwalt verlegen stimmen, da es ihm unmöglich wäre den einen bösen Jedermann von seinen vielen gleichnamigen Brüdern oder Kollegen zu unterscheiden, da es bekanntlich bei der Verfolgung darauf ankommt einen Besonderen als Sündenbock zum Tragen der allgemeinen Sünden zu finden." "Wohl wäre zu bemerken, dass die theologischen, soziologischen und gesellschaftlichen Einbeziehungen des Bühnenwerks Jedermann sehr problematisch sind, diese aber hier auseinanderzusetzen, wäre zu weit hergeholt, erstens weil anzunehmen ist, dass einem vermeintlich verfolgungsbegierigen Staatsanwalt jegliches literatische Interesse an 'Jedermann' abgeht, zweitens weil Jeremias Zehplus die Katenusverfolgungskartei sowieso gelöscht hat, mit der Versicherung dass er eine solche nicht nur ihres Inhalts geleert, sondern auch anderweitig unzugänglich gemacht habe." "Bemerkenswürdig ist weiterhin dass die Anzeigen, die Verleumdungen, grundsätzlich anonym eingegeben werden, und dass es jedem unzufriedenen Bürger frei steht eine neue anonyme Klage einzureichen." "Aber welchen Unterschied machte das?" klagte Katenus. "Trotzdem, und vielleicht besonders würde damit die mir zugedachte Strafe auf einen anderen übertragen. Es vermöchte ja dann Jedermann sein," "Nicht möchte sein," sagte Mengs, "Es ist Jedermann, und das Opfer als Jedermann darzustellen ist ein literarisches Problem, eine literarische Aufgabe." "Das genau war was ich im Sinne hatte," ergänzte Schwiegel, "aber wie dergleichen zu bewerkstelligen wäre, überlasse ich Euch Schriftstellern und Literaturhistorikern." "Die Vorlage wäre das Schauspiel Everyman, Jedermann. Wir müssten nachforschen, dass es tatsächlich keinen Bewohner mit diesem Namen gibt um wenn nötig, Missverständnissen vorbeugend, einen solchen bewusst zu vertarnen. Schließlich ist 'Jedermann' ein bekanntes und gepriesenes Schauspiel von Hugo von Hofmannsthal das alljährlich aufgeführt wird. Der Staatsanwalt mag sich dann bei den Salzburger Festspielen erkundigen wer dieses Jahr zu verfolgen wäre." "Großartig, großartig," erklang es von verschiedenen Seiten. Es war unbestimmt wer von den vielen Anwesenden seine Zustimmung gegeben hatte. Ablehnungen und Widersprüche waren aber nicht zu hören. Der unerwartete, und doch im Rückblick so natürliche und selbstverständliche Vorschlag die Hinweise auf Maximilian Katenus und Elly Solmsen in den amtlichen Verfolgungskarteien schlicht und einfach mit einem Zeiger auf Jedermann zu ersetzen, den Helden des Schauspiels das alljährlich die bekannten Festspiele ziert, bewirkte eine Wende in den Besprechungen. Das Problem der Verfolgung war nun endgültig gelöst. Keiner wusste was Weiteres zu dem kürzlich noch dringenden Thema zu sagen wäre. So ergab sich eine Stille, ein Schweigen bis an die Grenzen der Verlegenheit. Schließlich hörte Charlotte ihre eigene Stimme: "Die Sitzung ist hiermit eröffnet," sagte sie als ob ihr der soeben eingetretene Erfolg in dem vorgeblichen Verfahren belanglos erschiene, und nun schließlich die Tore zu dem eigentliche Ziele geöffnet hätte. "Ich habe mir reichlich überlegt, was ich Ihnen sagen soll, - nein, ich verzichte auf die Formalitäten des Sie, ich duze euch und sage, Ich habe mir reichlich überlegt, was ich euch sagen soll. Zuletzt bleibt mir nichts übrig als der Versuch euch die Wahrheit zu sagen." "Warum nur der Versuch, und nicht ganz einfach die Tat?" ertönte eine Unterbrechung vom unteren Ende des Tisches. Wer sie geäußert hatte, war nicht festzustellen. Eine Antwort aber kam von Maximilian Katenus. "Mit der Wahrheit ist eine heikle Sache. Was Wahrheit ist zu bestimmen scheint oftmals sehr schwierig und ist manchmal unmöglich. Hinzu kommt, dass es problematisch ist, die Wahrheit mitzuteilen. Es gibt eine Erkenntnislehre die behaupten würde, dass Wahrheit überhaupt erst als Mitteilung entsteht, dass nur das Mitgeteilte wahr und wirklich ist, dass Wahrheit sich erst aus der Übereinstimmung von den Beteiligten an einer Auseinandersetzung ergibt, und dass demgemäß Unwahrheit ein Missverständnis ist, das erst unter den Mitgliedern einer Gesellschaft erscheint, manchmal absichtlich als Täuschung, als Lüge, auch oft aus Irrtum, sagen wir aus Schwerhörigkeit." "Obgleich wir schon seit einiger Zeit verhandeln, hab ich gesagt, die Sitzung ist eröffnet, um auf die Bedeutung der uns bevorstehenden Themen hinzuweisen, die zu erläutern wir und bis jetzt noch nicht Gelegenheit gehabt haben." "Und welche Themen sollten uns dabei bekümmern?" "Da kommt es auf die Perspektive an." "Aus praktischer Sicht, könnten wir die verschiednen Gesetze, Regeln und amtliche Bestimmungen überprüfen die Herr Zehplus in seinen Rechnerkarteien aufbewahrt. Am unmittelbarsten erscheinen mir die Korrekturen - um den Ausdruck Fälschungen zu vermeiden - denen zufolge des Berichts von Herrn Zehplus, die Wahlergebnisse unterzogen werden." "Ich sollte meinen die Irrtümlichkeit der sogenannten Korrekturen sei eine ausgemachte Sache." "Ich gebe zu dass dies der Fall sein muss insofern die einschlägigen Begleitumstände des Wählens stichhaltig sind." "Ist es erlaubt zu fragen: 'Was sind stichhaltige einschlägige Begleitumstände?'" "Gestattet mir folgende Gegenfragen: Wie sollte man die Gültigkeit einer Umfrage einschätzen, wenn diese Umfrage in einer missverstandenen oder unverständlichen Sprache gestellt oder beantwortet würde? Wenn die zur Wahl aufgestellten Kandidaten bis zur Unkenntlichkeit vertarnt wären? Wenn die zur Entscheidung aufgestellten Fragen irreführend oder unverständlich wären? Müssten nicht unter solchen Beschränkungen die Wahlergebnisse irreführend und destruktiv sein in eine Maße das Berichtigungen von einer weisen, verständnisvollen, unabhängigen Instanz vielleicht eine gnadenvolle Rettung des Staates bewirken möchten?" "Wie kannst du soetwas aber behaupten oder auch nur für möglich halten? Jeremias Zehplus hat uns von der Anwesenheit einer weisen, verständnisvollen, unabhängigen Instanz gemäß welcher die Stimmzettel 'korrigiert' werden möchten kein Anzeichen gegeben." "Das gestehe ich bereitwillig zu, bemerke aber auch, nicht aufgrund ihrer Abwesenheit. Ich behaupte lediglich dass die Themen der Wahl, ob betreffs Personalien oder Sachverhalt mich als durchweg so unverstanden, unverständlich, widervernünftig wo nicht gar unredlich anmuten, dass es mir unmöglich ist sie zu befürworten. Aus gleichem Grunde schlage ich vor, dass eine deus ex machina ähnliche mögliche Verbesserung der Wahlergebnisse allenfalls erwähnt werden möchte, als ein Zeiger der in die Richtung der Besserung weist, zugegeben ohne den genauen Weg dorthin zu bestimmen. Uns ist leidenschaftlich an der Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit, an der Verlässlichkeit unserer Welt gelegen. Es dünkt mich aber ein Glaube, im eigentlichen Sinne, ein religiöser Glaube zu sein, der drängt, mich auf die Vernunft des Gemüts und auf die Vernünftigkeit unserer gemeinschaftlichen Beziehungen zu verlassen. Wer sich weigert, wem es unmöglich ist, diesem Glauben bezupflichten, dem droht, so beweist es die Verfolgung von Katenus und Elly, der Opfergang zum Scheiterhaufen." "Ich sollte meinen die modernen Wissenschaften hätten eine verlässliche Basis für unser Denken und Fühlen geschaffen." "Das, finde ich, ist eine entscheidende Frage, denn wenn dem so wäre zeigten sie uns einen direkten Weg zu unserm Ziel, und vielleicht den einzig gangbaren, und wenn wir denn nicht fänden, bliebe uns der Weg zu unserm Ziel unumgänglich verschlossen." "Zu erst die Logik, der Mathematik sowohl als auch der Sprache. Sie ergibt sich aus der Symbolik eines jeden der beiden Bereiche, und bewirkt dass ein gegebenes Zeichen in jedem Mitglied einer Menschengruppe nicht nur ähnliche sondern die gleichen Gemütsverfassungen und Gedankenvorgänge bewirkt, wie bei der Statik und Dynamik des Leibes, beim Tanzen, beim Paradieren, beim Marschieren, beim Musizieren. Diese Betrachtungen sind nicht abschätzig gemeint. Die Musik liefert ein Beispiel der möglichen außerordentlichen ästhetischen und seelischen Bedeutung einer schrankenlosen Gliederung des Einzelnen in eine Gruppe. Die Musik ist Beweis und Darstellung einer nicht nur quantitativen sondern zugleich qualitativen Abwandlung der menschlichen Existenz durch die Bindung mehrer Einzelnen in eine Gemeinschaft. Auch das Sprechen und Verstehen einer Sprache, ins Besondere der sogenannten Muttersprache, sogar im Selbstgespräch, geschieht in einem unausweichlichem Gesellschaftsrahmen. Über die Wirksamkeit, über die Brauchbarkeit der logischen Konstruktionen und Deduktionen weiß ich vorausblickend in gegebenen Fällen wenig oder garnichts zu prognostizieren. Und doch, wenn ich die Gefüge der sprachlichen und der mathematischen Logiken näher bedenke, vermag ich mich der Vermutung nicht zu entledigen, dass sie zur Entwicklung, geschweige denn zur Lösung der Problematik die uns hier zusammen gebracht hat, kaum etwas beizutragen haben. Insofern ich mein Wissen, mein Verstehen, zu beobachten und mir zu erklären vermag, besteht es in einer Assimilation, in einer Anpassung und Verwandlung meines Geistes an das was mir geschieht und was ich erlebe, an das was mir geschehen ist, an das was ich erlebt habe." "Tatsächlich haben, wenn ich mich nicht täusche, die modernen auf verbale und mathematische Zeichen fußenden abstrakten Lehren der Logik wenn überhaupt, nur geringe Folgen für die Wissenschaften, obgleich diese aus rein theoretischer Sicht auf sie zurück geführt werden. So zum Beispiel wird behauptet die moderne Mathematik sei auf die Mengenlehre gegründet. Mit dem Vorbehalt dass ich kein Mathematiker bin bemerke ich, dass ich von keiner neuzeitlichen Entwicklung der Mathematik weiß, welche ohne die Mengenlehre undenkbar wäre. Hingegen scheint mir dass die verschiedensten neuzeitlichen Entwicklungen der Mathematik, wie etwa Schrödingers Quantenfeldgleichung, oder Minkowskis Dimensionerweiterungen des euklidischen Raums, unmittelbare Antworten auf andere wissenschaftliche Erfordernisse sind, in gegebenen Fällen, der Quantenmechanik und der speziellen Relativitätstheorie. Als Unterstützung der allgemeinen Relativitätstheorie, hingegen bedurfte man der Tensorenrechnung." "Mir wird die moderne Physik erst verständlich als ein Ringen mit den Widersprüchen und Unbestimmbarkeiten die sich aus meinem gegenwärtigen Bewusstsein immer und immer wieder mit unerbittlicher Triftigkeit ergeben. Um das Wort Unbegreifbarkeit zu vermeiden, erwähne ich die Problematik der Bewegung, der Dauer, der Vergangenheit, der Zukunft, der Begrenzung, der Gestalt, des Ausmaßes, der Unendlichkeit im Addieren und Multiplizieren, der Infinitesimalität im Verkleinern, im Abziehen und Teilen. Mir scheint, dass die wissenschaftlichen Ansprüche und Vorhaben dergleichen Problematik zu beseitigen, als diese in zunehmend winzigen Ausmaßen, wie bei der Teilchenphysik oder in zunehmend gigantischen Weiten, wie bei den Hypothesen der Kosmologie, anstatt sie zu lösen, dazu dienen sie zu verwischen,zu verschleiern oder zu verstecken. Andere Beschränkungen ergeben sich in den Mitteilungen zwischen Mitgliedern der Gesellschaft und in den Hinfälligkeiten des Verständnisses und des Gedächtnisses des einzelnen Gemüts." "Die Frage nach dem Ursprung des Wissens ist analog der Darwinschen Frage nach dem Ursprung der Arten. Beide sind unbekannt. Aber es sind die (umweltlichen) Umstände unter welchen sie entstehen, welche bestimmen ob eine Art, ob ein Begriff sich erhält, am Leben bleibt, fruchtbar wird. Der (einzelne) Gedanke prägt, gestaltet, verwandelt, verändert das Gemüt das von ihm berührt wird und das ihn nunmehr hegt. Die Beziehung des Wissens, des Verstehens zur Tat, birgt ihr eigenstes Geheimnis, das vergleichbar ist mit der Beziehung des Willens zur Handlung. Die Tat offenbart das Wissen in ebenso unbestimmer Weise, wie der (vermeintliche) Wille wenn überhaupt, erst durch die Handlung offenbart wird. Wegen der Angst die es auslöst stiftet das Wissen die Fragen, wie ist es, wie konnte es, wie musste es dazu kommen? Wie verhält sich die (vermeintliche) Triftigkeit der Newtonschen Energie Formel E=0.5mv^2 zur (vermeintlichen) Triftigkeit der Einsteinschen Energie Formel E=1.0mc^2 ? Von wem, wann und wie, wurde die denkbar mögliche Spaltung des Uran 235 oder die Verschmelzung des Wasserstoffs zum ersten Mal vorgestellt? Waren das Einfälle jeweils einzelner Gemüter, oder war es ein Zusammenfließen eines breiten und tiefen Stroms der Gedanken vieler unterschiedlicher und sich dann auch zum Teil widerstrebender Geister? Jetzt aber im Rückblick, in Anbetracht der Unerreichbarkeit der Vergangenheit, und ins Besondere der speziellen Unerreichbarkeit all dessen das nicht mein gegenwärtiges Bewusstsein beschäftigt, wie wäre es mir überhaupt denkbar möglich die verschimmelten Strähnen meiner Vergangenheitsvorstellungen zu entflechten? Überall wo mein Denken sich seiner bewusst wird, befindet es sich an einer Scheide zwischen dem mythischen, von mir Gefühlten und Erdachten, und dem Wirklichen wo mir zu wirken, zu handeln, zu leben und zu sterben gegönnt sind. Erstaunlich und erscheckend ist die Unmöglichkeit festzustellen auf welcher Seite des Wirklich-unwirklichen, des Wahren-unwahren, des Sinnigen-unsinnigen ich mich momentan denn eigentlich befinde, oder ob die Anmaßung zwischen jenen Alternativen zu entscheiden zu vermögen, selbst der Unsinnigste aller Ansprüche ist." KK 16. Kapitel KK << 11745 >> In Ordnung "Das war sehr überzeugend von ihnen erklärt, lieber Herr Katenus, und es genügt mich im Rahmen ihres Berichtes, darf ich sagen im Rahmen ihrer Erzählung, im Rahmen des Mythos mit dem Sie vorgeben uns überzeugen zu wollen, tatsächlich zu überzeugen. Zugleich aber erweisen sich sogar ihre Worte als machtlos diesen Rahmen zu übersteigen, zu überqueren, geschweige denn ihn zu zerbrechen. Es ist wieder einmal das Geheimnis das in jeder Relativitätstheorie wuchert, nämlich, dass die Gesetze in allen Rahmen die gleichen zu sein vermögen, eine Behauptung die besagt, dass es ein in einem Rahmen erscheinendes Wirkliche geben sollte, das auch außerhalb dieses Rahmens besteht, das, in anderen Worten, von dem Rahmen in dem es erscheint unabhängig und trennbar sein sollte. Das wäre eine geistige Geschicklichkeit der wir nicht beizupflichten brauchen, der wir nicht beizupflichten dürfen. Denn genauer bedacht sind das Umrahmte und der Rahmen untrennbar, und der Anspruch sie zu trennen, zerstört sie beide. Das Lügnerparadox lässt sich nicht verbannen. Hier erscheint es ein weiteres Mal." "Ich wiederhole und betone, was wir hier zu leisten haben, lässt sich von keinem Ursprung, lässt sich von keinem Ursprünglichen ableiten, es keimt und muss wie jedes andere Erleben der Gegebenheit des einzelnen momentanen Bewusstseins entfließen. Dass dies Bewusstsein jeweils ein zumindest vorgestelltes, am Ende aber ein vereinzeltes, einsames, in sich selbst verkerkertes Bewusstes sein muss, ergibt sich aus der üppigen Folge der Überlegungen. Uns ist gegeben, uns ist das Schicksal von Jedermann aufgegeben, wenn nur darum weil wir unseren Programmierer, Herrn Jeremias Zehplus damit beauftragt haben. Nun ist es an uns zu bedenken und zu bewerten und zu bedeuten was wir getan haben." "Mit unseren Anweisungen an Herrn Zehplus Jedermann in die Kartei der zu Verfolgenden einzutragen beabsichtigten wir von der Verfolgung des Herrn Katenus und des Fräulein Solmsen abzulenken. Das vermochten wir (nur) indem wir sie Jedemmann und Jederfrau gleichstellten. Nun müssen wir uns fragen ob wir sie nicht durch diese beabsichtigte Rettung in der wir sie all ihren Mitbürgern und Mitbürgerinnen gleichstellten tatsächlich zerstörten. Das bestätigte dann eine vielleicht unentrinnbare Behauptung, dass es so etwas wie Jedermann, das besagte, dass wir alle gleich sind oder gleich sein sollten, nicht gibt, dass Jedermann und Jedefrau unter uns ein eigenes, ein besonderes Wesen hat und ist. So wären wir am Ende, wieder am Anfang; und die Identität des Verfolgten wäre am Ende, wie am Anfang, Zufall." "Ich frage, ob das Herdenmitglied sich der Verfolgung ausliefert, indem es ein Einzelner wird, oder ob der Einzelne sich der Verfolgung entzieht indem er ein Herdenmitglied wird. Beides möchte der Fall sein. Die Einberufung von Jedermann in unsere Erwägungen gibt Anlass zu Überlegungen was überhaupt es sein möchte das von diesem Bühnenspiel zu lernen wäre und was es verlangt das wir als Gruppe oder als Einzelne tun oder lassen sollten. Auf dieser Bühne erscheint Jedermann als ein reicher, um sich selbst bekümmerter Mensch samt seiner Angestellten und Diener die ihn unterstützen. Es erscheinen Arme die sein Reichtum verkrüppelt hat und zu verderben droht, die mehr als Almosen, die einen Teil seines Vermögens verlangen. Es erscheint ein Bote der den Reichen mahnt er sei verpflichtet seinen Reichtum zu verteilen. Tief unten in der Hölle wohnt ein Teufel der vergeblich auf sein Opfer wartet. Hoch droben waltet ein Gott der zwar die Gier und Habsucht des Reichen - für dessen Existenz dieser Gott der alles geschaffen hat, ja denn auch letzten Endes verantwortlich ist - zu bestrafen droht, die Strafe aber dennoch nicht vollzieht und es sich zuletzt ergibt, dass er, der Herrgott ein zimperlicher ist, der nur droht aber nicht straft, und der dem Reichen der alle Güter der Erde, sein Leben lang genossen und verprasst hat, und seine Umkehr, nein nicht bis auf eine Minute, sondern gar bis auf eine Sekunde vor der entscheidenden Mitternacht aufgeschoben hat, alles vergibt, der trotz des Zechers verspätete Umkehr, diesen im Paradies willkommen heißt und ihn beschenkt als hätte er den Lohn mit lebenslanger Pflichterfüllung verdient. Und das sollte Gerechtigkeit sein! Der opfersüchtige Staatsanwalt wird zwar die Moralität Jedermann nicht ernst nehmen, aber wird ihr auch keinen Hinweis auf Katenus oder Elly entnehmen. Insofern haben wir unsern Zweck erreicht." Das war ein ganz neuer Gesichtspunkt auf den eigentlich doch keiner der Anwesenden vorbereitet war. Sehr verschiedene von ihnen aber, ich will nicht sagen, alle, fühlten sich gedrängt Stellung dazu zu nehmen, insbesondere, Hans der Klempner-Theologe, denn es handelte sich ja dabei um den Gott der auf dem Moriahberge angezeigt hatte, dass man ihn vielleicht nicht immer ernst nehmen sollte. Hier spiegelte sich ein schwerwiegendes theologisches Problem. "Betrachte ich nun aufs Neue mein gegenwärtiges Bewusstsein als Grundlage all meiner geistigen Tätigkeit, also als Grundlage meiner geistigen Existenz, meines Wissens, meines Verständnisses von mir selber, so kommt mir vor, dass ich mein Gemüt aufgeräumt habe," sagte Katenus, "und so gründlich, dass das Oberstübchen nun leer scheint. Die epistemologischen und ontologischen Bemühungen scheinen allenfalls oberflächlich zu einer Situation geführt zu haben, wo nichts besteht und es von nichts zu wissen gibt. Dass dem nicht so sei, ist selbstverständlich. Selbstverständlich ist auch die Gelegenheit die Bewusstseinsverfahren in den unterschiedlichsten Instanzen so gut wie möglich festzulegen um dann ihren Inhalt so gut wie möglich statisch und dynamisch zu beschreiben und zu verfolgen. Allein die unvollständige Zugänglichkeit des Bewusstseins weist auf das unvermeidlich verwickelte Flickwerk das zu ergeben diese Bemühungen nicht umhin können. Bewusst werde ich mir durch einen Reiz, durch ein Gefühl, zum Beispiel, weil die Sonne blendet senke ich die Jalousie, ein Vorgang der indem ich ihn bedenke, im Rückblick in verschiedene Stadien zerfällt, die sich aber sonst unbedacht in und aneinander verschachteln. Eine Ablenkung folgt der anderen, es sei denn dass ich meine Gedanken verausgabe durch das Lesen eines von anderen oder mir selber geschriebenen Textes, oder durch das Grübeln über eine mathematische Formel. Bestimmend und entscheidend ist, dass all mein Denken, Lernen, Wissen, Verstehen, Können und Handeln ausschließlich aus meiner jeweiligen Reflexion wirklich und erklärlich ist. Aus diesen Überlegungen ergibt sich mir, dass mein Verständnis meines Denkens Grenzen unterliegt, welche zwar veränderlich sind, dass aber doch die Beschränkungen denen dies Verständnis unterliegt, nie beseitigt werden können. Mein Denken ist beschränkt in einer Weise vergleichbar mit der Beschränkung meines Gedächtnisses, meines Sehens, meines Hörens, und all meiner anderen Fähigkeiten über welche ich stets in nur begrenztem Maße verfüge." KK Kapitel 16.3 KK In Ordnung >> Die Idealisierung als Schlüssel zum Wesen des Denkens - 11917 << "Ich vertrete den Standpunkt, dass die (menschliche) geistige Tätigkeit, das Sehen, das Hören, das Erinnern, das Sprechen, das Erzählen, die Naturwissenschaften so wie auch die Geisteswissenschaften ihrem Wesen gemäß die Welt ästhetisch mehr noch als ethisch, idealisieren. Mit dem Wort 'idealisieren' beanspruche ich zum Ausdruck zu bringen, dass all diese Tätigkeiten aus unvermeidlich fragmentarischen inneren und äußeren Wahrnehmungen, Empfindungen, Anschauungen, etwas hervorbringen das sinnlich gedanklich geschlossen, vollständig und unabhängig ist. Die verschiedensten Beispiele drängen sich auf, wie etwa Beobachtungen der sich natürlich ergebenden sakkadischen Augenbewegungen die dem vorübergehenden Festhalten beliebiger Gesichtsorte dienen, die mir immer und immer wieder den eindrucksvollen Rundblick in das Landschaftsbild und Stadtbild wo ich mich zufällig befinde bescheren. Aus der Gegebenheit der Augenbewegungen und ihrem ursächlichem Verhältnis zum Vorgang meines Sehens und zu den Bildern welche sich aus diesem Vorgang ergeben, schließe ich, dass die Welt die ich mir vorstelle und wie ich sie mir vorstelle als ein zusammenhängendes Erzeugnis keineswegs unabhängig von mir besteht, sondern als eine von mir in meinem Gemüt erzeugte Idealisierung verstanden werden muss." "Es ist ein Irrtum zu schließen oder gar vorauszusetzen, dass es ein normiertes allgemeines Wissen gibt, geben sollte oder gar geben könnte. Tatsache ist dass diese verfehlte Voraussetzung seit den Zeiten des Aristoteles allen Wissenschaften, allen Hand- Text- oder Lehrbüchern, wie auch zeitgenössisch den sogenannten Modellen, wie etwa dem Teilchen Modell, dem Kosmos Modell, den Relativitätstheorieen oder der Quantenmechanik zugrunde liegt. Dieser Irrtum wurde - und wird - durch das Echo in den Schulen der vormaligen und neuzeitlichen Scholastiker, heutzutage nennt man sie Wissenschaftler, verstärkt. Wissen aber ist stets lebendig, dynamisch, besteht in der geistigen Tätigkeit des Einzelnen und in dem gemeinsamen Zusammendenken der Gruppe. Vergeht wenn es vergessen wird, aufersteht wenn es erinnert wird, ist zwingend und wirksam nur insofern es im einzelnen oder gemeinsamen Tun zum Ausdruck kommt und somit immer und immer wieder neu verwirklicht wird." "Es ist ein monumentaler Irrtum anzunehmen, dass das Wissen dem wiedergegebenen Zeichen oder der Wiedergabe eines Zeichens entsprechen sollte, etwa als 'richtige' Antwort auf eine Frage, oder als 'richtiges' Ergebnis einer Rechenaufgabe. Denn es ist nächstliegend möglich das Ergebnis 'auswendig' gelernt zu haben, und es pappageienartig nachzuplappern ohne verstanden zu haben was es meint, was es bedeutet oder wie es entstand, ein weitverbreitetes Mißverständnis das der Auswahlfrage, the multiple choice question, zugrunde liegt. Die mathematischen und sprachlichen 'symbolischen Formen' sind eine vom Menschengeist geschaffene Idealwelt welche dient das Erleben des Einzelnen und die Erfahrungen der Gemeinschaft vorläufig und vorübergehend zu vereinbaren, zusammenzufassen und zugänglich zu machen. Diese symbolischen Formen bedürfen fortwährender Pflege; sie wollen erklärt, berichtigt, verbessert bereinigt, und vor allem, verstanden werden." "Die epistemischen, ontischen und ästhetischen Bedeutungen der idealisierenden symbolischen Formen scheinen mir verhältnismäßig zugänglich im Vergleich mit den mutmaßlichen ethischen Ansprüchen welche in der Überlieferung der platonischen Ideenlehre eine so hervorragende Rolle spielen. Vielleicht sollte ich statt mein Unverständnis oder Missverständnis mit weitläufigen Ausführungen zu bezeugen, die mir noch bleibenden Tage, Wochen, Monate wenn nicht gar Jahre mit dem wiederholten Lesen der Schriften von Platon, von Aristoteles, von den neu-platonischen Denkern und von den vielen anderen Schriftstellern die über das so dunkle und schwierige Thema der Ethik geschrieben haben verbringen. Aber, ich muss es gestehen, es drängt mich mein eigenes Gemüt zu erforschen, und meine Gedanken vor mir selber auszubreiten, selbst wenn ich keinen anderen finde der mit mir überlegen will, und wenn was ich denke nur für mich selber von Interesse ist." "Die einschlägigen Begriffe über das denkbar Wertvolle in den Bereichen der Ideale entlehne ich der hebräischen und der altgriechischen Überlieferung. In beiden Traditionen werden die Pflichten der Menschen von ihrem Gott oder von ihren Göttern bestimmt, wohlbemerkt oftmals in unvoraussehbarer und und widersprüchlicher Weise." "Da seinem Wesen nach, jedes Ideal auf einem Wert fußt, nenne man ihn nun Wahrheit, Tugend, das Gute oder das Schöne, virtue, truth or beauty, arete, agathon oder kalon, so meinte ich es gebühre sich, die der Idealisierung vorausgesetzten Werte zu untersuchen, und wenn möglich, klarzulegen. Das Schlüsselwort ist Ethik. In den Überlegungen im Verlauf meines langen Lebens hab ich bis jetzt die Ethik hintangestellt, unter dem Vorbehalt sie sei ein Thema zugänglicher als die verschiedenen Erscheinungen der Metaphysik, wie etwa Seinslehre oder Wissenlehre. Nun mag sich herausstellen ob dem so ist." "Am Anfang meiner diesbezüglichen Überlegungen sage ich mir, dass ich in verantwortungsvoller Weise in Betracht ziehen muss was von anderen über Ethik veröffentlicht worden ist, erkenne aber sofort, dass das sinnvolle und wertvolle Handeln von uns Menschen ein so verbreitetes Thema ist, dass ich mit dem Nachlesen von auch nur einem Bruchteil dessen was darüber geschrieben ist, den kurzen Rest meines Lebens verbringen müsste ohne zu einem Beschluss zu kommen, mit der Folge dass ich zu eigenem Denken nie Gelegenheit haben würde." "Als möglicher Leitfaden fiel mir ein, Bibelvers Micah 6:8, Meiner Gewohnheit gemäß, lese ich es nach in der Septuaginta: (LXX Micah 6:8) εἰ ἀνηγγέλη σοι ἄνθρωπε τί καλόν ἢ τί κύριος ἐκζητεῖ παρὰ σοῦ ἀλλ᾽ ἢ τοῦ ποιεῖν κρίμα καὶ ἀγαπᾶν ἔλεον καὶ ἕτοιμον εἶναι τοῦ πορεύεσθαι μετὰ κυρίου θεοῦ σου in der Vulgata: [8] indicabo tibi o homo quid sit bonum et quid Dominus quaerat a te utique facere iudicium et diligere misericordiam et sollicitum ambulare cum Deo tuo in Luthers Übersetzung von 1545: 8 Es ist dir gesagt / Mensch / was gut ist / vnd was der HERR von dir foddert / nemlich /Gottes wort halten / vnd Liebe vben / vnd demütig sein fur deinem Gott. in King James Version [8] He hath shewed thee, O man, what is good; and what doth the LORD require of thee, but to do justly, and to love mercy, and to walk humbly with thy God. in der neuesten Lutherübersetzung: 8 Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott. und schließlich in der jüngsten amerikanischen Fassung: It has been proclaimed to you o man what is good, or what The Lord is seeking from among you other than to do judgment and love mercy and to be ready to go with (follow) The Lord your God. Wenn ich es recht verstehe, setzt die propagandistische Fälschung schon mit der Vulgata an, denn "ἕτοιμον εἶναι" bedeutet nicht "sollicitum", concerned, worried, upset, troubled, disturbed, anxious, apprehensive, sondern "ἕτοιμον εἶναι" bedeutet "to be ready," "bereit sein". Erheblicher noch sind die Abweichungen vom Original der beiden Lutherübersetzungen: "ἢ τοῦ ποιεῖν κρίμα" bedeutet nicht "als Gottes Wort halten" sondern: "als das gerichtliche Urteil fällen", und "ἀγαπᾶν ἔλεον" bedeutet nicht "Liebe üben" sondern: "Barmherzigkeit schätzen", und "ἕτοιμον εἶναι τοῦ πορεύεσθαι μετὰ κυρίου θεοῦ σου" bedeutet nicht "demütig sein vor deinem Gott", sondern: "to be ready to go with (follow) The Lord your God." etwa "bereit sein mit deinem Herrgott zu gehen." Die Plastizität der Sprache, das begrenzte Vorstellungsvermögen der Übersetzer, der unvermeidbare Drang sich der Sprache propagandistisch zu bedienen, besonders hier in der Übersetzung der Heiligen Schrift, beschatten die Verlässlichkeit nicht nur dieser, sondern aller anderen möglichen sprachlichen Mitteilungen." "Nächst erinnerte ich im zweiten Buche von Platons Politeia die so prägnante Gegenüberstellung des äußerst Guten mit dem äußerst Schlechten. Das ist ein Vergleich der dem Wesen der Tugend ein neues Gepräge gibt, und die Spannung zwischen dem Einzelnen und der Gruppe in den Vordergrund rückt. Auch dieses zweite Buch der Politeia lese ich heute als ein Gemenge von Fragwürdigkeiten, vielleicht sogar Unsinn. Erst im hohen Alter meine ich mir dies Urteil erlauben zu können. Vorerst dünkt mich das Gleichsetzen einer denkbaren "Tugend" der Seele des Einzelnen mit einer vorstellbaren "Tugend" des Staates ein Spiel mit Worten das triftig erscheint nur solange man unterlässt es ernst zu nehmen. Nimmt man es aber ernst und denkt darüber nach, so kann man nicht umhin einzusehen, dass ich die Seele des Einzelnen lediglich als sprachliche Vergegenständlichung meines eigenen subjektiven Bewusstseins meiner selbst zu verstehen vermag; ein Wortgebilde das sich als ein Spiel mit Worten verflüchtigt sobald man es als das zu sein behauptet was es nicht ist. Die eigene Seele, und durch Erweiterung, die Seelen von anderen mir irgendwie vergleichbaren Lebewesen sind Sprachgebilde welche in beschränkter Weise dem Verständnis meiner selbst und anderer ähnlicher Menschen dienlich sind. Der Staat in den ich verwoben bin, und durch Erweiterung andere Staaten von denen ich durch (mythische) Überlieferungen beschränkte Vorstellungen hege, sind gesetzlich, sprachlich entstandene und geregelte Gefüge denen gemäß eine beträchtliche Anzahl von Menschen sich zu einander verhalten. Das es möglich ist von wünschenswerten Zuständen der Seele und wünschenswerten Zuständen der Staaten zu sprechen, besagt nicht, dass Seele und Staaten tatsächlich irgendwie vergleichbar sind, oder dass es ein von allen gegenständlichen Gegebenheiten absolutes Gutes gibt, es sei denn als sprachliche Gebilde mit ausschließlich auf Sprache beschränkter Bedeutung." "Wenn nur wegen der Grenzen der mir verfügbaren Zeit, möchte ich mich mit der Erwägung von nur zwei Fragen, nämlich der Frage um die Personalität der Ethik und der Frage um die Transzendentalität der Ethik zufrieden geben. Persona heißt Maske. Meine Maske trennt den als welchen ich mich erlebe von dem als welchem ich meinen Mitmenschen erscheine, trennt also das Innen vom Außen, das Subjektive vom Objektiven. Die Ethik, gleich der Maske, grätscht, überspannt die Kluft zwischen dem eigenen, inneren Gewissen und den öffentlichen Forderungen der Gesellschaft. Im zweiten Buch von Platons Politeia erscheint diese Kluft als die Annahme, dass es eine Gerechtigkeit der Seele des Einzelnen gibt welche sich in der Gerechtigkeit des Staates spiegelt und welche für das Wesen der Gerechtigkeit der einzelnen Seele aufschlussreich ist. Meinem Verständnis gemäß besagt Gerechtigkeit ein Urteil das im Falle eines menschlichen Richters ein Urteil über den Verklagten gemäß den staatlichen Gesetzen ist, im Falles des göttlichen Richters, gemäß den von ihm erlassenen Befehlen." "Sokrates behauptet Gerechtigkeit im Staat sei der Zustand in dem jede Klasse, die der Gebieter (Herrscher), der Wächter (Hüter) und der Handwerker und Landarbeiter (Bauern) sich auf die eigenen Aufgaben beschränkt, und es unterlässt sich in die Pflichten der anderen einzumischen." (433b). "Gerechtigkeit, wie sie im Staat dreiteilig als Kooperation der Herrscher, der Hüter und der Bauern erscheint, wird dann in der Seele des Einzelnen als ein entsprechend harmonisches Zusammenwirken von deren vernünftigen, mutigen und begehrenden Teilen beschrieben." (436b). "Diese Darstellungen der Gesellschaft und des Einzelnen scheinen mir als Politikwissenschaft beziehungsweise als Psychologie unrealistisch, unbegründet und unhaltbar. Ich erkläre sie mir als Ausübung eines neuentdeckten Vermögens der Worte eine unechte sprachliche Wirklichkeit zu inszenieren, ein Schein in welchem der ahnungslose Hörer verfangen wird. So lautet meine Erklärung der Ideenlehre. Auf die unumgängliche Spannung zwischen dem Einzelnen und der Gruppe und auf die Problematik der Seele als Hort der Gerechtigkeit weisen dann die Gleichnisse vom Allerungerechtesten der gerecht scheint ohne es zu sein, und seinem Gegenüber, der ungerecht erscheint obwohl er der Allergerechteste ist." "Transzendent sind die Bereiche die sich jenseits meines Erlebens befinden, deren Wirklichkeit ich dennoch vermuten muss. So etwa erkläre ich mir Kants Kategorischen Imperativ der mir angeblich eine Handlungsweise vorschreibt die sich bedingungslos zu einem universellen Gesetz verallgemeinern ließe, und mit dem spezifischen Hinweis bei jeder Handlung den betreffenden anderen Menschen nur als Zweck zu behandeln, niemals als Mittel. Dass derartige Gesetzgebung nur durch einen in wolkenthronenden göttlichen Richter vollzogen zu werden vermag, scheint mir unverkennbar." "Ich betrachte ein jedes Gesetz eine Anweisung die ein einheitliches Verständnis der Sprache voraussetzt, mit dem Ergebnis dass die Handlungen der dem Gesetz Unterworfenen hinfort von den Anweisungen des gegebenen Gesetzes bestimmt werden. Dabei wird die Vieldeutigkeit oder Undeutlichkeit der Sprache oftmals übersehen oder verleugnet. Die Weisungen des Kantschen Kategorischen Imperativs sind ein Beispiel das mich beeindruckt. Mich dünkt, es gibt keine Handlung meiner selbst als Einzelner oder des Staates als Gesellschaft welche sich nicht durch eine seichte Formel rechtfertigen ließe. So frage ich mich zum Beispiel, ist es gerecht, dass jemand bestraft wird der von einem beliebigen Gesetz nichts weiß, oder der es nicht versteht, wenn nur weil er der Sprache unkundig ist, oder vielleicht taub oder blind? Und was möchte es, besonders unter diesen Umständen heißen, mit dem anderen Menschen als Zweck und nicht als Mittel umzugehen? Ist es nicht unvermeidlich dass Mitglieder einer Gesellschaft von einander abhängig sind, und sich dementsprechend gegenseitig als Mittel zum Zweck des eigenen Gedeihens und Überlebens behandeln? Bezwecken nicht die vielen Gerichte samt den sie bedienenden Anwälten und Richtern die unvermeidliche Unbestimmbarkeit des Gesetzes unter gegebenen Umständen aufzuwiegen? Ich schlage vor, der einzig verlässliche gültige Sinn des Kategorischen Imperativs wie auch der platonischen Ideale, ist die Täuschung den unlöschlichen Durst nach dem Absoluten und Ewigen dennoch zu löschen." "Meine eigene Vorstellung der Ethik als der Erklärung der Handlungsweisen des Einzelnen ist empirisch, insofern sie sich zuerst mit der Frage beschäftigt wie und warum ich in gegebener Situation in einer möglich bestimmbaren Weise handle, und in welcher Hinsicht diese meine Handlung Ausdruck eines Gesellschaftsbewusstseins ist. Einleitend möchte ich dazu bemerken, dass ich meine Handlungen als unmittelbar aus einem Unbewussten oder Unterbewussten entspringend erlebe, einer Quelle die ich erst im Rückblick zu erkennen meine. Vorerst die Vorgaben meines eigenen Wohlseins, die Besorgnis nicht zu fallen, mir nicht durch Flamme, Hitze oder Kälte Verletzung, Schmerz, oder auch nur Unbehagen zuzufügen. Dies vor allem in unmittelbarer Gegenwart, aber darüber hinaus in eine zunehmend unbestimmbare Zukunft. Auch auf meine Beziehungen zu meinen Mitmenschen kommt es mir an, auf die welche mir am nächsten sind, wie etwa meine engste Familie, dann die mehr entlegenen Verwandten, Kaufleute, private und öffentliche Beamte mit denen ich zu verhandeln habe, die mir nahen und die mir entfernten Mitbürger, und schließlich die Menschen und die Menschheit der ganzen Welt. Dabei muss ich einsehen und eingestehen, dass es nicht nur Wohlwollen und Liebe, sondern zuweilen auch Argwohn und Hass sind die uns verbinden und trennen." KK Kapitel 16.4 KK in Ordnung >> Katenus beschließt - Wahrheit oder Lüge in der Gesellschaft - 12173 << "Meine Damen und Herren,"fuhr Katenus fort, "Es ist sehr lieb, großzügig gnädig und wohlgesinnt, dass ihr mich retten wollt; aber eure Mühe ist umsonst. Es ist nicht möglich. Ich bin nicht Jedermann und vermag nicht Jedermann zu werden. Ich habe meine Tage mit dem Versuch verbracht mein Leben, nein, nicht nur mein Leben, unser aller Leben zugleich als Einzelner getrennt und doch zugleich in einer Gesellschaft die uns alle bindet verschmolzen zu leben. Was ich meine gelernt zu haben, was ich schließlich einzusehen meine, lässt sich nicht aussprechen. Ich versuchte zu behaupten, unsere Gesellschaft sei nichts als ein Netz von Lügen. Diese Gesinnung aber löst sich als ein Widerspruch auf. Denn es ist ja die Gesellschaft welche die Sprache, und mit ihr die Wahrheit geschaffen hat. Außerhalb der Sprache gäbe es und gibt es keine Wahrheit. So verwandelt Gesellschaft Unwahrheit in Wahrheit und schlimmer noch umgekehrt, Wahrheit in Unwahrheit. Rettung ist nirgends. Es genügt nicht nur mit Worten zu bekennen, sich wie ein spanischer Jude bekehren zulassen, sich in irgend einem Kloster zu verkriechen oder sich als Priester einer Religion an die man längst den Glauben verloren hat zu vertarnen. Wer überleben will muss lernen, die Lüge zu leben, und das heißt die Lüge als Wahrheit zu behandeln, und das ist möglich nur, wenn man die Lüge als Wahrheit, als das einzig Wahre erkennt." So sprach Maximilian Katenus. Kapitel 16.5 >> Rechnerreparatur - 12205 << In Ordnung Zehplus wusste nicht was er von den Offenbarungen oder Bekenntissen des Maximilian Katenus denken sollte. Er entschuldigte sich, "Ich gehe fort um Wartungsarbeit an meinen Rechnern zu verrichten," sagte er, "Ich muss meine Rechner versorgen. Ich muss mich um meine Rechner kümmern, muss sie einstellen, umstellen, und reparieren; muss ihnen ab und zu ein neues Programm eingeben." In diesem Moment ertönte ein Geheul von Sirenen das für Katenus der Anlass zu einer neuen Rede wurde. "Sirenen bedeuten das Ende der Stille, das Ende der dahinströmenden Zeit," begann er. Was ist das Ende? Nicht wahr, ein jeder Bürger hat ein Recht sich gegen das Ende impfen zulassen. Um den Impfstoff gegen das Ende herstellen zu können, ist es notwendig die Art und das Wesen des Endes festzustellen, sich ein Muster des Endes zu beschaffen und sich dessen bedienen um Gegenkörper hervorzurufen. Das Ende soll - ja muss - unter allen Umständen abgewehrt, muss verhindert werden. Die Gegenwart von infinitesimalem Ausmaß in Ewigkeit umgekehrt, wie wenn der Zähler (numerator) zum Nenner (denominator) wird. Der Einzelne erlebt wie es ist einzuschlafen. Wäre der Gesellschaft etwa ein entsprechendes beschieden? Aber nein," fuhr Katenus fort. "Diese Sirenen sind nicht das Ende. Sie sind nur eine freundliche wohlgemeinte Erinnerung daran, dass es für einen jeden von uns ein Ende gibt." Weiterhin erklärte Katenus: "Überaus wesentlich ist die Einsicht, dass auch unsere naturwissenschaftlichen Errungenschaften wenngleich in einer ihnen eigenen Weise, als 'Vorstellungen' gelten müssen. Sie sind in dem Gemüt der Gemeinschaft und in dem Gemüt eines jeden Einzelnen an sprachliche und mathematische Symbole verankerte Gedankenvorgänge, mit Wirkungen welche unsere Leben wesentlich umgestalten und aus manchen Perspektiven überhaupt erst ermöglichen. Die elementaren Erleben wie etwa der Schwerkraft, des Lichtes, der Stellung, der Bewegung, der Temperatur sind mit Eigenschaften behaftet und (durchaus) vergleichbar mit zum Beispiel den Beobachtungen die wir dem Infrarot-Teleskop entnehmen das wir auf einem vom Laplace-Operator bestimmten Ort in Millionenkilometer Entfernung im Weltall aufgestellt haben, zum Beispiel auch (durchaus) vergleichbar mit den Beobachtungen über subatomare Teilchen die uns mit dem Großen Hadronen-Speicherring, dem Teilchenbeschleuniger am Europäischen Kernforschungszentrum CERN bei Genf, gelingen. Gerade weil uns besonders mathematisch-physikalische Befunde so bedingungslos zwingend als 'wirklich' beeindrucken, erscheint es mir notwendig daran zu erinnern, dass auch sie in ihrer Verlässlichkeit und Gültigkeit den Beschränkungen unseres Erkenntnisvermögens unterliegen. Mit dieser Feststellung möchte ich darauf hinweisen, dass es uns unmöglich ist die Wirklichkeitsschranken zu überwinden mit welcher uns die herkömmliche Wissenschaftsreligion beengt. Wenn ich meine jenseits allen Glaubens, im Bereich des unbestreitbaren Wissens in unbedingter Wahrheit und Wirklichkeit zu wandeln, bin ich am engsten von dem Glauben den ich so leidenschaftlich verleugne, gefesselt. So war es dereinst, so ist es jetzt, und so wird es zukünftig sein. Die Beschränkungen und die Zähigkeit dieses Glaubens ergeben sich von alters her aus der Religionsgeschichte, und neuerdings aus der Geschichte der Wissenschaften. Darstellungen der wissenschaftlichen Beschlüsse die vor 25, vor 50, vor 75, vor 100, vor 150 Jahren galten, lassen sich ohne Schwierigkeiten erörtern, und zeigen sofort dass das vermeintlich unbedingte, ewige Wissen zu jenen Zeitpunkten ein vorläufiges war, und dass der Glaube an seine unbedingte Gültigkeit dazu diente seine provisorische Vorläufigkeit zu verschleiern. Allein die Behauptung notwendigen Fortschritts welche die Forschung unvermeidlich begleitet, weist auf die Vorläufigkeit der naturwissenschaftlichen Kenntnisse und somit auf die Hinfälligkeit des Glaubens an ihre bedingungslose Verlässlichkeit. Die beschränkte Gültigkeit geisteswissenschaftlicher Errungenschaften ist ersichtlich daraus dass sie abwesend ausdrücklicher wiederholter Bestätigung, erblassen, belanglos werden und in Vergessenheit versickern." Katenus fuhr fort: "Ich erlebe Zeit und Raum, Geschehen, Gegenstand, Verursachung (Kausalität), arche, Ursache, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Anfang und Ende als unumgängliche Vorstellungen der Wirklichkeit in der ich lebe; und vermag dennoch sie mir zu erklären nur als Umstände, vielleicht unumgehbare, unvermeidliche geistige Konstruktionen die mir das Denken und Fühlen, kurz, das Erleben ermöglichen. Ich deute den unnennbaren Namen Gottes als eine vergleichbare Gegebenheit, wobei ich der Unnennbarkeit eine besondere theologische und psychologische Bedeutung anerkenne. Sie ist mir ein Hinweis auf die Sprache als Brücke zwischen Subjektivität und Objektivität, wo ich die Unnennbarkeit als Zeiger auf die Unverbrüchlichkeit der Subjektivität deute, insofern als der Subjektivität jeder Name unerträglich ist weil sie durch einen Namen objektiviert und somit gelöscht würde." "Die Überlegungen welche du uns erklärt hast, lieber Katenus, leuchten mir ein," sagte Jonathan Mengs mit betonter Liebenswürdigkeit. "Bitte entschuldige mich, wenn ich es so ausdrücke, aber ich glaube nicht dass es viele Menschen gibt die das Ausmaß ihrer Bedeutung verstehen, und deshalb kann ich mir nicht vorstellen, dass die Staatsanwälte es der Mühe wert fänden, dich derethalber zu verfolgen." "Da stimme ich mit dir überein," sagte Katenus, "denn der überwiegenden Mehrzahl der Menschen ist die Physik, und besonders die mathematische Physik ein Geheimnis das sie begaffen, bewundern und verherrlichen wenn nur um von den Schranken ihres eigenen Verständnisses abzulenken. Sie lassen sich von den Maßstäben der herrschenden akademischen Scholastik einschüchtern. Ihr eigenes Verständnis als Kriterion der Gültigkeit einzusetzen ist ihnen wohl wegen ihrer Borniertheit und Trägheit noch nie in den Sinn gekommen." "Weißt du, Jonathan, indem wir uns so unbefangen unterhalten, fällt mir auf, dass ich wesentliche Betrachtungen überschlagen habe." "Wie zum Beispiel?" fragte Mengs. "Ich habe von Naturwissenschaften und von Geisteswissenschaften gesprochen, wo die Bedeutung dieser Ausdrücke offensichtlich ein so breites Spektrum umfasst, dass sie unbestimmt bleiben müssen. Vielleicht sind sie unbestimmbar. Die Fragen was sind Geistes- , was sind Naturwissenschaften erfordern die Untersuchung eines verwickelten Themas und weisen auf die Oberflächlichkeiten meiner Worte und demgemäß meiner Gedanken. In diesem Zusammenhang möchte ich jetzt betonen, dass ich auf Ungewissheiten in beiden, in den Natur- sowie auch in den Geisteswissenschaften jeweils mit besonderen spezifischen Beschreibungen und Analysen eingehen möchte. An dieser Stelle möchte ich auf die wesentlichen Unterschiede hinweisen, zwischen geistigem Erleben das sich in einer unbegrenzten Gegenwart etliche ungezählte Male wiederholen lässt, wie etwa im Bereich der Geisteswissenschaften als einschlägiges Beispiel, das Lesen eines Prosasatzes oder der Zeile eines Gedichts. Im Bereich der Naturwissenschaften ist es ein Laboratoriumsversuch der sich etliche Male repetieren lässt. Als einfachstes Beispiel erwähne ich das Entzünden einer Flamme mit einem Streichholz oder das Hinzugießen einer Flüssigkeit in ein Reagenzglas. Ich möchte darauf hinweisen dass die Vergangenheit mir zugänglich ist nur durch Wiederholung einer einstigen Handlung in der Gegenwart; dass aber die Beschreibung, Erzählung, Geschichte, Vorstellung, dessen was einst geschah, oder was einst erlebbar war, Geschichte ist und Geschichte bleiben muss, als solche ein Ausdruck meiner Erinnerung, meines Gemüts, der unvermeidlich als Mythos erscheint. Mehr will ich jetzt über meine Beziehung zur immer wieder erlebbaren Gegenwart und zur unerreichbaren Vergangenheit nicht aussagen." "Erwägungen wie diese, sind jedoch unseren Verfolgern gleichgültig. Die sind zu stumpf um daran Anstoß zu nehmen. Was sie bekümmert, was sie erregt und weswegen sie mich abschaffen wollen, ist meine Behauptung dass unsere Gesellschaft in der Lüge besteht, dass unsere Gesellschaft Lüge ist, und nicht weil sie besonders schlecht oder böse wäre, denn das sage ich, das glaube ich, das behaupte ich keineswegs. Was ich glaube, was ich behaupte, ist dass sich die Menschen mit ihren Mitteilungen an einander unvermeidlich täuschen. Demgemäß erkenne ich die Unwahrheit als Inbegriff unserer Mitteilungen, und somit der Beziehungen unter uns. Ich gestehe, mit meinen Worten wiederhole ich das Lügnerparadox. Warum es mir unmöglich ist, meine Ansicht, meine Einsicht zu verschweigen, weiß ich nicht." "Jetzt meine ich auch die Methoden, - oder wenn ich mich des Wortes bedienen darf - die Mechanik der schulischen Vergesellschaftung, zu begreifen," fuhr Katenus fort. "Und die wäre?" fragte Mengs, "ich bin auf deine Antwort gespannt." "Ja, weißt du, wir nehmen doch immer an, dass es irgendwo eine unbedingte Wahrheit gibt, dass diese Wahrheit uns durchschnittlichen Menschen verborgen bleibt, bis sie uns durch einen intellektuellen Helden, durch einen Geistespropheten offenbart wird, den wir demzufolge als unsern Geisteskaiser verherrlichen, wie etwa Prometheus, Aristoteles, Galileo, Kopernikus, Newton, Darwin, Einstein, als den Helden dem wir das Feuer der Wahrheit verdanken. Vielleicht aber ist was meinem Gemüt übertragen wird, keine 'transzendentale' Wahrheit, sondern lediglich die Gedankenverfahren des Lehrers, des Propheten. Es ist eine heikle Frage ob ich ein geistiges Gefüge als 'wahrhaftig' anerkenne, weil es empirisch meinem Erleben, meiner Erfahrung entspricht, oder als die durch Lehrer übermittelten Behauptungen dieses oder jenes Propheten. Diese Unbestimmtheit wird akut mit der Einsicht, dass mein Wissen, dass mein Lernen, meine Assimilation an die Welt außer mir gebunden ist. Wie kann ich nun entscheiden ob meine Dummheit, ob mein Unverständnis, ob mein verfehltes Lernen, sich aus der inneren oder der äußeren, aus der eigenen oder aus der fremden Unzulänglichkeit ergibt? Die geistige Gemeinschaft fordert von mir, dass ich mich ihr füge; und weil Giordano Bruno sich solcher Fügung unfähig erwies, hat man ihn verbrannt. Weil Wahrheit im tiefsten und vulgärsten Sinne nichts ist als "common sense", sind die Fragen nach Wahrheit und Unwahrheit, nach Wirklichkeit und Unwirklichkeit, unbeantwortbar und bleiben auf ewig unbeantwortet. Man wird zum Propheten weil es einem unmöglich ist sich der Welt anzupassen - unmöglich zugleich die Welt sich zu assimilieren. Wenn seine Einsichten common sense geworden sind, dann hat der wissenschaftliche Prophet gesiegt. Aus den Flammen des Scheiterhaufens, bei der Himmelfahrt der Seele des Helden, im Sterben des Martyrers, höre ich den verzweifelten Triumphruf 'Es lebe die Unverfrorenheit.'" Katenus sagte weiter: "Das Bedürfnis mich mitzuteilen lastet auf mir. Als junger Mensch schwebte mir die Professur als der wünschenswerteste aller Berufe vor. Dann aber erwies der akademische Weg der Mitteilung sich mir wegen meiner Ünfähigkeit mich anzupassen als ungangbar. Da meinte ich versuchen zu sollen Schriftsteller zu werden. Es muss dahingestellt bleiben, ob ich auch als Schriftsteller versagte weil mir die leidenschaftliche Überzeugung der Möglichkeit des Erfolges ermangelte, oder ob es die Ahnung meiner Unfähigkeit war, die mir die Leidenschaft verbaute. Statt mich anderen mitzuteilen, statt als renommierter Professor meinen Studenten Vorlesungen zu halten, begann ich mir die eigenen Gedanken im Stillen vorzutragen und sie niederzuschreiben, begann mir mich selber mitzuteilen, zu lesen was andere geschrieben hatten, um mich dann im Stillen mit ihnen zu unterhalten und die fremden Gedanken mit den eigenen zu vergleichen. Je mehr ich fremdes und je mehr ich eigenes lese, desto eindeutiger meine Überzeugung, dass der Unterschied kaum ein qualitativer ist. Die Überlieferung, so scheint es mir, fußt nicht so sehr auf dem Inhalt der Schrift, wie auf ihrem Ruf, auf des Lesers Bedürfnis sich in eine geistige Gesellschaft einzufügen, sich die Kenntnisse des berühmten Schriftstellers anzueignen, wenn nicht gar, sich mit ihm zu messen. So hab ich nun am späten Abend meines langen Lebens Ruhe gefunden in der Einsicht, mit welcher mir einst der Zutritt zum in Staatsgeheimnisse verschleierten Lincoln Laboratory gestattet wurde: The only secret is that there is no secret. Mit Lesen, Schreiben und Denken, lass ich die Zeit verstreichen. Sie eilt dahin, und dank der Flüchtigkeit des Gedächtnisses vergeht sie mit gnadenvoller Eile." "Eure Versuche mich zu retten, sind sehr liebevoll," sagte Katenus weiter, "Ich erkenne sie an und bin euch dankbar. Aber dennoch sind eure Bemühungen vergebens. Ich will nicht lästern, dennoch kann ich nicht umhin zu bekennen: ἐγὼ εἰς τοῦτο γεγέννημαι καὶ εἰς τοῦτο ἐλήλυθα εἰς τὸν κόσμον ἵνα μαρτυρήσω τῇ ἀληθείᾳ: Ich bin dazu geboren und in die Welt kommen, dass ich die Wahrheit zeugen soll. Johannes 18:37. Das ist es, daran liegt der Haken, der mich verfängt und es unmöglich macht mich zu retten. Denn die Wahrheit die zu verkünden ich mich gedrungen fühle, ist dass es keine Wahrheit gibt. Überall begegne ich Menschen die meinen im Besitz der Wahrheit zu sein, deren Stolz ihre Wahrheit ist, und die sich ihrer Wahrheit rühmen. Weil ihnen meine Wahrheit, dass es keine Wahrheit gibt, unerträglich ist, bin ich ihnen unerträglich. Weil ich ihnen unerträglich bin, haben sie keine Wahl als zu versuchen mich aus dem Wege zu schaffen. Ihr meint es gut mit mir, aber ich glaube nicht, dass es Euch gelingen wird ihnen zu widerstehen." "Das Gedicht ist die eigentliche Erscheinung der Sprache, ist uns als solches der Schlüssel zum Verständnis aller Mitteilung welche sich der Sprache bedient. Dichten ist das Gestalten erlebbarer Wirklichkeit aus Worten. Im Gedicht wird Sprache zur Wirklichkeit. In Betracht der Umstände, dass auch Zahlen mit Namen bezeichnet sind, dass wir nicht umhin kommen vom Unendlichen und Infinitesimalen, von Punkten, Linien, Flächen, Körpern, Dimensionen zu sprechen, dass Mathematik beansprucht auf Logik zurückgeführt zu werden, und dass Axiome und Schlüsse sie beweisen sollen, möchte letztlich auch die Mathematik als sprachlich begründet verstanden werden. Als Bestätigung möchte ich darauf hinweisen, dass sich jeder mathematische Satz in Worte übersetzen lässt, während das Gegenteil, ein Gedicht in außersprachlichen mathematischen Symbolen unvorstellbar ist." "Der Versuch die Religion zu verstehen muss den Widerspruch erklären, dass Religion einerseits als eine äußerliche Verfügung der Gesellschaft erscheint, und andererseits als ein innerliches individuelles Erleben des Einzelnen. Ich deute die Entdeckung oder Erfindung des Gottes als Ausdruck des Bedürfnisses des Einzelnen sein subjektives Erleben mit anderen Menschen zu teilen; sich mit ihnen über dies Erleben zu verständigen; zugleich aber auch als Anspruch der Gesellschaft sich gegen das subjektive Erleben des Einzelnen zu verwahren. Religiöse Überzeugung ist oftmals so zwingend, dass der von ihr Befangene bereit ist für sie zu kämpfen, für sie zu leiden, für sie zu sterben. Mit dieser Feststellung ist besagt weder dass die Religion vorteilhaft noch dass sie nachteilig ist. Religion ist Leidenschaft, ist Leiden, das manchmal erbaulich erscheint und manchmal verderblich." Kapitel 16.7 >> Zusammenfassung - 12455 << In Ordnung "Mir scheint," sagte Katenus, "unsere Versammlung hat uns zu einem leidlich annehmbaren Beschluss gebracht, den ich verschiedentlich ausführen möchte. Mir scheint in Anbetracht der Großzügigkeit und des Zuvorkommens von Herrn Zehplus die Verfolgungsgefahr für unsere Döhringhausfamilie, einbeschlossen meiner Elly und meiner selbst, für die voraussehbare Zeit, wesentlich verringert, wenngleich nicht ausgeschlossen. Das öffentliche Opferbedürfnis scheint mir von uns vorübergehend abgelenkt. Unvoraussehbare Umstände werden ergeben wo und wann und ob überhaupt es eines Tages erneut auf uns zielen wird." "Wir stimmen überein, dass die Digitalisierung unsere Regierung wesentlich verwandelt hat, und wir sehen hier und jetzt eine Gelegenheit sie zu einer besseren umzugestalten. Wir haben einander reichlich dargelegt, dass unser Verständnis unserer selbst als Einzelne, unserer Gesellschaft als Gemeinschaft, und unserer Regierung als Vermittlerin zwischen Einzelnen und Gesellschaft auf der Sprache beruhen. Die Eindeutigkeit und Verlässlichkeit der Sprache ist von entsprechend großer Bedeutung für die Qualität unserer Regierung und für unser aller gemeinsames und individuelles Wohlergehen." "In Abwesenheit der elektronischen Rechner würden wir versuchen die Verlässlichkeit der Sprache, die wir als Wahrheit loben, durch weitverbreitete gesellschaftliche, ins Besondere erzieherische, Bemühungen zu gewährleisten. Das ist ein Unternehmen von ungeahnter Schwierigkeit, wenn nur weil es oftmals bis zur Unmöglichkeit fragwürdig ist im gegebenen Falle zu bestimmen was als wahr und was als unwahr zu betrachten wäre, und schwieriger noch eine allgemeine Regel zu entwerfen dies im einzelnen Falle festzustellen. Ich vermute, dass der Sinn und die Gültigkeit der Eingaben in die Rechner ihre eigenen, uns jetzt unvorhersehbaren Eigenschaften ausweisen werden, und dass wir keine Wahl haben als mit systematischem Probieren empirisch vorzugehen." Kapitel 16.8 >> Der Einzelne und die Gesellschaft - 12504 << In Ordnung "Ich finde es bemerkenswert." sagte Jonathan Mengs, "dass das Kernproblem, das Wurzelproblem, das Schlüsselproblem des Regierens das wir zu lösen beanspruchen, unmittelbar in unserer Mitte, oder wenn ich es so sagen darf, zu unseren Füßen liegt." "Wie meinst du das?" fragte Joachim. "Eben so, dass wir hier sitzen, und uns besprechen, und miteinander in Worte gekleidete Gedanken austauschen infolge deren wir einmütig handeln." "Das finde ich ein Widerspruch, denn wir wir sind einzelne Menschen, und jeder von uns vermag nur als Einzelner zu handeln." "Da hast du Recht und Unrecht zugleich. Und diese Tatsache des zugleich Recht- und Unrechthabens ist ein Spiegelbild wovon? Vielleicht von der Unzulänglichkeit der Sprache, vielleicht von unserer Doppelnatur als Einzelne und als Gesellschaftswesen. Diese Doppelnatur, finde ich, kommt zum Ausdruck nicht nur in der Gestalt der Regierung sondern auch in dem Schicksal des Staates. Das sind zwei bedeutende Themen. Ich will versuchen sie zu erläutern." "Was die Gestalt der Regierung anbelangt, so scheint mir der Staat als ein offensichtliches Kompromiss zwischen dem Einzelnen und den Vielen. Die Menschenherde bedarf einen einzelnen Menschen der sie leitet. Daher neigt jeder Staat zur Monarchie oder was dasselbe besagt, zur Diktatur. So versagt auch die Demokratie insofern als sie einen Vorsitzenden, Präsidenten, Ministerpräsidenten oder Premierminister bedarf sie zu führen, einen Leiter der durchs Volk gewählt wird. Die Fragen aber, was heißt wählen, und was heißt gewählt werden, sind weit entfernt von jeder Antwort. Wenn wir die Rechnerprogramme für Wahlen, Wahlorte und Wahlzählungen ausarbeiten, müssen wir uns mit diesem Thema weiter auseinandersetzen." Kapitel 16.9 >> Bedrohungen für die Gesellschaft - 12539 << In Ordnung "Die wesentlichste Bedrohung für die Gesellschaft ist der Krieg, von außen und im Inneren. Ich erkläre mir beide Erscheinungen des Krieges als übertragener Ausdruck des unausweichlichen Bedrohtseins der Existenz des Einzelnen. Es ist das Wesen der Menschen mit einander zu eifern, um Nahrung, um Beute, um Besitz, und dass sie deretwegen naturgemäß mit einander streiten, dass aber die Vergesellschaftung, der Staat ihnen dient diese Streitsucht zu beschwichtigen, zu bändigen." "Mir scheint dass die Schlichtungen des inwendigen Streites allenfalls in unseren fortgeschrittenen Staaten wesentlich erfolgreich sind. Das Identitätsbewusstsein aber, das Identitätsbedürfnis ist im Einzelnen so tief verwurzelt, dass er es nicht zu entbehren vermag, und dass die Gesellschaft ihm erträglich und annehmbar wird, erst dadurch dass er sein Identitätsbewusstsein auf seine Familie, auf sein Dorf, auf seine Stadt, auf sein Land überträgt; dass er sich auf all diesen Gesellschaftsstufen 'zuhause' vorkommt, und wie er sich als Einzelner von seinem nächsten Einzelnen bedroht fühlt, so überträgt er seine Bedrohtheitsangst und seine Angriffslust auf sein Volk, auf sein Land, auf seinen Staat und kämpft für das Leben seiner Gesellschaft, seines Staates, oder sollte es heißen seiner Herde, wie für sein eigenes Leben. Eine scheinbar nächstliegende Lösung wäre die Einfügung einzelner Staaten in einen alles umfassenden Weltstaat. Dies ist kein neuer Vorschlag. Er wurde am Ende von verschiedenen verheerenden Kriegen in Erwägung gezogen, und wurde verschmäht und wird auch heute ungeachtet der Gefahr entsetzlich zerstörender Atomkriege abgelehnt. Es ist überaus wichtig zu versuchen zu verstehen warum." "Die Gesellschaft wird durch die äußere Feindschaft gestärkt, sie kann den Krieg nicht entbehren. Sie ist von ihm abhängig. Die innere Vergesellschaftung jeder Familie, jeder Stadt, jedes Landes, jedes Staats wird durch die kriegerische Bedrohung von außen befestigt, und manchmal so scheint es, überhaupt erst ermöglicht. Es gilt für die gefälligste Demokratie wie für die ärgste Tyrannei: Durch nichts wird eine Gesellschaft mehr konsolidiert, mehr gestärkt als durch einen Angriff, durch einen Krieg von außen." "Ich verstehe den Staat als einen Organismus wie der Körper des Menschen, der den verschiedensten Gefahren ausgesetzt ist, und dessen Schicksal es ist, ungeachtet der klügsten und getreuesten Ärzte, zu erkranken, und schließlich eines Tages zu sterben. Es ist ebenso betrügerisch dem Staat ungetrübte Gesundheit und nimmer endendes Bestehen als erreichbares Ziel vorzugaukeln wie einem Menschen ewiges Leben. Abwesend eines Kriegs von außen, fühlt der schwache Bürger sich von dem Staat dem er anhängt, gefesselt, beengt, und in ihm gefangen. Der Kampf gegen den äußeren Feind ist die Behauptung des Einzelnen auch gegen die unmittelbare Gesellschaft, die ihn anderweitig zu erdrosseln droht. So erkläre ich mir den freiwilligen Heeresdienst der drei Söhne meines väterlichen Großvaters." Das hatte Moritz Möchtegern erklärt. KK 17. Kapitel KK Begutachet, in Ordnung >> Jeremias Zehplus Überblickt künstliche Intelligenz - 12605 << Jeremias Zehplus sagte, "Unsere Besprechung ist sehr ergiebig. Ich wage zu behaupten, dass sie unsere Problematik ihrer Lösung näher gebracht hat. Ich ziehe zusammen und wiederhole. Die Gefahren der Verfolgung von Maximilian Katenus und Elly Solmsen sind, ich möchte nicht behaupten endgültig und völlig beseitigt, aber doch wesentlich verringert. Die einschlägigen Karteien hab ich, wie ich erwähnte, gelöscht und verschlossen. Die unmittelbare Gefahr ist behoben." Karl Folterer sagte, "Wir dürfen es aber nicht vergessen, und ich möchte darauf hinweisen, dass es unvermeidlich ist, dass eine Verfolgungsgefahr bestehen bleibt." "Warum?" "Weil die Gesellschaft, weil der Staat des Opfers bedarf, und nicht nur eines einzigen Opfers, womit dann das Problem ein und für alle Mal gelöst wäre." "Das war ja der Versuch des Christentums den Gott selbst, oder allenfalls seinen Sohn für die gesamte Menschheit ein und für alle Mal zu opfern. It didn't work as proposed. Es ging nicht wie vorgesehen. Der am Kreuz geopferte Gott hat zwar viel Trauer, Mitleid und vielleicht auch Liebe ausgelöst, und hat eine mächtige Religion gestiftet, aber an der Tatsache dass das Volk das Opfer bedarf, wie der Hohe Priester den Juden riet, 'Es wäre gut dass ein Mensch würde umbracht für das Volk' hat es nichts geändert." "Und eben dies ist die Gefahr die wir im Auge behalten müssen: Das Opfer ist der Mensch der anders ist, dem es unmöglich ist sich in die Gesellschaft zu fügen und als ein Teil der Herde in ihr zu leben. Ich denke an Giordano Bruno, der es nicht unterlassen konnte sich mit seinen Kollegen an jeder Universität wo er sich habilitierte auseinanderzusetzen, mit dem Ergebnis dass man ihn schließlich in Rom auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Ich möchte in aller Achtung, in aller Ehrfurcht, in aller Demut, und wenn mir das Wort erlaubt ist, in aller Liebe darauf hinweisen, dass ich befürchte Herr Katenus möchte auch hinfort das Bedürfnis, wenn nicht gar die Notwendigkeit spüren als ein Besonderer zu erscheinen, sich abzutrennen, sich durch seine Individualität, durch sein Verständnis, durch seine Einsichten zu behaupten, endgültig als Einzelner zu erscheinen und somit wiederum als Ziel des allgemeinen Verfolgungsbedürfnisses aufzutreten." "Für diese klugen und einsichtigen Erklärungen sind wir alle in ihrer Schuld," sagte Jonathan Mengs. "Die Vorgänge zu begreifen und ihre Folgen vorauszusehen scheint mir ein wesentlicher Vorteil, denn zu wissen was bevorsteht, was zu erwarten und zu befürchten ist, macht es möglich der Gefahr vorzubeugen." Diese Erwägungen schienen bei Zehplus lebhafte Gedanken auszulösen. "Zum ersten Mal," sagte er, "vermag ich mir von den Verflechtungen der menschlichen Gesellschaft welche sich aus der Verwaltung und Regierung eines Staats ergeben, ein klareres Bild zu machen, und was ich zu sehen meine ist dass die elektronische Rechnertechnik außerordentlich geeignet ist, diese Verwicklungen zu bearbeiten und eventuell zu lösen. Ich sehe," erklärte er, "wenn ich es so sagen darf, in diesem Problem eine hervorragende Aufgabe für die künstliche Intelligenz. Grundlegend schwebt mir vor das Erfassen aller Gedanken und Gefühle, aller geistigen Eindrücke und Ausdrücke, dazu die Worte, die Gesten, die Bewegungen der Augen und der Glieder aus welchen die Augenblicke, die Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre des Lebens des einzelnen Menschen bestehen; des ersten, des zweiten, des dritten, und so fort, bis man erst einen brauchbaren, dann einen beträchtlichen Teil und schließlich die Gesamtheit der Gesellschaftsgesinnungen in dieser Weise elektronisch registriert und gespeichert hat. Selbstverständlich wäre es unmöglich die Gesamtheit der Daten in ein Paar Stunden oder auch nur in ein Paar Tagen einzusammeln. Aber das Notwendige, und ich schlage vor das einzig Notwendige, ist der Anfang. Denn mit dem Anfang kunstgerecht angelegt, fährt die Entwicklung dieses Projektes von selber fort. Und wenn es richtig begonnen wird, dann ist dies Unternehen schon von Anfang an nützlich, so nützlich als wäre es schon längst völlig entwickelt, und vielleicht sogar nützlicher noch." "Wieso das? Wie kann ihre Anlage, ihr Programm sich bewähren, wenn doch die Datenspeicherung noch unvollständig ist?" so forderte Jonathan Mengs mit einem Anflug von Ungeduld. "Die Vorlage für diesen Erfolg," sagte ein Anderer, es war die Stimme des Staatswissenschaftlers Karl Folterer, "ist die Eigenart des gesellschaftlichen Schließens überhaupt, das stets am Aufbruch ist, und stets ein unerreichbares Ende erblickt. Als treffendste Vorlage nenne ich die Wissenschaft, in deren Bereich alle Kenntnisse unvermeidlich stets vorläufig und von stark beschränkter Gültigkeit sind, wirksam aber, oftmals sehr wirksam, wegen des Glaubens der sie bestätigt und legitimiert. Klar und ehrlich erkannt: das Wissen, das Gewusste, ist ein Teil meines Geistes, meines Gemüts und bedarf keines Glaubens. Das Ungewusste, das vielleicht Unwissbare das mein Ich, das mein Geist zu seiner Vollständigkeit bedarf, wie etwa der Mythos von der Wahrheit, von der Gerechtigkeit, von der Auferstehung, vom ewigen Leben, vom letzten Gericht, vom Paradies, und von der Hölle, das sind gehörige, vielleicht unentbehrliche Gegenstände meines Glaubens." LXX Genesis 11:1 καὶ ἦν πᾶσα ἡ γῆ χεῖλος ἕν καὶ φωνὴ μία πᾶσιν 2 καὶ ἐγένετο ἐν τῷ κινῆσαι αὐτοὺς ἀπὸ ἀνατολῶν εὗρον πεδίον ἐν γῇ Σεννααρ καὶ κατῴκησαν ἐκεῖ 3 καὶ εἶπεν ἄνθρωπος τῷ πλησίον δεῦτε πλινθεύσωμεν πλίνθους καὶ ὀπτήσωμεν αὐτὰς πυρί καὶ ἐγένετο αὐτοῖς ἡ πλίνθος εἰς λίθον καὶ ἄσφαλτος ἦν αὐτοῖς ὁ πηλός 4 καὶ εἶπαν δεῦτε οἰκοδομήσωμεν ἑαυτοῖς πόλιν καὶ πύργον οὗ ἡ κεφαλὴ ἔσται ἕως τοῦ οὐρανοῦ καὶ ποιήσωμεν ἑαυτοῖς ὄνομα πρὸ τοῦ διασπαρῆναι ἐπὶ προσώπου πάσης τῆς γῆς 5 καὶ κατέβη κύριος ἰδεῖν τὴν πόλιν καὶ τὸν πύργον ὃν ᾠκοδόμησαν οἱ υἱοὶ τῶν ἀνθρώπων 6 καὶ εἶπεν κύριος ἰδοὺ γένος ἓν καὶ χεῖλος ἓν πάντων καὶ τοῦτο ἤρξαντο ποιῆσαι καὶ νῦν οὐκ ἐκλείψει ἐξ αὐτῶν πάντα ὅσα ἂν ἐπιθῶνται ποιεῖν 7 δεῦτε καὶ καταβάντες συγχέωμεν ἐκεῖ αὐτῶν τὴν γλῶσσαν ἵνα μὴ ἀκούσωσιν ἕκαστος τὴν φωνὴν τοῦ πλησίον 8 καὶ διέσπειρεν αὐτοὺς κύριος ἐκεῖθεν ἐπὶ πρόσωπον πάσης τῆς γῆς καὶ ἐπαύσαντο οἰκοδομοῦντες τὴν πόλιν καὶ τὸν πύργον 9 διὰ τοῦτο ἐκλήθη τὸ ὄνομα αὐτῆς Σύγχυσις ὅτι ἐκεῖ συνέχεεν κύριος τὰ χείλη πάσης τῆς γῆς καὶ ἐκεῖθεν διέσπειρεν αὐτοὺς κύριος ὁ θεὸς ἐπὶ πρόσωπον πάσης τῆς γῆς KJV Genesis 11 1 And the whole earth was of one language, and of one speech. 2 And it came to pass, as they journeyed from the east, that they found a plain in the land of Shinar; and they dwelt there. 3 And they said one to another, Go to, let us make brick, and burn them thoroughly. And they had brick for stone, and slime had they for mortar. 4 And they said, Go to, let us build us a city and a tower, whose top may reach unto heaven; and let us make us a name, lest we be scattered abroad upon the face of the whole earth. 5 And the Lord came down to see the city and the tower, which the children of men builded. 6 And the Lord said, Behold, the people is one, and they have all one language; and this they begin to do: and now nothing will be restrained from them, which they have imagined to do. 7 Go to, let us go down, and there confound their language, that they may not understand one another's speech. 8 So the Lord scattered them abroad from thence upon the face of all the earth: and they left off to build the city. 9 Therefore is the name of it called Babel; because the Lord did there confound the language of all the earth: and from thence did the Lord scatter them abroad upon the face of all the earth. Luther 1545 1. Mose XI. 1 ES hatte aber alle Welt einerley zungen vnd sprache. 2 Da sie nu zogen gen Morgen / funden sie ein eben Land / im lande Sinear / vnd woneten daselbs. 3 Vnd sprachen vnternander / Wolauff / lasst vns Ziegel streichen vnd brennen / Vnd namen ziegel zu stein / vnd thon zu kalck / 4 vnd sprachen / Wolauff / Lasst vns eine Stad vnd Thurn bawen / des spitze bis an den Himel reiche / das wir vns einen namen machen / Denn wir werden vieleicht zerstrewet in alle Lender. 5 DA fur der HERR ernider / das er sehe die Stad vnd Thurn / die die Menschenkinder baweten. 6 Vnd der HERR sprach / Sihe / Es ist einerley Volck vnd einerley Sprach vnter jnen allen / vnd haben das angefangen zu thun / sie werden nicht ablassen von allem das sie furgenomen haben zu thun. 7 Wolauff / lasst vns ernider faren / vnd jre Sprache da selbs verwirren / das keiner des andern sprache verneme. 8 Also zerstrewet sie der HERR von dannen in alle Lender /das sie musten auffhören die Stad zu bawen / 9 Da her heisst jr name Babel1 / das der HERR daselbs verwirret hatte aller Lender sprache / vnd sie zerstrewet von dannen in alle Lender. "Wisst, ihr," sagte Katenus," Es gibt nichts Neues auf der Erden, wahrhaftig alles wiederholt sich, und es gibt nichts, dass nicht schon einmal dagewesen wäre." "Wenn ich künstliche Intelligenz bedenke, erinnere ich den Turm von Babel. Zweck und Ziel dieser elektronischen Sprache ist die Einheitlichkeit der Anschauungen, Gefühle und Urteile der Menschen zu bewirken. Ob dies wünschenswert wäre, ist die eine Frage, ob es überhaupt möglich, ist die andere. Die Geschichte vom Babelschen Turm bewährt sich bis auf den heutigen Tag, und wir sind Zeugen vom Entstehen neuer Sprachen und von den Wandlungen und vom Vergehen bestehender Sprachen. Ich bezweifle nicht dass künstliche Intelligenz eine Verwandlung der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung einleitet, welcher Art weiß ich nicht. Aber dass künstliche Intelligenz die Vorläufigkeit und Veränderlichkeit unseres Daseins aufheben sollte, ist mir unvorstellbar. Ich betrachte künstliche Intelligenz als eine Abwandlung der Geistigkeit und wenn sie als solche unter Umständen das Überleben der Menschheit bedroht, so ist diese Bedrohung vergleichbar mit den etlichen anderen Bedrohungen von Deus sive Natura eingeleitet, Naturkatastrophen denen wir preisgegeben sind, Atomkrieg, Erderwärmung, Überbevölkerung, Seuchen, Meteoreneinbruch. Ach, man kommt aus der Angst nicht 'raus!" Zu diesen Feststellungen von Katenus hatte Zehplus nichts zu sagen, und es muss unbestimmt bleiben, ob er sie gehört hatte. "Ich möchte mich bei ihnen entschuldigen," sagte Zehplus, "dass ich sozusagen voraus gedacht habe, und die Karteien die man zu dem von mir vorgeschlagenen Verfahren benötigen möchte, längst entworfen habe, so dass es mir schon seit einiger Zeit möglich ist, die Methode die ich vorschlage allenfalls probeweise anzuwenden." Dies Bekenntnis versetzte die Anwesenden in Verwunderung. Ein jeder fragte sich, wenn auch nur im Stillen, wie groß der Bestandteil seiner eigenen innersten Gedanken dieser offensichtlich so kompetente Rechnerwissenschaftler schon ermittelt haben möchte. Schließlich sagte Jonathan Mengs, "Ihren Vorschlag, Herr Zehplus, finde ich sehr interessant,mehr noch, sehr anregend. Doch ergibt sich daraus eine Problematik die ich kaum zu verdeutlichen vermag, geschweige denn sie zu entwirren. Bedarf doch, wenn ich nicht irre, ein jeder von uns seinen eigenen von seinen Mitmenschen abgeschiedenen Bereich der Existenz, und diese Einsamkeit beabsichtigen Sie nun mittels ihrer Rechnertechnologie zu verbieten, auszuschließen, unmöglich zu machen." Darauf antwortete Karl Folterer, "Sie haben recht, Herr Professor Mengs. Ich stimme mit ihnen überein und teile ihre Besorgnis. Doch hege ich drei Vorbehalte, von denen der erste wäre, dass wir Menschen über die Fähigkeit verfügen die uns überhaupterst das Überleben ermöglicht, uns anzupassen, uns zu assimilieren, uns zu verwandeln. Bedenken wir doch dass wir es gelernt haben mit dem Feuer umzugehen, mit der Schrift, mit dem Pulver, mit der Druckerpresse, mit der Elektrizität, mit den Ätherwellen, und zuletzt, jedenfalls vorläufig, mit der Kernenergie. Mein zweiter Vorbehalt wendet sich zur Unverlässlichkeit all unserer Voraussagungen. Wie Sie, erkenne ich dass die Entwürfe des Herrn Zehplus die durchdringende Zurkenntnisnahme und Kontrolle unser aller Geistesleben als Einzelne und als Gesellschaft zur Folge haben möchten, aber in welchem Ausmaß und besonders, wie unabänderlich, wage ich nicht zu prophezeien." Dazu bemerkte Karl Folterer, "Wenn wir bisher noch nicht dazu gekommen sind, die gegenwärtige Lage zu beschreiben, dann möchten wir jetzt einig werden in dem Beschluss, dass das wirksamste ergiebigste Vorgehen die Sanierung unserer Regierung, unseres Staates einzuleiten ist eine solche Beschreibung herzustellen, und zu erzählen, wie wir diesen Punkt erreicht haben. Nun müssen wir besprechen, und wenn es möglich ist, uns darüber einigen wie wir unseren Staat sanieren, wie wir ihn heilen, ihn reparieren, wie wir einen besseren Staat einsetzen." Zuerst aber," wandte Katenus ein, "möchte ich erklären, dass ich solange ich zu erinnern vermag, und ins besondere die letzten vierzig Jahre, mit dem Versuch verbracht habe meine Erfahrungen und mein Erleben von der Welt und von der Gesellschaft in der ich lebe mir selber zu erzählen, und was ich meine erkannt zu haben zu beschreiben. Dass ich dafür der Sprache bedurfte ist selbstverständlich, aber dass ich mich der deutschen statt der englischen Sprache, die ich ebenfalls zu beherrschen meine, bediene, hat eine besondere Bedeutung und ist einer Welt die sämtlich Sprachen gleichschaltet und meint das jede Sprache sich in jede andere Sprache übersetzen lässt nicht nur nicht selbstverständlich sondern unverständlich. Ich gebe zu, dass es ein Fehler, und vielleicht ein sehr großer Fehler ist, anzunehmen dass ein jeder von uns vom Nächsten ununterscheidbar ist, dass ein jeder von uns taugt mit jedem anderen ausgewechselt zu werden. Ich hingegen denke dass dies nicht der Fall ist, aber dass derjenige der meint sich von seinen Mitmenschen unterscheiden zu können, unterscheiden zu sollen, und letzten Endes anders als sie sein, also ein besonderer Mensch sein zu müssen, dieses unveräußerlichen Anspruchs halber von seiner Gesellschaft ausgeschlossen, von ihr verfolgt und letztlich von ihr zerstört wird. Das, in knappster Form, ist mein Schicksal. Und wenn ich am Leben bleibe, so ist es um meiner geliebten Elly willen, die zu schützen, zu bewahren und zu erhalten, der Sinn des mir noch übrig bleibenden Lebens ist. Was aber meine Beziehung zur deutschen Sprache anbelangt, bin ich der Überzeugung, dass diese ein Instrument ist an dem mein Geist und mein Erleben sich im Verlauf der Jahrzehnte entwickelten, und das zu deren Darstellung unentbehrlich ist." "Man mag für sein Denken einen objektiven und einen subjektiven Ansatzpunkt erwägen. Der objektive Ansatzpunkt wäre etwa: Genesis 1:1 ἐν ἀρχῇ ἐποίησεν ὁ θεὸς τὸν οὐρανὸν καὶ τὴν γῆν. Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Darüber vielleicht mehr, später, wenn Zeit und Kraft es erlauben. Als subjektiver Ansatzpunkt möchte auf Descartes "Cogito ergo sum" gewiesen werden, aber dieser Ansatz wäre nur äußerlich, quasi als Weiser zu einer anderweitig unerreichbaren transzendentalen Subjektivität welche ich mit dem Wort Bewusstsein bezeichne, wobei Bewusstsein nichts ist was man sehen, hören, riechen oder betasten könnte, sondern lediglich etwas das einem Menschen, und vermutlich jedem "bewussten" Menschen von Augenblick zu Augenblick gegenwärtig ist oder gegenwärtig zu sein vermag. Dergleichen Bewusstsein ist die allgegenwärtige Unterlage jeder Empfindung, jeder Wahrnehmung, jeder Handlung, wobei zu bemerken und zu betonen ist, dass das Kind zwar über Bewusstsein verfügt, dass es aber beträchtlicher Bildung bedarf bis der erwachsende Mensch sich dieses Bewusstseins das sein Erleben von jeher untermauert hat, gewahr wird." "Ein wesentlicher Ausschlag des Bewusstseins ist die Bestimmung der Vergangenheit. Ein jeder von uns stellt sich vor, über eine Erinnerung zu verfügen, lebhaft oder blass, wie es die Umstände gebieten, von dem was er vor bestimmter Zeit, sagen wir vor 10 Minuten oder vor einer Stunde, vor einem Tag, vor einer Woche oder gar vor einem Monat gehört, gedacht, gesehen, gefühlt, gesagt oder geschrieben hat. Wird er dann aber herausgefordert, von sich selber oder von einem anderen, das einstige Erleben zu wiederholen, so mündet der Versuch der Wiederholung des Vergangenen in ein erbärmliches Versagen. Nur das Niedergeschriebene, das Aufgezeichnete, das photographisch oder elektronisch Bewahrte, nur die Urkunde, nur der als Museumstück aufbewahrte Gegenstand vermag die Verbindung mit der Vergangenheit herzustellen, und tut dies nur indem er in quasi betrügerischer Weise gebraucht oder missbraucht wird ein Scheinbild, ein Trugbild der Vergangenheit zu vergegenwärtigen, und somit den Schein, dass die Vergangenheit zugänglich wäre, zu erwecken und zu nähren. Aber genauer und kritischer bedacht, ist die Vergangenheit bedingungslos unerreichbar." "Die einzige mir zugängliche Zeit, die Zeit in der ich wahrnehme, denke, fühle und handle, ist die unberechenbare Gegenwart. Die messbare Zeit hingegen liegt in dem der Anschauung fremden Bereich der mathematischen Physik. Der Schnittbereich wo Gegenwart und berechnete Zeit einander überlagern ist von besonderem Interesse. Ich wünsche mir Zeit, Kraft und Gelegenheit diesen Ort in Einzelheiten darzustellen." "Meine Entdeckung, meine Bestimmung, dass die Vergangenheit meinem Gedächtnis, meinem Gemüt unerreichbar ist, hat weittragende Folgen. Am unmittelbarsten und vielleicht das Wesentlichste ist, dass der Anspruch auf die geisteswissenschaftliche Zuverlässigkeit der Geschichte die Vergangenheit darzustellen 'wie es eigentlich gewesen' als Fata Morgana anerkannt werden muss. Je näher ich dem Ziel meiner historisch wissenschaftichen Forschung komme, desto unmöglicher erscheint es mir dies Ziel zu erreichen, und umso offensichtlicher wird es, dass ich zum Vertreiber eines Mythos geworden bin. So ist der Mythos eine Vergangenheitsfantasie in welcher das was zum Ausdruck kommt, nicht eine erreichbare zwingende Vergangenheit - wie es eigentlich gewesen - ist, sondern der Wunsch, die Sehnsucht, das Verlangen und die Einbildungskraft des Erzählers, des Historikers." "Umso wichtiger ist die mir über die Vergangenheit zu Verfügung stehenden schriftlichen, photographischen, elektronischen und museumsartigen Urkunden in akribisch rationaler verantwortungsvoller Weise zu verarbeiten um mich in den unerlässlichen Vorstellungen der mir zugegeben unerreichbaren Vergangenheit zu orientieren, um mir diese zunutze zu machen. Das ist eine Aufgabe die viel leichter angekündigt als erfüllt wird." "Der Bericht von Herrn Zehplus stellt eine Herausforderung in Hinsicht auf den Gebrauch der so vielseitigen und wirksamen zeitgenössischen elektronischen Technik zur Kontrolle der Wahlergebnisse dar. Dürfen, können, müssen wir Stellung dazu nehmen?" "Eine Stellungnahme scheint mir unausweichlich, denn was Herr Zehplus uns über die Abänderung, sollte ich sagen Fälschung, oder sollte ich beschönigend sagen, Eichung der Wahlergebnisse berichtet, ist von den geläufigen Vorstellungen abwegig in einem Maße, dass unser Schweigen dazu unser Gutachten bekunden würde. Ich meine wir sollten die Gelegenheit dazu Stellung zu nehmen nicht versäumen." "Zugrunde liegt die Problematik des politischen Wählens. Das Leben, das Erleben, die Erfahrungen, kurz, die Umstände unter welchen ein Wähler oder eine Gruppe von Wählern ihre Tage verbringt wird mit wenigen Sätzen, oftmals nur einem einzigen Satz von Feststellungen beschrieben, welche die Existenz des Einzelnen in wesenlosem Ausmaß, und in sehr unterschiedlicher aber stets in unverkennbar unzulänglicher Weise widerspiegeln. Dabei wandelt sich die Lebenswelt in ein Gefüge wörtlicher Bedeutungen in unbestimmtem und tatsächlich unbestimmbaren Verhältnis zum zwingenden Erleben des Einzelnen in seiner jeweiligen Gegenwart. Dieses seichte Gefüge in nichts als Worten wurzelnder Vorstellungen ist die Bühne auf welcher der Kandidat sich für ein Wahlamt aufstellen lässt, mit den ausdrücklichen Versprechen die eingebildeten Bedürfnisse der umworbenen Wähler zu befriedigen, ihren Wünschen nachzukommen, ihre Hoffnungen zu verwirklichen, und ihre Ängste zu beschwichtigen. Um die Unzuläglichkeiten der Mitteilungen aufzuwiegen, stellt sich der Kandidat seinen Wählern als ein liebenswürdiger Mensch vor, mit dem es angenehm wäre ein Glas Bier oder eine Tasse Kaffee zu trinken, eine Runde Golf oder eine Partie Tennis zu spielen." "Worauf ich hinweisen möchte ist, dass die Beziehung des Beamten zu dem einzelnen Wähler dessen 'Stimme' es ist die dazu beiträgt den Beamten in sein Amt zu befördern, so gezwungen und gekünstelt ist, dass ein nachdenklicher Mensch ich sie nicht ernst zu nehmen vermag. Vergleichbar unsinnig ist das so hoch gepriesene Wahlrecht an sich, welches das Bedürfnis des Einzelnen, gehört, verstanden und gewertet zu werden in so jämmerlich übereinfachter Weise verhöhnt, verspottet und verrät. Ich gestehe, dass meine diesbezüglichen Ansichten sich weit vom herkömmlichen Maßstab entfernt haben, so weit, dass hätten wir das Aufstellungsverfahren der Verfolgungskarteien nicht bereinigt, ich befürchten müsste wegen der klaren Darlegung meines Verständnisses in die Liste der Verräter des Volkes eingetragen zu werden." "Man möchte zugeben, dass ich gedanklich im Recht bin, dass meine Beschreibungen der Wahl, des Wählers und des Gewählten unbestreitbar sind, zugleich aber behaupten, dass diese Gesellschaftsordnung die wir Demokratie nennen, wenngleich von Vollkommenheit weit entfernt, dennoch die Beste der uns verfügbaren Regierungssysteme ist. Man verlangt von mir bis ich etwas besseres zu empfehlen habe, mich in das gegebene Vorgehen zu fügen." "Das habe ich getan, und werde so lange ich geistig und körperlich fähig bleibe, fortfahren es zu tun. Mich am bestimmten Tag ins Wahllokal zu begeben, den Stimmzettel zu verfertigen, und in den Kasten zu werfen, das sind Kleinigkeiten denen ich nachzukommen vermag ohne von ihrem unbedingtem Wert überzeugt zu sein. Mich aus eigenem Antrieb für ein Amt bewerben würde ich nie. Wenn man mich dennoch, durch irgend ein Wunder, zu einem Amt bestellte, würde ich die Pflicht auf mich nehmen, und ihr gerecht werden, so gut ich es könnte." "Darüber hinaus neige ich dazu meine Beziehung zu meinen Mitmenschen aus der Perspektive eines Arztes zu betrachten, der bestrebt ist ihnen zu helfen, ehr als aus der Perspektive eines Lehrers dessen Amt es ist ihnen sein überlegenes Wissen mitzuteilen. Man lobt und liebt den Arzt nicht wegen einer Macht letztendlich den Tod, und zuvor bedrohliche Krankheiten zu überwinden, denn diese Macht entgeht ihm. Vielmehr schätzt man den Arzt als Dolmetscher, als Diplomat, als Vermittler, wegen seines Verständnisses von den Beziehungen zwischen dem Einzelnen und seinem Leben, seiner Krankheit und seinem Tod." "Ihr bemängelt an mir dass ich die Unzulänglichkeiten der Demokratie bloßlege ohne Euch eine bessere Alternative gegen die ihr sie auszuwechseln vermöchtet, anzubieten. Da verlangt ihr zu viel von mir. Ihr fordert also dass ich Euch betrüge. Der Mangel der Demokratie liegt nicht an dem so idealistisch aufgezogenem und gepriesenem Gebäude, sondern an den Menschen die es bewohnen. Ich halte es für möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich, dass die Qualität aller denkbaren Regierungen nicht so sehr von ihren Verfassungen wie von den unvollkomenen Tugenden ihrer Untertanen und Herrschern bestimmt sind. Die Gefahren dass Monarchie zu Tyrannei wird, und dass Aristokratie in Plutokratie verfällt sind wahrscheinlich größer als die Gefahr dass Demokratie in Anarchie ausartet. Denn solange die Demokratie eine solche bleibt, sind ihre Ausschweifungen geneigt sich von selbst zu berichtigen, weil in den unvermeidlichen politischen Stürmen in der Demokratie meist andere Parteien vorhanden sind die ein katastrophales Kentern des Staatsschiffes verhindern." "Einstmals meinte ich, die grundlegende Disziplin sei die Erkenntnistheorie, meinte Ethik sei etwas Untergeordnetes das keiner weiteren Überlegung bedürfte Diese Annahme ist gültig nur insofern man es zufrieden ist das menschliche Betragen von der ausdrücklichen Symbolik, von der Sprache, von den Gesetzen, auch denen der Mathematik abzuleiten. Meint man aber das Betragen der Menschen als spontan auftretendes, unbegründetes Naturphänomen zu erkennen, dann erscheint die Ethik als eine unabhängige Problematik welche vielleicht sogar die Erkenntnislehre einbeschließt insofern Erkenntnis die Ethik benötigt um das Wahre und Gültige überhaupt erst in den Vordergrund zu rücken. Die Annahme, dass die Handlungen der Menschen von Geboten gesteuert werden sollten oder auch nur könnten, diese Annahme, welche seit Moses die Gesetzestafeln vom Berge abholte unser Denken beherrscht, bedarf weiterer Überlegung." "Zugrunde der Ethik, dessen was der Mensch meint tun zu sollen oder müssen, liegt seine Doppelnatur als Einzelner und als Gesellschaftsmitglied. Als Einzelner erlebt er sich selbst und seinen Nachbarn als einen einzelnen für Schmerz und Tod anfälligen Menschen den er zu schützen begehrt. Wiederum empfindet er das Bedürfnis und die Notwendigkeit sich in eine Ganzheit einzufügen: "Eines zu sein mit Allem, was lebt, in seliger Selbstvergessenheit wiederzukehren ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden, das ist die heilige Bergeshöhe, der Ort der ewigen Ruhe, wo der Mittag seine Schwüle und der Donner seine Stimme verliert und das kochende Meer der Woge des Kornfelds gleicht." "Eines zu sein mit Allem, was lebt! Mit diesem Worte legt die Tugend den zürnenden Harnisch, der Geist des Menschen den Zepter weg, und alle Gedanken schwinden vor dem Bilde der ewigeinigen Welt, wie die Regeln des ringenden Künstlers vor seiner Urania, und das eherne Schicksal entsagt der Herrschaft, und aus dem Bunde der Wesen schwindet der Tod, und Unzertrennlichkeit und ewige Jugend beseliget, verschönert die Welt." Hölderlin Hyperion "Was ist das Gute, was heißt Tugend, was heißt Arete? Ich weiß es nicht. Ich hab auf diese Fragen keine Antworten. Vielleicht ist das Gute, Wünschenswerte, Tugendhafte, Erhabene, das Betragen des Menschen im Lichte der Wahrheit, im Glanz einer Aletheia. Dann geschähe das Böse, das Schlechte, das Verwerfliche, im Leben des Menschen aus Unwissenheit. Das ist eine Vorstellung des griechischen Geistes der ich nicht zu entbehren vermag." "Indem ich zum Thema zurück kehre, und mich der Frage stelle, was kann ich tun, was können wir tun, um den Pegel des allgemeinen politischen Lebens zu heben, weise ich auf das Lernen und auf das Verstehen des Lernens, des Gelernten, des Wissens und des Verstehens selber. Und so behaupte ich mit diesen meinen Erklärungen, insofern sie gültig sind, und insofern es mir gelungen ist mich verständlich zu machen, dass wir soeben, in den wenigen verflossenen Minuten, schon den Anfang zu einer Verbesserung unserer Politeia gemacht haben." "Es gibt zweierlei Arten Wissen," sagte Moritz Möchtegern. "Es gibt das Wissen der Herde, ich will es als objektiv bezeichnen, und dann wiederum gibt es das Wissen des Einzelnen, das subjektiv genannt werden soll. Aus einer Perspektive erscheinen diese zwei Spezies von Wissen getrennt und einander widersprechend, Aus einer anderen Perspektive, man mag sie als rechtwinklig verstehen, scheinen die subjektiven und die objektiven Wissensarten einander zu bekräftigen, und scheinen sich zu überlagern. Inwiefern ein solches Überlagern ein Verdecken wäre, wie Abschirmen des Lichts von undurchdringbarem Stoff, oder inwiefern ein solches Überlagern ein Verdoppeln oder Verstärken bewirken möchte, ist eine weitere Unbestimmtheit über die sich stundenlang diskutieren ließe. Dem aufwachsenden Kind werden die Sprache, das Rechnen, die Gesinnungen von Eltern, Geschwistern, Gespielen, Mitschülern und Lehrern, die eigenen; bis es dann selbst als Vater oder Mutter, als Lehrer, oder lediglich als Gesellschaftsmitglied, seine Kenntnisse und sein Können, seine Erfahrung und sein Erleben, seinen Nachkommen in einer jüngeren Generation übermittelt. Das ist, was es bedeutet ein Mensch zu sein. Dass eine solche Überlieferung von Wissen und Können nicht lückenlos geschieht, ist selbstverständlich. 'Zwischen Lipp' und Kelchesrand Schwebt der finstern Mächte Hand!' hat Johann Friedrich Kind gesagt. Im Englischen heißt's 'There's many a slip twixt the cup and the lip.' Der Spalt 'zwischen Lip' und Kelchesrand,' in der Überlieferung des Wissens ist weit und häufig genug für nimmer endendes schulisches Hinundher, wie dieses. Die zunehmend wirksame Mitteilung - Druckerei, Radio, Fernsehen, Telephon, Internet - stellt das Erleben des Einzelnen unter hohen Druck, und es ist unbestimmt ob es eine Grenze gibt wo die Entwicklung des Verständnisses des Einzelnen von einer überwiegenden Gesellschaftsmeinung völlig unterdrückt zu werden vermag, so dass das einzelne Denken versiegt. Wie unter diesen Umständen gemeinschaftliches Denken sich weiter entwickeln könnte, vermag ich mir nicht vorzustellen." "Wir fragen, wie wir den Staat und seine Regierung verbessern können. Wir sagen durch die Entwicklung von mehr empfindsamen und verständigen Bürgern, und meinen dass dieser edle Zweck durch Schulung, durch Erziehung, durch Bildung erreicht werden möchte. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Es ist eine alte Frage, unerkannt, unverstanden, und nur selten gestellt, in welcher Weise und in welchem Maße das Leben von Glaubensbekenntnissen bestimmt oder verwandelt zu werden vermag. Das nizänische Glaubensbekenntnis spielt eine bedeutende Rolle in der Geschichte des Christentums. Aber welche? Heute scheint mir, dass so sehr ein Glaubensbekenntnis die Gemeinschaft der Gläubigen bestätigt, es dennoch das Verhältnis des einzelnen Glaubensbekennenden zu der Wirklichkeit dessen woran er zu glauben beansprucht, eher verhüllt als erklärt. Ich erwähne diese Tatsache im Zusammenhang mit meiner Behauptung, dass die Qualität, die Tugend, die Arete einer Regierung nicht durch die Form, wie etwa Monarchie, Diktatur, Tyrannei, Aristokratie, Oligarchie, Plutokratie, Republik, Demokratie oder Populismus, in welcher die Regierung auftritt, sondern von den geistig-seelischen Eigenschaften der an ihr Beteiligten, der Untertanen und der Herrscher, bestimmt wird. In diesem Zusammenhang meine ich, dass diese Eigenschaften sich nicht von Gesetzen oder anderen Vorschriften wie etwa von einem Kategorischen Imperativ bestimmen lassen, sondern dass sie unter kulturell günstigen Umständen, spontan, von selbst, naturgemäß erblühen wie etwa die Schneeglöckchen, Osterglocken und Maiglöckchen im Frühling in meinem Garten. In welcher Weise oder ob überhaupt man Weisheit, Toleranz, und andere bürgerliche Tugenden wie Blumen zu züchten vermöchte, wüsste ich nicht zu sagen; dass aber diese nicht durch Glaubensbekenntnisse hervorgerufen werden, ergibt sich aus der Kirchengeschichte." KK 18.0 Kapitel KK >> 13108 << Geprüft, in Ordnung "Ich muss es gestehen, dass unsere Erläuterung der Katenus Verfolgungen, der gerichtlichen Verhältnisse aus der sie sich ergeben, der Zustände der Gesellschaft welche sie spiegeln und die durchdringende Sprachabhängigkeit unserer Gedanken welche sie bekunden, die geistige Tätigkeit der menschlichen Gesellschaft im Allgemeinen und mein eigenes Denken ins besondere, in ein neues, in ein ganz neues Licht versetzt haben." "Wie sollen wir das verstehen?" "Ich denke an Platon und seine Entdeckung des Ideals, sollte ich sagen, als die große, überwältigende Wahrheit des menschlichen Denkens, als dessen wirksamer Mechanismus, oder in dialektischer Weise, als Ausstellung der Sprache überhaupt, insofern sie sich als Abbild oder Ersatz der Wirklichkeit vorstellt; eine Ausstellung aber die nicht nur als die große Wahrheit, sondern zugleich als die große Unwahrheit, als die große Lüge erscheint, die uns einlädt an sie als an die Wirklichkeit zu glauben, indessen sie doch tatsächlich das Wesen der Unwirklichkeit ist. Die Lebenswelt wo wir wohnen ist ein Geistesgefängnis aus Quadern platonischer Ideen gebaut. Unsere Aufgabe ist uns durch Entidealisieren zu befreien." "Da fragt ihr mit Nietzsche, befreien wozu? Und fragt, wenn die Ideen fort sind, was bleibt übrig? Platon hat die philosophische Sprache geschaffen; Aristoteles hat sie versteinert um mit ihr ein Gedankengebäude zu schaffen in dem sich das Denken des Abendlandes fast zwei tausend Jahre lang eingesperrt hat." "Mir scheint die Entidealisierung hätte unter Umständen ereignisreiche Folgen." "Und welcher Art?" "Das wage ich kaum vorauszusagen." "Ich halte es für möglich, dass diese Folgen sich als dialektisch ergeben, in dem Sinne, dass die Entidealisierung manche, vielleicht sogar viele, bestehende Gedankengebäude zertrümmert, indessen aber den Raum freilegt wo neue unerhörte, unerdachte Gedanken aufgezogen, oder aufwachsen werden." "Das musst du mir erklären." "Erklären lässt es sich nicht; es muss erlebt, vielleicht sogar erarbeitet werden." "Ich meine zu erkennen, dass die Welt in der ich lebe eine Welt der Gedanken, der eigenen Gedanken aber auch der gemeinsamen gesellschaftlichen Gedanken ist. Die Gesellschaftlichkeit der Gedanken wird offenbar in der Sprache die uns Menschen verbindet. Die Aufgabe die ich immer wieder fast wie von Neuem begreifen muss, ist den Schleier der Sprache zu durchdringen und mich dann mit dem Erlebnis abzufinden, dass der Schleier ein Nichts verschleiert, und dass somit der Schleier als Schleier, als die Unwirklichkeit, das einzig Wirkliche ist. Mit anderen Worten, der Schleier der nichts verschleiert, wird selbst von dem Nichts das er verschleiert, vernichtet. Aus anderer Perspektive erscheint das Leben, mein Leben, als vorübergehender flüchtiger Schleier vor einem Nichts, vor einem Tod der mir so unbegreiflich ist, dass ich nicht umhin kann ihn mit der Vorstellung, mit dem Traum, mit der Phantasie, mit der Lüge eines ewigen Lebens zu ersetzen." "Somit ist meine Beziehung zum Tod und zum ewigen Leben als Todesersatz vorbildlich für mein Verständnis vom Anfang, von der Arche, vom Urknall und dem Nichts, - oder war es ein Apeiron -, dem der Urknall entsprang, oder an dessen Stelle er trat. Somit ist meine Beziehung zum Tod und zum ewigen Leben als Todesersatz vorbildlich auch für meine Verständnis vom Ende -, vom Eschatos, von der Offenbarung, sprich Apokalypse, der fortschreitenden Ausdehnung des Weltalls mit der Geschwindigkeit des Lichts - und warum nicht, wo wir uns nun endgültig außerhalb des Bereichs des Anschaulichen befinden, - mit der mit Lichtgeschwindigkeit potenzierten Lichtgeschwindigkeit." "Schließlich soll es eindeutig gesagt sein. Nicht die Geburt sondern das allmorgendliche Erwachen vom Schlaf ist das Muster des Lebendigwerdens, und nicht die Einäscherung oder das Versenken des Sargs in die Tiefe der Gruft, sondern das allabendliche Einschlafen nach einem sonnigen, regnerischen oder stürmischen Tage, ist das Muster des Sterbens. Kein Wunder dass der Mensch versucht sich mit einer Fata Morgana des ewigen Lebens zu vertrösten." "Der moderne gebildete, wissenskundige Mensch spottet der Kirche, spottet der Synagoge, spottet der Moschee, und übersieht dass seine Kultur, dass sein Wissen, dass seine Wissenschaft in besonders triftiger Weise eine Religion ist, die andere Religionen verdrängt, und die ihn umso unerbittlicher fesselt, weil sie ihn so sehr blendet, dass er sie nicht zu erkennen vermag." "Das Wesen, die Wirkung, der Zweck, das Ergebnis der Religion ist den Menschen die Ängste, Schmerzen, Unzulänglichkeiten seiner Existenz, Krankheit und Tod, erträglich, und ihnen somit das anderweitig Unbegreifliche begreiflich zu machen. Und ist nicht genau die Aufgabe der Wissenschaft das Gegenteil, die Vorgabe den Menschen zu belehren, dass er 'erkenne was die Welt, im Innersten zusammenhält,' obgleich und ausgerechnet weil, diese Erkenntnis unerreichbar ist." "Die Religion bietet sich in dreierlei Erscheinungen zur Betrachtung. Die drei Erscheinungsweisen der Religion lassen sich mit den drei Einteilungen der Zeit paaren." "Die Religion welche in der Vergangenheit wurzelt ist unausweichlich, unentrinnbar mythisch. Denn die Vergangenheit ist keinem Menschen zugänglich. Sie ist Tapisserie, ein Bilderteppich der kommunalen Phantasie, wohin die Gedanken sich locken lassen, wie Insekten an flackerndes Licht in dunkler Nacht, um zu vergehen und von dort nie wiederzukehren. Dabei sind die Vorstellungen einer vermeintlich wirklichen Vergangenheit, von welcher der Historiker vorgibt zu berichten, wie es eigentlich gewesen, zu nichts geeignet als zu gemeinschaftlichen Legenden welche gläubige Mitglieder in eine Gesellschaft, in eine Gemeinschaft einbinden." "Eine gemeinsame, gemeinschaftliche oder gesellschaftliche Gegenwart gibt es im Konzert, in der Theateraufführung, im gemeinsamen Vortag des Lieds oder des Gedichtes. Die Uhr ergänzt den Kalender und weist auf die Gegenwart als Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft, eine Grenze als Zeitspanne von infinitesimalen Ausmaß und dementsprechend bis zum Nichtsein gering." "Es ist sehr einfach elektronisch einen Ton, z.B. A von 440 Schwingungen pro Sekunde mit einer beliebigen Dauer von einer Sekunde zu erzeugen als physikalische physiologische und psychologische Darstellung einer akustischen scheinbaren Gegenwart. Es ist selbstverständlich, dass in dieser Probesekunde das Trommelfell von 440 Stößen angeregt wird, und dass das Gehirn diese Folge als den Ton A identifiziert. Es ließe sich mit Leichtigkeit feststellen, wie vielen Schwingungen beliebiger Stärke ein Ohr ausgesetzt werden müsste um einen Ton zu hören und seine Lage zu erkennen. Auch sollte es möglich sein das Ausmaß einer Gegenwart als jene Dauer zu bestimmen, deren Anfang sich nicht von ihrem Ende unterscheiden lässt. So wäre eine Gegenwart objektiv als psychologisches Phänomen zu messen. Zwischen Schwingungszahlen von 110 und 3520 Hz. ist die mindest erkennbare Gegenwartslänge 0,021 Sekunden; die höchste Gegenwartslänge wo Anfang und Ende nicht unterschiedlich vernehmbar sind, beträgt 0,1 Sekunde. Bei 110 Hz ist die Frequenz in 0,021 Sekunden, nach 2,31 Schwingungen feststellbar. Anderweitig wäre keine objektive Gegenwart äußerlich, gesellschaftlich erreichbar. Innerlich hingegen, im Bewusstsein des Einzelnen, subjektiv, ist die Gegenwart der einzig erreichbare Spalt der Zeit. Vergangene und zukünftige Zeiten sind meinem Bewusstsein unerreichbar. Vergangenheit und Zukunft sind mir ewig gesperrt. Mein Erleben ist ausschließlich gegenwärtig. Kierkegaard behauptet Gleichzeitigkeit, Samtidighet ist Wirklichkeit." "Die Wissenschaft die jeder Wissenschaftler eifrig in der eigenen ewigen Gegenwart als unfertig betreibt, ist in der Vergangenheit nie fertig gewesen, ist heute auch noch nicht fertig, und ist sinnvoll nur in Hinblick auf möglich denkbare Gültigkeit in unbestimmbarer und unerreichbarer Zukunft. Alles bisher Erforschte ist seinem Wesen gemäß vorläufig. Zumindesten bedarf es immer und immer wieder Bestätigung in jeder Gegenwart. Es gibt Bereiche des Wissens wo Tatsachen scheinbar vervollständigt sind und keiner weiteren Forschung bedürfen. Aber dergleichen Gewissheit ist hinfällig. Eines Tages erscheint ihre Unzulänglichkeit unerwartet ein weiteres Mal, und drängt sich erneut dem Forscher auf. Was mich heute beschäftigt, was gegenwärtig mein Interesse fesselt, erstreckt sich in eine Zukunft mit unerkennbarer, unbestimmbarer Grenze. So wirkt der Ausblick in die Zukunft, die nie als solche, sondern stets nur als neue Gegenwart erreicht wird, als ein Sporn, welcher die bestehende, die unmittelbare Gegenwart lebendig macht." "Wir, die hier versammelten, haben die Gelegenheit, wir haben es in unserer Macht, Regeln, Bestimmungen und Gesetze zu erlassen um die Regierung unseres Staates zu reparieren. Ich hoffe es gelingt uns eine Wende in der Staatsverwaltung einzuleiten. Mir scheint es, mit der Einfädelung des Schauspiels 'Jedermann' in die Verfolgungskartei haben wir einen viel versprechenden Anfang gemacht. Nun gilt es andere Mängel unserer Regierung, und derer gibt es viele, zu identifizieren und zu überlegen, wie wir die Risiken der Verschlechterung und die Möglichkeiten der Verbesserung gegen einander abwiegen, um mit dieser Methode eine goldene Mitte zu entdecken oder zu erfinden, wo Wahrscheinlichkeit und Ausmaß der Verbesserung am beträchtlichsten, und Wahrscheinlichkeit und Ausmaß der Verschlimmerung am geringsten sind. Ich finde es am vorteilhaftesten, wenn ein jeder versucht uns nicht nur einen Beschluss in Aussicht auf unser aller Übereinstimmung mitzuteilen, sondern einen zweiten Beschluss seiner eigensten Ein- und Ansichten. Denn oftmals, so scheint es mir, hat subjektiver Eigensinn einen höheren Wert als objektives Kompromiss." "Ich weiß nicht wie wertvoll, wie sinnvoll es sein möchte das Denken vorsätzlich auf einen Ursprung, auf einen Anfang, auf eine Arché zurückzuführen. Das wichtigste scheint mir, sich immer wieder über die behaupteten Ursachen zu besinnen, ihrer bewusst zu bleiben, um sich nicht von ihnen ablenken oder verleiten zu lassen." "Ich zähle die Anfänge auf: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Alles Seiende kommt aus dem Unbegrenzten apeiron. Der Anfang geschah vor 13,8 Milliarden Jahren mit einer mathematischen Singularität und einem Urknall. Am Anfang war der Logos, und der Logos war mit Gott und der Logos war Gott." "Ich hingegen schlage vor der Anfang ist mein Erwachen. Jeden Morgen entzündet sich mein Bewusstsein aufs Neue, Mein Bewusstsein ist kein Gegenstand, kein Werkzeug, es ist ein fließender geistiger Vorgang. Es ist mein subjektives Denken und Fühlen dessen ich mir bewusst bin. Wenn ich erwache, weiß ich wer und wo ich bin, erinnere dieses und jenes, und ergänze mein Gedächtnis mit Aufzeichnungen, früher Handschriften auf Papier, neuerdings mehr und mehr Rechnerkarteien deren Inhalt leicht leserlich, in großen weißen Buchstaben auf dem schwarzen Hintergrund des Rechnerbildschirms erscheint. Das ist meine Arché, das ist alles, aber es ist sehr überzeugend und sehr ergiebig. Ich muss annehmen, dass meine Mitmenschen, in dem Maße in dem wir einander ähnlich sind, ähnliches erleben. Und doch ist kein Mensch dem andern gleich." "Bedeutung und Belang der erwähnten Kosmogonieen für den sanierten Staat den ich entwerfe, müssen sich von selbst ergeben. Anaximanders Vorstellung vom Grenzenlosen das sich in eine mit Schuld belastete Wirklichkeit entwickelt, eine Schuld die mit der unvermeidlichen Rückwandlung ins Grenzenlose abgetragen wird, verstehe ich als eine monumentale dichterische Beschreibung des Schicksals wie es auch meine, und unser aller Bemühungen überschattet." "Die Errechnung der Zeitspanne von 13,8 Milliarden Jahren von denen man meint dass sie vergangen sein sollen, seit einem von mathematischer Singularität ausgelöstem Urknall, zieht in mein allzuflüchtiges gegenwärtiges Bewusstsein die schwierige Frage um die Beziehung der mathematischen Berechnung zu meinem unmittelbaren Erleben." "Selbstverständlich höre ich das Ticken der Sekunden, sehe die Regelmäßigkeit des Pendelschlags, lese auf dem Bildschirm die Zahlenfolge der Sekunden und Minuten, erinnere mit abnehmender Genauigkeit was ich vor ein, zwei oder drei Stunden erlebt haben mag. Mit dem Versuch mir mein früheres Leben zu vergegenwärtigen, verwandelt sich mein Denken indem die Gedächtnisanschauung zunehmend mit Worten erst unterstützt und dann ersetzt wird, bis die Erinnerung zur Geschichte, zum Mythos, geworden ist. Bei Geschehnissen in übermäßig entferter Vergangenheit, und bei allem das ich nie erlebte, von allem das ich mir nur durch Berechnung vorzustellen vermag, schwenkt meine Anschauung um, und macht den von Worten, von Geschichten, von Erzählung, den aus Mythen gewobenen Gedankenvorhang einen unmittelbar fesselnden Gegenstand der Anschauung. Das Errechnete das zu erleben mir unmöglich gewesen wäre, verwandelt mein Geist in ungezügelte Phantasie, und lässt es fahren. In den religiösen Weltentstehungslegenden, im 1. Buch Mose und in der Einleitung des Johannesevangeliums, wird Gott als Schöpfer gepriesen. Bei diesen Erzählungen beeindruckt mich die Macht des Wortes, das im Munde Gottes genügte, nicht nur das Licht zu schaffen, sondern auch die Feste, das Meer, das Land, Pflanzen, Bäume, Sterne, Sonne und Mond, Fische, Tiere und schließlich auch Menschen, sie alle entstanden infolge der befehlenden Worte Gottes: Es werde. Diese Beschreibung ergänzend ist zu erwähnen, dass später, in Vorbereitung auf den Exodos aus Ägypten der schöpferische Gott im brennenden Busch mit dem Verbot seinen Namen zu nennen sich seinem Volke als die sie verbindende Subjektivität offenbart. Diese kosmogonischen Erwägungen sind Perspektiven auf die Gesellschaft und auf den Staat worum wir uns bemühen." "Wir müssen tapfer sein. Wir müssen eine neue Wahrheit erfinden, geeicht und gemünzt auf das Verstehen deren an die sie gerichtet ist. Die wichtigen Entscheidungen müssen von den verständnisvollsten Menschen gefällt werden, systematisch erforscht und ausgesucht. Die Wahlen sind nicht geeignet die fähigsten Minister für den Staat zu finden. Sie dienen das Volk zu befriedigen. Die Menschen sind von verschiedenem Verständnis, von unterschiedlicher Intelligenz. Sie aber als böse oder schlecht zu brandmarken ist nicht hilfreich. Wir alle müssen lernen uns als Schauspieler zu betragen und mit den Rollen die uns zugewiesen werden zufrieden zu sein." "Zusammenfassend möchte ich anfangs bestätigen und beschreiben wie sich unsere Regierung und unsere Gesellschaft infolge der Digitalisierung verwandelt hat. Die einzelnen Menschen, die wir Bürger nennen, sie sind die alten geblieben. Auch die Beamtenschaft ist sich im Großen und Ganzen gleich geblieben, die Gerichte mit ihren Richtern, die Anwälte, einbeschlossen die des Staats, die Universitäten, die Gymnasien und die Volksschulen, die Professoren und die Lehrer, die Kaufleute, die Handwerker, die Bauern, Arbeiter und Knechte, sie alle mögen wir als unverändert betrachten. Was sich scheinbar verwandelt hat sind die Anweisungen der Regierenden an ihre Untertanen. Ich will nicht behaupten, dass diese Anweisungen unbedingt schlechter geworden sind, gewiss aber auch nicht besser, ganz sicherlich aber verantwortungsloser, denn nunmehr verleiht man den elektronischen Stromkreisen dieselbe Unfehlbarkeit welche einst dem Herrscher beigemessen wurde, und mit demselben Unverständnis. Uns aber haben die Verfolgungen von Katenus und Elly so beängstigt und so geschmerzt, dass wir uns hier zusammen gefunden haben um Katenus und Elly zu schützen." "Unsere Sorgen um Katenus und Elly sind durch das Verständnis und durch die Großzügigkeit von dem Rechnerprogrammierer Jeremias Zehplus behoben, denn Jeremias hat die Verleumdungen welche abgestimmt waren Katenus und Elly ins Unglück zu stürzen und zu zerstören, bereitwillig gelöscht, und hat sie mit der Lebensgeschichte von Jedermann ersetzt. Dann, darüber hinaus, als wäre sogar der erkünstelte Hinweis auf Jedermann unzureichend um Katenus und Elly zu bewahren, hat Zehplus die einschlägige Kartei gelöscht eh er sie sozusagen versiegelt und verriegelt hat, so dass es hinfort unmöglich ist diese Kartei zu lesen, zu schreiben oder auszuführen. Deshalb brauchen wir vorläufig jedenfalls uns nicht um Katenus und Elly zu sorgen. Dass sie aber, wie wir alle, einer künftigen Gefahr ausgesetzt sind, sollten wir nicht verkennen. Inwieweit es uns gelingen möchte Katenus, Elly und uns alle vor Zukünftigem zu schützen, muss dahingestellt bleiben." "Wie erwähnt, hat die Digitalisierung des Staats eine Leere, eine Lücke geschaffen welche die obersten Regierungsmitglieder deren Amt es war die Regierung rechtmäßig zu steuern, absetzte, indem sie die Leitung des Staats den Rechnern, vielleicht möchte man behaupten, dem Zufall überließ. Tatsache ist dass abwesend Regierung von oben, die Beamten mittleren und unteren Standes die Gelegenheit hatten ihre Ansichten, ihre Einsichten, ihre Urteile und ihre Vorurteile geltend zu machen. Und nicht nur die Beamten, die Bürger selbst, Wähler und Nichtwähler wurden zu regieren befähigt. Es entpuppte sich die wahre Demokratie." "Ich vermeide das Urteil. Was sich entwickelte ist nicht schlecht zu nennen, denn hätte noch schlechter sein können, nicht gut, denn es hätte besser sein können. Man möchte sagen, dass die Abwesenheit der Kontrolle die eigentliche Natur der Bevölkerung klar legte. Man möchte aber auch behaupten, dass es die Natur des Menschen ist, in ein gesellschaftliches Geflecht einbezogen zu sein. Das könnte heißen, das der einzelne Mensch die Qualität der Gesellschaft in welche er verwoben ist bestimmt; könnte aber auch hinweisen auf das Gegenteil, dass es die Gesellschaft ist die den Einzelnen zu dem macht als der er wirkt. Beides möchte etwas an sich haben." "Es ist die Sprache aus der die Vorstellungen enstehen welche hinfort den Untertanen, den Beamten und den Herrschern als die Wirklichkeit gilt in der sie leben. Es ist ein frommer Wunsch, dass jedem Menschen, jedem Untertan, jedem Beamten, jedem Herrscher das Recht gebühren sollte zu sagen was er denkt, und zu denken was er will. Dass sich zuweilen eine scheinbare Notwendigkeit ergibt das Recht der ungezügelten Aussprache einzuschränken, wie etwa um Aufruhr vorzubeugen, versteht sich von selbst, ist aber in diesem Zusammenhang belanglos; denn die Gedanken sind frei, und lassen sich durch keine Zensur verbieten. Umso einschlägiger ist die Einsicht dass der Gedanke der unmittelbare Ausdruck des Wesens des Einzelnen, sag, seines Geistes, seiner Seele ist, und dass dieser Geist wiederum das Ergebnis der Gedanken, der Vorstellungen ist die ihm vermittelt werden, die auf ihn eindringen, die ihn umgestalten indem er sie assimiliert." "Die wesentliche Frage welche sich uns stellt und welche von unserem Verhalten beantwortet wird, ob wir wollen oder nicht, wie wir uns in der Gelegenheit die sich uns bietet betragen. Anzunehmen dass wir als Gruppe über unsere Handlung zu entscheiden vermögen ist ebenso widersinnig wie anzunehmen dass ich als Einzelner 'tue was ich will'". "Unsere Aufgabe, wie ich sie sehe, ist den Geist unserer Gesellschaft, unseres Staates zu veredeln. Der Einzelne verfügt über eine Seele. Eine Gesellschaft ist eine Herde und verfügt über keine Seele, verfügt aber über einen Geist. Und dieser Geist ist es worum wir ringen müssen. Der Geist der Gesellschaft, der Geist des Staates, entspricht zum Teil dem Geist der Untertanen, zum Teil dem Geist der Beamten, und zum Teil dem Geist der Herrscher. Welcher der dreien der wichtigste, eventuell der entscheidende wäre, weiß ich nicht. Ich vermute alle drei sind den Folgen der Digitalisierung empfindlich. Da ich uns aber, um das Wort Herrscher zu vermeiden, als die Vorsitzenden, als die Leiter des Staates betrachte, scheint es mir wünschenswert, dass wir uns in die Staatsdigitalisierung einüben selbst auf die Gefahr hin, dass ich persönlich meinen Platz bei den Vorsitzenden verlieren möchte." So sprach Charlotte. Zehplus erklärte: "Der erste, der Schwellenschritt ist die Auswahl, die Überprüfung geeigneter Kandidaten. Wie bisher sollte jeder Untertan, jeder Beamte, und jeder Vorsitzende das Recht auf Kandidatur haben, und jede politische Gruppe oder Partei sollte das Recht haben ihnen sympathische und wünschenswerte Kandidaten aufzustellen. Alle Kandidaten sollten Gelegenheit haben detaillierte Fragebogen zu beantworten; sie sollen ihre Zergliederungen und die von ihnen vorgeschlagenen Lösungen zu allen akuten und chronischen politischen Fragen und Auseinandersetzungen einreichen um sich dann mündlichen Examen zu unterziehen in denen die Echtheit ihrer Eingaben geprüft wird." "Schließlich kämen die Wahlen. Selbstverständlich wären auch diese gänzlich digitalisiert. Die einschlägigen Datenkarteien enthielten nicht nur die Zahl der abgegebenen Stimmen, sondern die Bewertungen der Fragebogen, der Aufsätze, der mündlichen Examen, sondern auch der Berufe, der Geistesgeschichte, der Intelligenz und des Bildungsgrades der Wähler. Somit würde das digitale Rechnerprogramm ein ganzheitlicher integraler Teil des Wahlvorgangs. Das Programm der künstlichen Intelligenz wird die Stimmen der Wähler abschätzen und eichen und wird dann den Kandidaten bestimmen dessen Einsetzung für den gegebenen Wähler die günstigsten Folgen hätte." "Ich höre voraus, dass man meinen Vorschlag als unehrlich, unwahrhafttig und betrügerisch verunglimpfen wird. Diese Kritik beantworte ich mit dem Hinweis auf die fragwürdige Intelligenz und auf die noch fragwürdigere Ehrlichkeit meines Kritikers, der vorauszusetzen beansprucht, dass herkömmliche Wahlen mit mehreren Millionen Dollar Reklame gekauft mit ausgeklügelten propagandistischen Unwahrheiten berechnet verständnisarme Wähler zu täuschen, zu beirren und zu verleiten, als Maßstäbe von Ehre, Vernunft und Wahrhaftigkeit gelten sollten. Nein, meine Damen und Herren, meine Feinde und meine Freunde, ich sage Ihnen, ich sage Euch, das gewohnte Vorgehen hat uns mit seiner widersinnigen Verdorbenheit und Unvernunft auf die Klippe an einem Abgrund geführt vor dem wir uns retten müssen eh es zu spät ist." "Meine Antwort ist, one step at a time. Langsam, sage ich euch, nicht alles auf einmal. Es ist ein großer, wesentlicher Vorteil meines Vorschlags, dass er in allen Einzelheiten vorbereitet zu werden vermag, ohne dass die Rohdaten der euch so anstößigen statistischen Korrektur, wenn ich sie so nennen mag, unterzogen werden brauchen. Man möchte sich dann als erstes der Gelegenheit bedienen nachzuschauen und auszurechnen wie das breite Spektrum möglicher Rechnerprogrammeinstellungen die Wahlergebnisse beeinflussen, verwandeln, abändern würden. Aus der Betrachtung dieser Anschauungen würde sich dann die optimale Einstellung von selbst ergeben." "Jetzt fällt mir auf: Das Rechnerprogramm ist ein Instrument des Denkens und Urteilens etwa wie das Teleskop ein Instrument des Sehens ist. Der Menschengeist wird beim Gebrauch des Rechners nicht ausgeschaltet: er wird umgeschaltet auf einen Gang wo er wirksamer ist. So bekommt auch der Begriff Wahrheit eine neue erweiterte Bedeutung. Die Aussage über den durchs Fernrohr betrachteten Mond kann mit der Beschreibung des mit nur bloßem Auge beobachteten Mond kaum verglichen werden. Wahrheit ergibt sich stets als ein Verhältnis in einer gegebenen Situation und lässt sich nicht unkritisch von einem Umfeld ins andere übertragen." "Die Kontrolle und Überwachung der Wahlen ist zweifellos das wichtigste, denn die Vorsitzenden ernennen und begutachten die Beamten, und die Beamten regieren und richten die Untertanen. Wir wissen aber auch dass die Gemüter der Mitglieder unseres Staates, auf welchem der drei Ränge auch immer, durch ihre geistige Umwelt gestaltet werden. Das eindrucksvollste und vielleicht letztlich auch entscheidende Beispiel ist die Sprache, die Muttersprache die einem jeden die Grundmauer seines Wesens ist. Hinzu kommen Lektüre, einbeschlossen der Zeitungen welche die Menschen lesen, die Musik welche sie spielen und hören, die Spiele verschiedenster Art womit sie ihre Zeit verbringen. Im Allgemeinen beurteilt man diese Einflüsse und Betätigungen als natürlich, als selbstverständlich und als außerhalb des Bereichs behördlicher, amtlicher Kontrolle; man verpönt als faschistisch jeden Vorschlag die Gesellschaft und ihre Regierung hätten den denkbaren Anspruch den Herdengeist und somit den Geist des Einzelnen zu kontrollieren und zu eichen. Welch ein verhängnisvolles Missverständnis! Wissen doch kluge und empfindsame Eltern und Lehrer wie wesentlich, vielleicht sogar unentbehrlich, für die Entwicklung des Kindes die Geschichten sind die man ihm erzählt, die Lieder die man mit ihm singt, die Bücher die man ihm vorliest und die man ihm zu lesen gibt. Ist nicht genau dies der Verlauf der behördlich kontrollierten Erziehung, von der Kindertagesstätte für den Dreijährigen und, im Falle von Spezialärzten, bis etwa zum dreißigsten Lebensjahr für den Erwachsenen? Unter Umständen entwickelt sich ein wunderlicher Krieg zwischen dem vermeintlichen axiomatischen Notwendigkeiten der Gesellschaft und den scheinbar spontanen idiosynkratischen Bedürfnissen kleinerer Untergruppen von nur wenigen Menschen oder gar einzelnen. Insofern gesellschaftliche Wechselbeziehungen elektronisch im Internet stattfinden ist die Gelegenheit von digitalisiertem Einfluss auf die geistige Umgebung der Beteiligten unverkennbar." "Dass die Gesellschaft und der Staat sich über ein so weites, vielfältiges und kaum übersehbares Gelände erstrecken, möchte wegen der übermäßig zahlreichen herausfordernden Aufgaben die sich bieten, vorerst als entmutigend wirken. Man sollte aber nicht übersehen, dass Kultur unter Umständen ansteckend wirkt, und wie ein Feuer einmal entzündet, sich von selbst weit verbreitet." Hans Klempner sagte: "Heute morgen meinte ich die tiefe Wahrheit der alt-griechischen Gleichsetzung des Schlechten mit Nichtwissen aus einer neuen Perspektive zu ahnen. Meine Handlung entspricht dem der ich jeweilig bin. Der ich jeweilig bin ist Ergebnis dessen ist was ich jeweilig höre, sehe, erinnere, denke. Um zu sehen, muss ich die Augen öffnen, um hörend zu vernehmen, muss ich hinhören, anhören, zuhören. Um zu hören muss ich zuhören. To hear I have to listen. Um zu verstehen muss ich aufmerksam sein. Um aufmerksam sein zu können, muss ich Ablenkungen vermeiden und verwehren. Um zu lernen, um mich an meine Umwelt zu assimilieren, muss ich die Ablenkung umgehen, muss ich den Lärm sperren, muss ich mich schirmen gegen das Blenden des Lichts, muss ich mich empfindlich machen für das was mit mir nichts zu tun hat. So enträtselt sich nun 'αὐτὸς δὲ ἐτραυματίσθη διὰ τὰς ἀνομίας ἡμῶν καὶ μεμαλάκισται διὰ τὰς ἁμαρτίας ἡμῶν παιδεία εἰρήνης ἡμῶν ἐπ᾽ αὐτόν τῷ μώλωπι αὐτοῦ ἡμεῖς ἰάθημεν' Jesaja 53:5 '5 Aber er ist vmb vnser Missethat willen verwundet / vnd vmb vnser Sunde willen zuschlagen / Die Straffe ligt auff Jm / Auff das wir Friede hetten / Vnd durch seine Wunden sind wir geheilet.' Ich vermochte nie mir zu erklären wieso Paideia: 'παιδεία εἰρήνης ἡμῶν ἐπ᾽ αὐτόν' '/Die Straffe ligt auff Jm / Auff das wir Friede hetten' dem Frieden zugrunde liegen möchte. Heute nachmittag meine ich zu verstehen, dass der von Paideia bewirkte Frieden das Ausschließen des Barbarischen bedeutet, also des Fremden, all dessen, 'das mit mir nichts zu tun hat.' Das Ausschließen des Fremden aber ist schicksalhaft wie die Verfolgung als Fremdling des möglichen Freundes. Die Kultur hat hohe Kosten, und diese Kosten werden durch das Opfern und von dem Opfer bestritten. Ich weiß es nicht, aber ich halte es für möglich, dass es im Hebräischen keinen Ausdruck wie παιδεία gibt, und dass in der Übersetzung dieses Verses in der Septuaginta das hebräische und das griechische Erleben verschmelzen." "So bezeugt der Eremit, der Einsiedler, der seiner Gesellschaft Entfremdete der ihr entflieht, der Selbstverfolger der sich in die Einsamkeit verbannt, die tiefe, ursprüngliche Dialektik von Subjektivität und Objektivität, von Liebe und Hass, von Gesellschaft und Einsamkeit, von Frieden und Krieg. Agnus Dei qui tollis peccata mundi, miserere nobis, ist der äußerste Ausdruck der Selbstbehauptung. 'Das hat mit mir nichts zu tun,' ist die folgenreiche und schicksalhafte Abwendung von der Welt. 'Der hat mit mir nichts zu tun,' ist die folgenreiche und schicksalhafte Bezeichnung des Fremden den ich mir mittels Verfolgung vom Halse halte." "Für diese Exegese, lieber Hans Klempner," sagte nun Maximilian Katenus, "bin ich dir von Herzen dankbar. Es ist ein Bekenntnis, ich habe es bisher verschwiegen, dass ich mir seit Jahren schuldig vorkomme, Schuld an der Tatsache, dass man mich verfolgt, als hätte ich unbewusst ein mir unergründliches Verbrechen begangen. Zufolge deiner Ausführungen sehe ich ein, dass ich mich für den der ich bin, weder beschuldigen noch rühmen darf, dass es meine Pflicht ist mich und die Welt so hinzunehmen wie wir sind. Dein Verständnis und deine Erklärungen machen es uns beiden möglich, Elly und mir, zurückzukehren zu der Insel, zur Lügeninsel, die unser Zuhause ist und wo wir hingehören. Ob und wie lange es uns gegeben sein wird, dort in Ruh und Frieden unsere Tage zu verbringen ist eine Frage deren Antwort unerkennbar in der Zukunft liegt." "Ich möchte diese Gelegenheit nicht versäumen," ließ jetzt Jeremias Zehplus in feierlichen Tönen von sich hören, "Ihnen beiden, und der ganzen Gesellschaft hier zu beteuern, welche Verfolgungskarteien auch immer in meinen Rechnern möglicherweise gespeichert werden, kein Name von ihnen und kein Hinweis auf Sie jemals zu finden sein wird. Darüber hinaus möchte ich gesagt haben, dass ich mit den Aussichten auf eine rechnergesteuerte Überprüfung, Verbesserung und Sanierung unserer Gesellschaft und unserer Regierung mehr als zufrieden, dass ich davon begeistert bin. Ich schlage vor in folgender Weise verfahren. Ich bitte einen jeden von euch allen dem unser Vorhaben am Herze liegt mir zuzusenden, per Email, die Namen, den eigenen einbeschlossen, von Personen an welche ich mich um Rat, Beistand und Korrektur der Rechnerprogramme wenden möchte, mittels deren wir künftige Mitglieder des Regierungsrates küren. Es ist, so scheint mir, höchste Zeit mit der Neugestaltung unseres Staates und unserer Gesellschaft zu beginnen." Kapitel 17.9 >> Idealisierung und Entidealisierung -13727 << Geprüft,in Ordnung "Idealisieren und Entidealisieren," sagte Katenus, "das sind Vorgänge des Menschengeistes so ursprünglich und unumgänglich wie des Körpers Einatmen und Ausatmen. Das Idealisieren ist uns Menschen so natürlich, so selbstverständlich, so unvermeidlich wie das Atmen. Ich weise darauf hin dass wir mit unseren Augen keine ausdehnungslosen Punkte sondern Flecken von geringstem Ausmaß sehen, welche obgleich sie über weder Tiefe noch Breite noch Länge verfügen, zu Strichen zusammenschmilzen, dass sich Striche, trotz infinitesimaler Breite, in ausgedehnte Flächen verschmilzen, und dass sich Flächen, trotz infinitisimaler Tiefe, zu drei-dimensionalen Körpern dehnen. Bitte beachten Sie, dass unsere Anschauung uns eine Welt beschert, die wir den Kosmos heißen, und die aus unzählbaren Gestalten mit unzählbaren Ansichten - Perspektiven - zu unzählbaren Zeitmomenten - Augenblicken - besteht, deren Gesamtheit offensichtlich nichts mehr und nichts weniger ist als eine von unserem Geist entworfene Vorstellung, das äußerste und denkbar größte Ideal. Die gedankliche, begriffliche, symbolische Zergliederung von diesem Kosmos, dieses Ideals, ist der Vorgang mittels welchem wir uns am Leben erhalten. Ich bezeichne ihn als Entidealisierung. Dieses Hin und Her, dieses Ein und Aus, ist, in der Sprache der Physiologen, der Umsatz, der Metabolismus unseres Geistes, den ich überall zu erkennen meine." Kapitel 18.0 >> Verschleiertes Ausmaß und Unmöglichkeit der Aufgabe - 13759 << geprüft in Ordnung Katenus fuhr fort: "Es liegt im Wesen, in der zerschmetternden Dialektik meines geringen fast infinitesimalen Bewusstseins und dem unendlichen Kosmos wo wir uns alle umfangen und gefangen wissen, dass es nur eine geringfügige Bemühung ist, zu der ich mich als Einzelner, schwach und vergänglich der ich bin, an diesem Ort, in diesem Augenblick befähigt weiß, dass ich mich dennoch zu einem Handeln gedrängt und bewogen fühle, das keinen Sinn haben kann weil dieser Sinn begrenzt wie er nun einmal sein muss, in der kosmischen Unendlichkeit zunichte wird; ich mich aber dennoch so verhalten muss, ich aber dennoch so tun muss, als vermöchte ich mit meinen Bemühungen etwas Wesentliches zu erreichen." "Diese letzthin nur symbolische Bemühung aber ist dann auch das Spiegelbild meines kränklichen sterblichen Lebens, dessen jeden Augenblick ich erlebe als wäre er ein Glied in einer ewigen Kette ohne Anfang und Ende. Dabei bemerke ich dass die Gesellschaft in die ich verflochten bin mit vergleichbarer Unbekümmertheit um die kosmische Unsinnigkeit ihrer Bemühungen handelt, wie etwa in Bezug auf Erderwärmung. Weder ich selber noch meine Gesellschaft vermag die Nichtigkeit seiner Bemühungen ins Auge zu fassen." Kapitel 18.1 >> Vorläufiges Ende - 13788 << Geprüft, in Ordnung Die Versammelten hatten diese Ausführungen geduldig über sich ergehen lassen. Ab und zu hatte einer von ihnen gegähnt, und indem Möchtegern die Zuhörer überblickte ahnte er, dass dieser oder jener allenfalls vorübergehend eingeschlafen sein möchte. "Es ist spät geworden," sagte er. "Wir haben viel geredet. Etliches klar und verständlich, wert erinnert, vielleicht sogar aufgeschrieben zu werden. Anderes aber, viel anderes, durcheinander sinnlos und nicht des Aufhebens wert. Die Rettung der Katenus, so scheint mir, haben wir soweit dies möglich ist gewährleistet. Zugegeben dass sie die Zeiten verwandeln und dass wir neue Bedrohungen die sich im kommenden Monat, im kommenden Jahr oder in den kommenden fünf Jahren ergeben möchten, nicht vorauszusehen vermögen. Dafür ist uns der Beistand von Herrn Zehplus mehr als wertvoll, unentbehrlich, möchte ich sagen. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir uns auf ihn verlassen können." "Das versichere ich ihnen," sagte Zehplus. Möchtegern fuhr fort. "Es ist spät. und ich vermute, dass ich nicht der Einzige bin der müde ist. Die Aufgaben aber die uns übrig bleiben, scheinen mir belangvoller noch als die Problematik welche wir scheinbar jedenfalls provisorisch entwirrt haben. Dabei ist es uns klar geworden dass sich im Verlauf unserer Bemühungen eine besondere Gelegenheit ergeben hat, wesentliche Verbesserungen in der Struktur und Funktion unseres Staatswesens zu erfinden, zu entwickeln, und vielleicht sogar einzusetzen. Keiner von euch sollte sich verpflichtet fühlen daran teilzunehmen, und im Namen von Frau Charlotte Graupe, lade ich einen jeden von euch den dieses Thema theoretisch oder praktisch interessieren möchte ein, sich morgen um zehn Uhr vormittags am selben Orte hier einzustellen." KK 18.2. Kapitel KK >> 13826 << Geprüft, in Ordnung Und so geschah es. Charlotte war, wie am Tage zuvor, als erste gekommen. Kurz nach ihr waren Möchtegern selbst, Dann Katenus mit Elly, Jonathan und Joachim erschienen. Ein wenig später kamen Jeremias Zehplus, Moritz Schwiegel, der ehrliche Anwalt, Mathilde die Reinemacherin, Hans der Klempnertheologe und Karl Folterer. Sowohl Lemuel Adams der Richter mit Chuck und Lisa den Polizisten als Wache. Auch die meisten der unbenannten Zuhörer vom gestrigen Nachmittag waren wiedergekommen, nebst einer unbestimmten Anzahl neuer Beteiligter, denn das Stattfinden der außergewöhlichen Verhandlung hatte sich inzwischen nicht nur in der Veritas Universität und in der Aletheia sondern in anderen Teilen der Universitätsstadt herumgesprochen. "Weil ich nicht weiß, ob alle heute hier Beteiligten auch gestern zugegen waren," begann Moritz Möchtegern der jetzt fast zufällig als Leiter dieser Auseinandersetzungen hervortrat, "erlaubt mir bitte diese kurze Zusammenfassung. Maximilian Katenus und Elly Solmsen sind aufs Festland ins Döhringhaus in der Linnaeusstraße geflohen, weil sie in ihrer Heimat auf der Lügeninsel verfolgt wurden. Aber auch hier auf dem Festland waren sie nicht sicher. Charlotte Graupe, unsere Vorsitzende, ist ein Mitglied der Döhringhausfamilie in der Linnaeusstraße. Sie hatte die Absicht ihre besonderen Beziehung zu seiner Ehrwürden dem Richter Lemuel Adams auszunutzen um die Sicherheit von Katenus und seiner Elly zu gewähren. Da stellte sich heraus, dass der Richter selbst schutzbedürftig war und sich entschloss zwecks seiner eigener Sicherheit Charlotte Graupe als Oberprokuristin der Reichsregierungsbehörden zu küren. Selbstverständlich war Charlotte bereit eine Stelle anzunehmen mittels derer sie befähigt würde nicht nur Lemuel Adams, sondern, was ihr um manches wichtiger war, auch Maximilian Katenus und dessen Elly in Schutz zu nehmen. Dieser anderweitig so idealen Behebung der bedrohlichen Verfolgungen stand nun die Tatsache im Wege, dass eine vorgeschlagene Oberprokuristin vom Reichsregierungskammervorsitzenden ernannt werden musste, dass sich aber, infolge der Digitalisierung der Regierung, die Reichsregierungskammer aufgelöst hatte. Weil nunmehr fast alle Regierungsentscheidungen automatisch mittels der von Herrn Zehplus überwachten elektronischen Rechner gefällt wurden, war die Reichsregierungskammer überflüssig geworden, und ihre einstigen Mitglieder waren zerstoben und nunmehr nicht vorhanden. Abwesend jeglicher zuständigen Beamten, sah Charlotte, um Oberprokuristin zu werden, keine Alternative als sich selbst zur Vorsitzenden der Reichsregierungskammer zu bestimmen um dann wiederum als solche befähigt zu sein sich als Oberprokuristin zu ernennen. Das tat sie, und keiner erhob Einspruch. Der Richter Adams nicht, denn er bedurfte Charlottens Schutz; die Polizeibehörde nicht, denn sie war dem Richter Adams untergeben; Jeremias Zehplus, der Rechnerverwalter nicht, denn er bedurfte zu seiner Arbeit amtliche Unterweisungen; und die zahlreichen Beamten unteren Ranges nicht, denn sie sehnten sich sehr nach Obrigkeit um vor Verantwortung für die täglichen Ungerechtigkeiten welche die Verwaltung des Staats erforderlich machte in Schutz genommen zu werden. So hatte Charlotte sich ohne Widerspruch und ohne Widerstand zur Vorsitzenden der Reichsregierungskammer ernannt, und als solche hatte sie sich wiederum die Stelle der Oberprokuristin zugewiesen, und hatte schließlich etliche Kabinettsmitglieder eingestellt, unter der Bedingung, dass diese ihre, Charlottens Entscheidungen, voraussetzungslos unterstützen und bestätigen würden, Ein Mangel war, dass sie verabsäumt hatte sich die Namen, geschweige denn die Personalien der von ihr Ernannten in irgend eine Urkunde oder auch nur auf irgend einem Zettel zu notieren, so dass es ihr nun unmöglich war, eine Liste der Regierungsmitglieder vorzulegen. Das aber, sagte sich Charlotte, möchte nicht unbedingt nachteilig sein, insofern es sie der Notwendigkeit enthob, an ihren Ernennungen festzuhalten. Ob es notwendig oder auch nur wünschenswert ist all diese Umstände auszusprechen und darzulegen, weiß ich nicht." Nun fuhr Möchtegern fort. "Wir wollen diese Gelegenheit wahrnehmen unseren Staat zu Gunsten der Gesellschaft und ihrer einzelnen Mitglieder herzustellen. Wo fangen wir an? Die Frage enthält ihre eigene Antwort: Am Anfang, wo Gott Himmel und Erde schuf, und Adam, den ersten Menschen nach seinem, Gottes Bilde. Das war, ich will nicht sagen die Ursünde, aber es war der Urfehler. Er hätte statt nur einen Einzelnen, eine Rotte in die Welt setzen müssen, denn es ist dem Menschen unmöglich als Einzelner außerhalb und unabhängig von jeglicher Gesellschaft zu existieren. Die Beziehung zwischen der Gesellschaft und den einzelnen Mitgliedern aus denen sie besteht ist mit Spannungen und Widersprüchen behaftet, die zu erkennen und zu beschwichtigen die Aufgabe ist der wir uns gegenüber finden." "Möglicherweise war es umgekehrt, dass nicht der Gott den Menschen sondern dass der Mensch den Gott erschaffen hat. Dann wäre es der Monotheismus die Schuld und das Schicksal mit dem wir zu ringen haben. Den alten Griechen und Römern stand bekanntlich eine Vielzahl, ein Rudel von Göttern zur Verfügung, eine ganze Gesellschaft mit einander gegenseitig kämpfender Helden. Ein Regierungsvorbild das darauf hinweist, wie immer notwendig, wird dennoch den Menschen ihr Zusammenleben nicht bedingungslos erleichtern." "Diese Erwägungen weisen auf unsere unmittelbare Aufgabe die Beziehungen zwischen uns Einzelnen unter einander, zwischen dem Einzelnen und unserer Gemeinschaft, und schließlich auch unter den verschiedenen Gemeinschaften zu ordnen und zu regeln um unsere Leben erträglich oder auch nur möglich zu machen. Das, so scheint es mir, ist der eigentliche Sinn von Regierung." "Anfangen, denke ich, sollten wir mit einem Inventar der bestehenden gesellschaftlichen Umstände. Die Anzahl der Untertanen ist beträchtlich doch bestimmbar. Ebenso die Anzahl der Beamten, der Minister, der Richter, der Staatsanwälte und der Angestellten der vielen Behörden. Diese Männer und Frauen befinden sich seit dem Verfall der obersten Leitung in wesentlicher Bedrängnis, denn die Untertanen sträuben sich gegen die Mühen und Abgaben die ihnen auferlegt werden, indessen den Beamten die Bestätigung und Rechtfertigung ihrer Bestimmungen in Abwesenheit der Obrigkeit ermangeln." "Die Mitteilungskanäle zwischen der Obrigkeit und dem Beamtentum liegen seit geraumer Zeit brach. Ihr übrigbleibendes Bestehen aber ist hinlänglich um zu beliebiger Zeit aufs Neue wieder belebt zu werden. Als erstes sollten wir uns ihrer bedienen um klarzulegen womit die Beamten sich denn tatsächlich zu gegebender Zeit befassen um dann, bedacht die bestehende Ordnung so wenig wie möglich zu stören, sie vorsichtig in eine mehr produktive, mehr ersprießliche Richtung zu steuern." "Die Beamten, da sie selber ein Maß von Macht genießen, sind es zufrieden sich den Anweisungen von oben zu fügen. Die Untertanen aber sind machtlos in Anbetracht der Obrigkeit und ins Besondere, hilflos in Anbetracht der Gewalt der Beamten. Um den Untertanen ihre sklavische Existenz erträglich und vielleicht sogar annehmbar zu machen hat man die monumentale Lüge der Demokratie erfunden, die Behauptung die den Menschen vorspiegelt, dass sie ihre Leben, ihre Existenzen, dass sie sich selber regieren, indem sie die Representanten, die Volksvertreter sich ihren Wünschen gemäß aussuchen, also wählen. Das Ausmaß dieser Täuschung, sei sie nun edel oder verächtlich, ist kaum vorstellbar." "Dies, so scheint es mir, ist der geeignete Ort auf diese innewohnende, intrinsische Unwahrheit hinzuweisen. Die so oft zitierte Bemerkung von Rilke, 'das was geschieht einen solchen Vorsprung vor unserm Meinen hat, dass wir's nie einholen und nie erfahren wie es wirklich aussah,' ist nicht belanglos in leere Räume verkündet. Wenn wir uns dennoch Aussagen über das Wahre und Wirkliche erlauben, so ist es unvermeidbar, dass diese Aussagen täuschen und verleiten, dass sie unwahr sind und uns in Lessings Worten zu betrogenen Betrügern machen. Wir haben keinen Ariadnefaden entdeckt. Wir vermögen keinen Weg aus dem Labyrinth der Unwahrheit und Täuschung zu finden." "Vorläufig und vorübergehend möchte es uns gelingen die Konflikte in denen die Beamtenschaft sich befindet zu schlichten, und durch unsere Entscheidungen das Bedürfnis der Untertanen ihre Umwelt zu eichen und zu bestimmen befriedigen. Auf die Dauer aber müssen wir bestreben, die wesenlichen Mängel der Regierung zu beseitigen, und das heißt vor allem die Unzulänglichkeiten der Wahlen zu beheben." "Diese Unzulänglichkeiten ergeben sich aus verschiedenen Umständen von denen der Wesentlichste die Geistesgrenzen der betroffenen Untertanen sein möchte, wie sie im 26.Vers des 8. Kapitels des Römerbriefs (Römer 8:26) beklagt wird. 26 Ὡσαύτως δὲ καὶ τὸ Πνεῦμα συναντιλαμβάνεται τῇ ἀσθενείᾳ ἡμῶν· τὸ γὰρ τί προσευξώμεθα καθὸ δεῖ οὐκ οἴδαμεν, ἀλλὰ αὐτὸ τὸ Πνεῦμα ὑπερεντυγχάνει στεναγμοῖς ἀλαλήτοις· '26 Desgleichen auch der Geist hilft unsrer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich's gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns aufs beste mit unaussprechlichem Seufzen.' Sie meinen zu verstehen, aber sie sind verständnislos, denn sie kennen keinen Geist. Sie meinen zu wissen, aber sie sind unwissend, denn sie lassen sich von ihren Worten täuschen. Dabei hegen sie ein dringendes Verlangen ihren Willen zum Ausdruck zu bringen. Es ist unsere Aufgabe ihren Unverstand zu verstehen, als ob sie Kinder in unserer Obhut wären. Es ist uns nicht erlaubt ihnen ihrem Unverständnis gemäß ihren Willen zu lassen. Es ist unsere Pflicht unserm eigenen Verständnis gemäß zu ihren Gunsten zu handeln. Wer mich bezichtigt dass meine Forderung besagte, die Untertanen zu belügen, der beweist, dass er Wahrheit und Unwahrheit, und somit das Wesen der Sprache nicht begriffen hat." "Unsere Aufgabe ist die Wahlen mittels künstlicher Intelligenz in einer Weise zu eichen, dass die Ergebnisse der Wahlen dem Wohl der einzelnen Wähler und dem Wohl der gemeinsamen Gesellschaft in so hohem Maße wie möglich gerecht werden. Ich gestehe dass es ein schwieriger und verwickelter Auftrag ist den ich fordere. Ihm auch nur annähernd nachzukommen wird eine lange Zeit, wird Jahre in Anspruch nehmen. Dabei aber scheint es nicht nur möglich und notwendig, sondern sogar wünschenswert ihn schrittweise in Angriff zu nehmen. Wir sollen und wollen versuchen alles zu vermeiden, das sich als nachteilig für unsere Untertanen, für unsere Bürger ergeben könnte." "Ich bin überzeugt dass sich die gerechte, die vorteilhafte Handlung aus dem Wissen, und nur aus dem zulänglichen Wissen ergibt, und dass wo dieses besteht die wünschenswerte Handlung sich von selbst vorzeigt. Die bestehenden elektronischen Verbindugen im Internet sind vornehmlich geeignet die einschlägigen Daten zu erheben, zu speichern und automatisch zu verarbeiten. Es ist keineswegs notwendig die Nöte und Bedürfnisse sämtlicher Gesellschaftsmitglieder zu ermitteln. Stichproben in der Gesellschaft würden weitgehend genügen um mittels statistischer Berechnungen eine verlässliche anwendbare Schablone als Muster für wünschenswerte politische Bestrebungen zu entwickeln." "Vergleichbar wünschenswert und notwendig wären elektronische Befragungen in Aussicht stehender Kandidaten für die einschlägigen Ämter. Man würde Bewerbern die Gelegenheit geben, ihre Vorschläge für die Entwirrung schwieriger Misslichkeiten mitzuteilen, und sich der Gelegenheit bedienen diese Vorschläge auf Authentizität, Durchführbarkeit und Ehrlichkeit zu prüfen. Man würde mit weiteren verlaufskontrollierenden Folgefragen die Nachhaltigkeit der ursprünglichen Vorschläge eichen, um mit diesen Erforschungen künftige Entscheidungen der zur Wahl stehenden Kandidaten mit erheblicher Verlässlichkeit voraussagen zu können." "Aufgrund solcher Ermittlungen wäre es möglich die unterschiedlichen Folgen verschiedener Wahlergebnisse mit anderweitig unerreichbarer Wahrscheinlichkeit vorauszusagen und dementsprechend die Wahlergebnisse elektronisch zu optimieren, dass heißt aufs denkbar günstigste zu eichen." "Ich weiß, man wird den der eine solche Optimierung befürwortet, mit Empörung als Betrüger bezichtigen, indessen man betreffs der manipulierten Wahlbezirkseinteilung zum Vorteil einer Partei oder der anderen, betreffs der mit Millionen Dollar gekauften, berechnet irreführenden Reklame, betreffs der geistig-seelischen Unmündigkeit der großen Mehrzahl der Wähler, nein nicht ein Auge zukneift, sondern beide Augen schließt und dabei von Unbefangenheit, Wahrheit, Ehrlichkeit und Gerechtigkeit faselt." "Es geht mir nicht darum gerechte, ehrliche, wahrhaftige Wahlen zu korrumpieren und zu verderben, sondern korrupte, korrumpierte, verdorbene Wahlen so gut wie möglich, wenn auch nur um ein Geringes zugunsten unser aller, zu bergen, zu retten. Dergleichen Bergung ist aber mit der verlogenen Voraussetzung dass man mit intelligenten, verständigen, wohlwollenden Menschen zutun habe, unvereinbar, indessen es augenscheinlich ist, dass man mit Personen umzugehen hat die unfähig sind zwischen gut und böse, zwischen Vernunft und Unvernunft, zwischen Wahrheit und Unwahrheit, zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu unterscheiden. Man muss so gut man es vermag die Interessen aller Betroffenen wahren, und es ist notwendig sein Äußerstes zu tun um niemanden zu verletzen oder zu schmerzen." "Zu diesem Zweck muss man als erstes die geistigen Verfassungen aller Beteiligten, der Wähler, künftiger Vertreter und künftiger Beamten ermitteln und eichen. Ebenso wie es herkömmlich erlaubt war die Ansichten und Einstellungen der Wähler und der Beamten durch käufliche Propaganda zu gestalten, so sollte es nunmehr erlaubt sein mittels geeichter Darstellungen das Denken und Urteilen der Wähler und der Beamten umzugestalten. Ich vermag hier und jetzt die Inhalte und die Formen solcher zugegeben propagandistischen Darstellungen noch nicht vorauszubestimmen. Ich glaube sie werden sich im Laufe der neuen Entwicklung des Staates von selbst ergeben. Hier gilt es aber auf das Ausmaß hinzuweisen in welchem im Verlauf von Jahrhunderten, nein im Verlauf von Jahrtausenden, das wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche, wissenschaftliche, religiöse, intellektuelle, geistige,und ganz im allgemeinen kulturelle Leben der Völker, sagen wir, durch oktroyierte Mythen gestaltet worden sind, und wie oft, und in welchem Maße diese Mythen durch beabsichtigte Eingriffe abgewandelt wurden." "Der Zweck, der Sinn, von Wahlen ist nicht Stoff oder Richtmaß für eine gehörige, wirksame, ersprießliche Regierung zu gewinnen. Der Sinn der Wahlen ist den Untertanen die Illusion von Freiheit und Unabhängigkeit zu bereiten, eine Freiheit welche auszuüben die Untertanen zu stumpf, zu unklug und zu träge wären, selbst wenn eine solche Freiheit praktisch zu erreichen wäre. Aber das ist sie nicht. Politische Freiheit ist unerreichbar und unmöglich aus einem ursprünglichen tiefligenden natürlichen Grunde. Nur der Einzelne vermag frei zu sein. Der Herdenmensch ist unerbittlich eingebunden in die Herde. Freiheit und Herdendasein sind wesentlich unvereinbar. Der geistig-seelisch freie Mensch befindet sich in einer unerträglichen Einsamkeit in welcher zu leben unmöglich ist. Der Mensch bedarf anderer Menschen. Der Mensch bedarf der Gesellschaft. Die Gesellschaft macht die Freiheit unmöglich. Die einzige Rettung in dieser und aus dieser äußersten Not ist die Lüge. Um glücklich und zufrieden zu sein bedarf der Mensch der Freiheit. Um zu überleben bedarf der Mensch der Gesellschaft. Freiheit und Gesellschaft sind gegenseitig unvereinbar. Nichts bleibt dem Menschen übrig als sein Leben in gesellschaftlicher Gebundenheit zu verleben, und dieses sich mit der Lüge er sei frei, erträglich zu machen." "Mit diesen vielleicht übermäßig allgemeinen Erörterungen haben wir einen Überblick auf die Forderungen die uns bevorstehen, gewonnen," sagte Moritz Schwiegel. "Nun gilt es die Einzelheiten auszuarbeiten damit wir vorankommen. Fangen wir an mit den Beschreibungen der Qualitäten die in dem Verwalter, - um das Wort Herrscher zuvermeiden - wünschenswert und vielleicht unentbehrlich sind." "Findest du nicht," unterbrach Joachim, "dass die Synonymität, ich meine die scheinbare Equivalenz von Verwalter und Herrscher bedeutsam ist." "Da hast du Recht, Joachim," sagte Schwiegel, "Es ist nun einmal so, dass die Welt in welcher der Einzelne lebt, vielleicht mehr noch durch seine Handlungen gestaltet wird als durch seine Vorstellungen, und ich glaube Entsprechendes gilt für die Gesellschaft. Aber zurück zu den wünschenswerten Eigenschaften der Verwalter. Was meint ihr?" "Deine Frage," antwortete Mengs, "scheint mir auf eine bedeutende Schwierigkeit zu weisen." "Das ist gut," sagte Schwiegel, "denn eine Frage mit einer offensichtlichen Antwort, ist keine Frage sondern nichts als ein rednerischer Vorwand. Aber bitte zeig uns die Schwierigkeit." "Euer Kandidat, ist entweder mit Sicherheit oder mit Unsicherheit seiner selbst behaftet. Wär er der Erstere, also der Selbstsichere, so bestünde die Gefahr, dass er seine Untertanen verachtet und sie tyrannisiert und dass es ihm, von eigener Überlegenheit überzeugt, unmöglich ist, sich guten wohlgesinnten Rats zu bedienen. Wäre er der Letztere, also seinerselbst Unsicher, so möchte er sich unfähig erweisen sein Verständnis in seinen Handlungen zu verwirklichen; oder ärger noch, indem er sich gedrungen fühlt seine Minderwertigkeitsempfindungen mit Arroganz aufzuwiegen. Ach, der Mensch hat ein so verwickeltes, verschränktes Wesen, dass es unmöglich sein möchte seine Handlungsweisen vorhersichtig, vorsichtig zu regeln." "Du meinst also," fragte Joachim, "dass wir unsere Versuche einen besseren, einen mehr menschlichen oder einen mehr göttlichen Staat zu entwerfen aufgeben sollten?" "Nein, Joachim," sagte Moritz Schwiegel, "das meine ich nicht; denn erstens ist ja der Staat in dem wir uns befinden so marode, nicht, dass er nicht noch schlechter werden könnte, sondern dass eine dringende Gefahr besteht dass er, wenn wir nicht handeln, gewiss sehr bald viel schlechter wird als er es schon ist. Wir haben keine Wahl. Wir müssen handeln." "Bilder," sagte Katenus, "Nicht Reden, nicht Worte, Bilder werden die Antworten auf unsere Fragen hervorrufen. Zeig den Kandidaten Bilder und lass sie reden, und dann lass ihre Worte unmittelbar dem Rechner anheimgegeben sein. Indem wir die digitale Charakterbeschreibung, Analyse und Prognose in Erwägung ziehen, sollten wir nicht übersehen dass es durchaus möglich, und überaus wünschenswert ist, das Instrument der künstlichen Intelligenz das wir hier zusammenstellen, versuchsmäßig, experimentell zu eichen. Denn wir kennen ja viele Menschen von denen wir wissen wer sie sind, was sie geleistet haben, und die Art der politischen Leistungen die wir von ihnen zu erwarten haben. Es sollte mich wundern, wenn es nicht viele unter ihnen gäbe, die bereit wären uns bei der Entwicklung unseres Instrumentars behilflich zu sein, indem sie an unseren Untersuchungen teilnehmen und es uns ermöglichen experimentelle Voraussagungen mit biographischen und historischen Daten zu vergleichen." "Und dann die Bürger, die Wähler, die Untertanen. Es wäre wohl nächstliegend ein elektonisches Registrieren zur Wahl einzuführen, mit weitläufigen tiefschürfenden wiederholten Fragen aus deren Antworten man nicht nur auf die politische Gesinnung, sondern auf die Familien, auf berufliche und wirtschaftliche Umstände, auf die geistigen und seelischen Verfassungen der einzelnen Wähler schließen möchte, selbstverständlich mit dem Vorbehalt dass etliche der Antworten bewusst oder unbewusst, absichtlich oder unabsichtlich irreführend sein möchten. Unter Umständen könnte man sogar offene, scheinbar ehrliche konsistente verlässliche und widerspruchslose Antworten als Vorbedingung für das Wählen verlangen. Wahrscheinlich aber sollte man davon absehen die Wahlgelegenheiten aufgrund fehlerhafter, anstößiger Antworten einzuschränken, und statt dessen deren Unzulänglichkeiten beim Zählen und Bewerten der Stimmen in Betracht ziehen. Ganz im Allgemeinen, sollte man sich von dem Irrtum der Voreingenommenheit befreien, dass Verlass auf die ungeeichten Stimmen irgendwie als unantastbarer Maßstab für die Gültigkeit und Redlichkeit der Wahl dienen sollte. Im Gegenteil, man darf die Verdorbenheit des herkömmlichen Wählens nicht aus den Augen lassen, sollte dessen Hinfälligkeit betonen und sich weigern ungeeichte und unlegierte Wahlergebnisse anzunehmen." Jeremias Zehplus hatte zugehört. Jetzt sagte er, "Rechnerprogramme der Art die Sie beschreiben, bestehen schon und sind verfügbar, wenn Sie mich entsprechend beauftragen, werde ich sie ihnen vorführen, und dann ihren Anweisungen gemäß ihnen zu Begutachtung und Bestätigung vorführen." Scheinbar aber hatte er voreilig gesprochen, denn kaum hatte er sein Angebot ausgesprochen, so erbat sich Zehplus nach kurzem Bedenken drei Wochen Überlegungs- und Verfertigungszeit für seine Aufgabe. Es ist ein weites Feld, sagte er sich, und wenn ich es an der falschen Ecke oder gar in ungeschickter Weise angreife, kommen alle meine Bemühungen zu nichts. Bei weiterem Nachdenken wurde es Zehplus klar, dass er sich nicht vorstellen könnte, wie man mittels künstlicher Intelligenz eine neue und bessere Verfassung und Staatsregierung entwerfen möchte." Ich weiß es nicht," sagte er zu Charlotte, "wo und wie ich anfangen sollte, und wenn ich angefangen habe, in welche Richtungen ich meine Bemühungen lenken sollte." Charlotte dachte nach und sagte, "Weißt du, ich glaube du hast recht, denn auch ich weiß nicht wo und wie wir mit dem großspurigen Unternehmen eine neue aus künstlicher Intelligenz sich ergebende Regierung zu entwerfen, den Anfang machen sollten." Es entstand eine Pause, und Zehplus fragte sich ob diese auch Charlottens Ratlosigkeit besagte oder ob sie sich im Stillen mit sich selbst beriet. Plötzlich verwandelte sich ihr Gesichtsausdruck. Ein mattes Lächeln überflog ihre Lippen, Wangen und Augen und ergoss sich in begeisterte Offenbarung. "Ich sehe es jetzt sehr klar," sagte sie, "O, wie kommt es, dass ich eine so lange Leitung habe. Herr Möchtegern, ich glaube er heißt Moritz mit Vornamen, Herr Möchtegern hat die Antwort, nein, Moritz Möchtegern ist die Antwort die wir suchen. Wenn er nur nicht schon fortgegangen ist!" Glücklicherweise war er's noch nicht. Zehplus eilte ihn zu suchen, und fand ihn unter den unruhig werdenden Beteiligten. Moritz Möchtegern war in einem lebhaftem Gespräch mit Joachim Magus verstrickt, das zu unterbrechen Zehplus sich scheute. Schließlich war es Joachim der Jeremias Zehplus gewahrte, dem die Anwesenheit von Jeremias Zehplus den Fluss der Gedanken unterbrach. "Ach Herr Zehplus," sagte Joachim, "Ich bin ihnen ja so dankbar für ihre Bereitschaft die Namen von Maximilian Katenus und Elly Solmsen aus der Verfolgungskartei zu entfernen. "Das habe ich gern getan," sagte Zehplus, "ich finde es war höchste Zeit. Ich entschuldige mich ihre Unterhaltung zu unterbrechen. Aber unsere Vorsitzende Frau Charlotte Magus, sie ist doch, wenn ich es recht verstehe ihre Frau, wünscht dringend die Gelegenheit mit Herrn Möchtegern über die weiteren Abänderungen unserer Rechnerkarteien betreffs einer erneuerten und verbesserten Regierung zu beraten, denn, ich muss es gestehen, die Aufgabe liegt an der Grenze meiner Kompetenz, und ich fürchte weit über diese hinaus." "Ach," sagte Joachim, "da hätten sie uns doch unterbrechen sollen. Denn die Angelegenheit wegen Erneuerung des Staates durch künstliche Intelligenz und Digitalisierung ist ja viel wichtiger, es ist ja der Grund weswegen wir hier sind. Darf ich mitkommen?" Von dem langen Warten war Charlotte ungeduldig geworden. Sie hatte begonnen zu befürchten, dass Möchtegern doch schon fort gegangen war, oder dass er aus Beleidigung oder sonstigem anderen Unmut sich weiterer Beteiligung an diesem großen Problem entzogen hatte. Nun als sie Zehplus und Möchtegern sich ihrem Sitz am Kopfende der Regierungstafel näher kommen sah, war Charlotte erleichtert. Dabei stimmte sie Joachims Begleitung einigermaßen verlegen, doch jetzt, fand sie, war nicht Gelegenheit ihren diesbezüglichen Gefühlen nachzuspüren. "Ich bin ja so erleichtert," begann Charlotte, "Es ist gut, Herr Möchtegern, dass sie noch nicht fortgegangen sind. Das Glas da hatte ich austrinken wollen ganz allein auf das Vergessen von dem Bösen das gewesen ist." Sie unterbrach sich, "Aber was rede ich denn da für einen Quatsch, denn welches Glas? Und nichts Schlechtes ist geschehen." Da meinte Joachim ihr zu Hilfe kommen zu sollen. "Selbstverständlich finde ich, ist es gut das Böse das in der Aletheia geschehen ist zu vergessen, und dennoch finde ich es gut das Böse zu erinnern - welch ein Widerspruch, - um uns seiner Überwindung zu versichern, und vielleicht auch dieses Überwinden einigermaßen zu feiern." Charlottes fahrlässiges Zitieren uneinschlägiger literarischer Texte verdutzte Möchtegern, steuerte es doch nichts zur Lösung der offenbar so schwierigen Problematik bei. "Sie haben mich kommen lassen," sagte er in einem etwas steifen Ton. "Womit kann ich ihnen behilflich sein?" "Ach ja," antwortete Charlotte, "Das Löschen der Namen Maximilian Katenus und Elly Solmsen in den Verfolgungskarteien ist uns mittels der verständnisvollen und großzügigen Hilfe von Herrn Jeremias Zehplus in wunderbarer Weise gelungen. Daraufhin meinten wir wo infolge der durchgehenden Digitalisierung der Behörden unsere Kanzleien leer sind, die Regale und die Aktenschränke leer, sollten wir uns dieser Gelegenheit bedienen, mittels von künstlicher Intelligenz eine gerechte und wirksame Regierung zu entwerfen. Mit diesem Vorhaben wandte ich mich an Herrn Zehplus. Der bat um weitere Hilfe, und deretwegen wenden wir uns an Sie." "Es ist mir eine Ehre zu versuchen ihnen behilflich zu sein. Bitte überschätzen sie weder meine Erfahrung noch mein Wissen. Meine Frau Erato ist sehr klug. Auch ihr Rat wird uns zur Verfügung stehen. Am hilfreichsten aber wird uns mein angeheirateter Stiefbruder sein, ein Herr Trismegistos. An ihn werde ich mich mit ihrer Zustimmung wenden und ihn bitte an unseren Besprechungen teilzunehmen. Möchtegern ging fort um zu telephonieren. Nach wenigen Minuten kehrte er wieder und berichtete. "Herr Trismegistos sagt der erste Schritt müsste sein eine Vorlage herzustellen, aber kein abgeschlossener, fertiger Entwurf, sondern ein sich forthin entwickelndes Modell das vom künstlichen Intelligenz Programm gestiftet und ausgebaut würde. Dies Modell würde das Leben der Menschen, ihren Staat und ihre Regierung darstellen, und Gelegenheit bieten die amtlichen Einrichtungen zu simulieren und die verschiedensten Abweichungen zu prüfen. Offensichtlich würden diese Ermittlungen stufenweis geschehen. Sie würde durch künstliche Intelligenz entworfen und durchgeführt." "Zu gleicher Zeit würden die Handlungsweisen und Entscheidungen, die Verfügungen der Beamten in allen Abteilungen, der Richter, der Polizisten, der Grundschul- Gesamtschul- und Hochschullehrer. und somit die Ausbildung und die Gemütsverfassung der Bevölkerung von künstlicher Intelligenz gesteuert gestaltet und geprägt. Diese Veränderungen würden durchgesetzt nicht mittels ausdrücklicher Anweisungen an die Beamten oder an die Bürger im Allgemeinen, sondern durch die Redaktionen und Revisionen von Lehrbüchern, besonders aber von Wörterbüchern, denn um das Denken umzugestalten gilt es die Sprache zu verwandeln." Es war Möchtegern der diese Vorschläge machte, aber schüchtern und mit Zaghaftigkeit. Er gestand und bekannte dass ein derartiges Problem ihm noch nie in seiner beruflichen Tätigkeit begegnet war. Mehr erfahren aber war seine Frau die er bei der Krötenrettungsangelegenheit kennen gelernt hatte, und die damals zu ihm in sein Haus gezogen war um ihn seelisch und körperlich zu pflegen bis sie ihn schließlich heiratete. Ihre Hochzeit hatten sie vor fünf Wochen gefeiert. Erato war es ja denn auch gewesen die ihn, Möchtegern, hergesandt hatte um Charlotte Graupe mit der Lösung des Katenusverfolgungsproblems beizustehen. Möchtegern bat um Erlaubnis Erato die er als hundert Prozent verlässliche und unbeschreiblich kluge Frau lobte, herzuzuziehen. "Erato," erklärte Möchtegern, "ist die Tochter von Zeus und der Titanin Mnemosyne; sie ist die Schwester von Calliope, Clio, Euterpe, Melpomene, Polyhymnia, Terpsichore, Thalia und Urania. Hermes ist der Sohn des Zeus und der Pleiade Maia, Hermes der auch Trismegistus genannt wird, ist also mein angeheirateter Stiefbruder. Möchtegern ist der Kosename den sich meine liebliche Frau Erato erklärt indem sie behauptet ich erinnere sie an ihn, und sie weiß, ich möchte gern so klug wie Hermes sein. Hermes aber den wir gern zugezogen hätten, sagt er wäre anderweitig in Anspruch genommen, und lässt mir durch Erato bestellen, ich solle nicht so träge sein, ich wäre durchaus in der Lage die notwendigen Kriterien für eine wirksame künstliche Intelligenz auszuarbeiten. Ich könnte das sehr gut, und in jedem Falle stünde er mir als Fachberater, als Konsiliarius zur Verfügung. 19. Kapitel >> Heinrich hat Angst - 14397 << geprüft,in Ordnung "Tun Sie es nicht! Tun Sie es nicht! Tun Sie es nicht!" ertönte eine unbekannte Stimme. Das erste Mal erklang sie gedämpft und zaghaft, beim dritten Mal aber hatte sie sich zu einem Schrei von Angst, Entsetzen und Verzweiflung geballt und gesteigert. Der plötzliche, unerwartete Ausbruch hatte die Versammlung gelähmt. Nun schwieg der Sprecher und keiner sonst vermochte ein Wort hervorzubringen. Die Beteiligten blickten umher, blickten einander an, suchten einen Hinweis was zu sagen und wie auf diese orakelhafte Warnung zu reagieren. Moritz Schwiegel war der erste dem es gelang sich zu sammeln. Moritz fragte "Was ist es, das wir nicht tun sollen?" bekam aber keine Antwort. Da fragte ein anderer, ich glaube es war der Richter Adams, "Wer sind Sie eigentlich, der Sie sich erdreisten uns mit diesen geheimnisvollen Worten zu verweisen und zu drohen? Da erhob sich im weiteren Umkreis der Tafel der sorgfältig gekleidete Begleiter des furchtsamen Orakels und erklärte, "Ich heiße Jens Berlingen und bin ein Pfleger von Heinrich Krienitz, der ihnen allen soeben diese leidenschaftliche Bitte und Warnung erteilte. Heinrich wohnt zur Zeit im Sanatorium in Königslutter. Wir sind bestrebt und bemüht ihn wieder in die Öffentlichkeit einzugliedern, und zu diesem Zweck begleite ich ihn in Konzerte, ins Theater und in die verschiedensten Versammlungen, wie zum Beispiel diese." "Entschuldigen Sie bitte, Herr Berlingen," begann Jonathan Mengs, "Vor Jahren hat mein verstorbener Lehrer Jakob Döhring mir von einem Einsiedler der im Kellergeschoss der Wolkenseehütte im Schneegebirge wohnte erzählt, einem scheinbar gelehrten Menschen der dort Monate oder vielleicht auch Jahre mit dem Studium griechischer, lateinischer, englischer und deutscher Schriften verbrachte. Ich meine zu erinnern, dass jener einen ähnlichen, wenn nicht den gleichen Namen hatte. Da antwortete Jens Berlingen, "Genau, das ist er, derselbe, das ist er, und verbringt auch in Königslutter Tage und Nächte mit scheinbar ununterbrochenem Lesen und Schreiben. Fragen Sie ihn doch, was er im Sinn hat. Er ist ein begeisteter Redner, und wird ihnen ausführlich berichten, wahrscheinlich umständlicher als Sie es hören möchten." Heinrich wartete auf keine weitere Aufforderung und fing an zu reden: "Die künstliche Intelligenz ergänzt das Denken und ersetzt das Erleben. Den der sich ihrer bedient enteignet sie seines Ichs, seiner Seele. Sie ist Maschine, und als solche ist sie ansteckend und verwandelt den der sich mit ihr einlässt in eben solch eine Maschine wie sie es ist. Sie verlockt den Geist mit ihrer vermeintlichen Bestimmtheit und Zuverlässigkeit, und so zerstört sie ihn, wo er doch ausgerechnet in Unbestimmtheit, Möglichkeit und Hoffnung lebt. Mit ihrem Versprechen von Vollkommenheit verlockt sie uns ins Nichts, so wie die Aussicht auf das ewige Leben uns dem Tod preisgibt." "Heinrich hat recht," sagte Hans Folterer, "zugleich aber hat er auch Unrecht. Ich schlage vor wir sollten uns der Gelegenheit bedienen unser Verständnis zu vertiefen. Ich betrachte die sogenannte künstliche Intelligenz als von Maschinen bearbeitetes, erweitertes und kontrolliertes Denken gewissermaßen vergleichbar mit der Tätigkeit einer Rechenmaschine welche die Vorgänge des Rechnens die sich in meinem Gemüt abspielen mit sehr großer Geschwindigkeit und anderweitig unvorstellbarer Genauigkeit und Zuverlässigkeit abwickelt. Der Sinn aber und die Folgen der automatischen Berechnung sind von der Auswahl der Eingaben und von der Anwendbarkeit und von den Anwendungen der Ergebnisse abhängig. Es ist nun einmal eine Eigenschaft unserer Existenz, es ist unser Leben, es ist unser Schicksal uns zu verwandeln. Ich bin mir der Schwierigkeiten und der Gefahren welche die Verwandlungen unentrinnbar nach sich ziehen bewusst, weiß aber dass ich keine Wahl habe als sie in Kauf zu nehmen, als mich ihnen zu unterziehen. Zweifellos wird die künstliche Intelligenz etliches das wir in der Vergangenheit mühevoll und fehlerhaft zu erwägen genötigt waren mit unbeirrter Leichtigkeit abtun, wird etliche Aufgaben uns aus dem Wege räumen, wird in mancher Hinsicht unsere Leben vereinfachen und uns Langeweile bescheren, wird uns aber für die Behandlung und Verarbeitung verschiedenster Probleme unerwartete neue Ansätze geben. Vielleicht am bedeutendsten für uns werden die neuen Gesichtspunkte auf unser Denken und Tun zu welchen diese neue Kunst der Intelligenz uns einlädt." "Heinrich hat recht." sagte Jonathan Mengs, "Seine Einwände dünken mich sehr einschlägig. Zwischen dem mathematischen Symbol und dem ausgesprochenen Wort besteht ein unüberbrückbarer qualitativer Unterschied mit dem wir uns ewig auseinandersetzen müssen. Ein wesentliches Instrument das uns zum Ausgleich zwischen dem Symbol und dem erlebten Ereignis dient ist das Modell. Nebenbei möchte ich darauf hinweisen, dass ich versuche Leibnizens problematische und geheimnisträchtige Monade als Modell eines Modells zu deuten. Mir scheint dass alle mathematischen Rechnungen auf Modelle des Wirklichen auslaufen, nie aber auf das Wirkliche an sich. Dies als Hinweis, dass Modellieren zwar oftmals ein Erkenntnisnetz zu entwirren scheint, dass aber tatsächlich Modellieren die Ungereimtheiten des Erkennens nicht löst sondern nur verschleiert. In diesem Zusammenhang erinnere ich an die geläufigen Modelle der mathematischen Physik: an das Teilchenmodell, an das kosmologische Modell, an die Relativitätstheorieen und an die Quantenmechanik." "Um uns die künstliche Intelligenz zunutze zu machen gilt es unsere Erfahrungen in Modelle, die sich beschreiben, zählen und messen lassen, zu übersetzen. Solche Modelle dienen dann als Gegenstände deren Eigenschaften, Begrenzungen, Geschichten und Verwandlungen, deren Zahlen, Maßen und Eigenschaften die künstliche Intelligenz verarbeiten möchte um uns die Wahrscheinlichkeiten von Folgen verschiedener modellierter Handlungsweisen vorauszusagen. Damit würde es möglich die Rechner so zu programmieren dass sie selber, zum Beispiel die günstigsten Zoll- oder Steuersätze, die günstigsten Ergebnisse von Wahlen, und die günstigsten Rentenbeträge und Termine auszurechnen vermöchten. Die Einzelheiten der verschienen möglichen nützlichen Untersuchungen sind zu verzweigt um sich voraussagen zu lassen. Nichtsdestoweniger möchten allgemeine Betrachtungen einschlägig sein." "Betrachten, bedenken und erwägen wir das Wählen das in unserer Demokratie so hoch bewertet wird. Der Vorgang möchte kaum einfacher sein, und ist dennoch mit vielem Unbestimmten behaftet. Was ein jeder von uns in beliebiger Gegenwart erlebt lässt sich weder in Namen noch in andere Worte zusammenfassen, auch lässt es sich durch Worte erzeugen, lässt sich nicht modellieren, und der Anspruch dies dennoch zu tun, ergibt eine Pseudowirklichkeit welche leere Probleme schafft und zu eitlen Fragen Ausschlag gibt, die zu scheinbaren Lösungen führen. Diese, jedoch, sind Pseudolösungen die das eigentliche Erleben nicht erreichen, und sich deshalb als belanglos erweisen. Über was alles lässt sich nicht abstimmen? Abgeordnete verschiedenen Ranges, unter Umständen auch Gesetzentwürfe, oder andere einzelne politische Fragen, sogenannte Referenda oder Volksabstimmungen zur unmittelbaren Entscheidung. Für Abgeordnete stimmt man dem Namen nach. Sie halten öffentliche Reden, sie äußern sich im Fernsehen; in Diskussionen und Unterhaltungen stellen sie sich den Fragen von Berichterstattern, sie beteiligen sich an Debatten, und nicht selten werben sie um der Wähler Stimmen mit allgemein veröffentlichten oder postversandten Schriftstücken. Das sind Mitteilungen die sich auf die Bedeutungen von sprachlichen Versicherungen, von Versprechen verlassen." "Tatsächlich sind Versprechen und Versicherungen von politischen Kandidaten zumeist unzuverlässige Propaganda und Reklame zugeschnitten den größtmöglichen Anteil der Wähler für sich einzunehmen. Die Ansichten, Bedürfnisse, Wünsche, Begehren der Wähler sind unvermeidlich unterschieden, und nicht selten widersprechend. Nur ein geringer Bruchteil der Wähler nimmt seine Forderungen und die Antworten und Versprechen der Kandidaten ernst genug um vom nicht in Erfüllung Gehen ihrer Wünsche und Hoffnungen enttäuscht zu sein oder sich deswegen gar betrogen zu fühlen. Sie empfinden sich hilflos, und ihre Hilflosigkeit stimmt sie gleichgültig. Umso wichtiger erscheint es ihnen, dass die Wahlen eingerichtet werden in einer Weise die den mit ihnen übereinstimmenden Wählern das Abgeben der Stimmen erleichtert, und den ihnen widersprechenden Wählern das Abgeben der Stimmen erschwert. Dass unter diesen Umständen die Verwaltung der Wahlen manches zu wünschen lässt, bedürfte kaum weiterer Erwägung." "Theoretisch möchte man als Schwellenaufgabe die Aufklärung und Rationalisierung der Sprache voraussetzen. Aber ein solches Vorgehen wäre vergebens, denn das Einzige und Endgültige das uns die Sprache zu zeigen, zu beweisen hat, ist ihre Begrenztheit; und das Wesentlichste das sie uns zu lehren hat, ist dass wir über sie hinausgehen müssen. Hilfe vermag ihr nur von außen, - sollte ich schreiben, nur vom Jenseits-Sprachlichen, vom Metasprachlichen zuzukommen. Es ist denkbar, dass die künstliche Intelligenz uns über die Grenzen der Sprache hinweg hilft. Die künstliche Intelligenz ist ein Werkzeug, ein Instrument, wie ein Spaten, wirksam aus keinen anderen Gründen als das es die Arbeit beschleunigt. Man erlaube mir ein Beispiel. Ich möchte einen 15x8x3=360 Kubikmeter großen Keller ausschachten. Mit den bloßen Fingern: 1000 Kubikzentimeter pro Stunde, Ein Meter = 100 Zentimeter; ein Kubikmeter = 100^3 = 1000000 Kubikzentimeter. Bei 1000 Kubikzentimeter pro Stunde, wären 1000 Stunden für 1 Kubikmeter nötig. 1 KM = 1000 Stunden; 1000 Stunden = 125 Tage Arbeit;für den ganzen Keller von 360 Kubikmetern wären 125x360=45000 Tage Arbeit notwendig; 45000/365=123,2876; 45000 Tage wären 123,29 Jahre Arbeit. Statt mit den Fingern, mit einer Schaufel, sagen wir 100 Mal so schnell, also 1,2329 Jahre Arbeit, mit einem Dieselbagger wiederum 100 mal so schnell, also 4,5 Tage Arbeit. Demgemäß wäre es ebenso vernünftig oder unvernünftig zu behaupten die zehntausendfaltige Beschleunigung des Denkens mache einen oder keinen qualitativen Unterschied beim Denken wie beim Graben. Die Zahl meiner Lebenstage, die Zahl der Stunden in denen ich arbeitsfähig bin ist begrenzt. Ähnliche Ungereimtheit bei Vergleichen des Schwimmens, Laufens, Autofahrens, Fliegens... Wir pflegen zwischen quantitativen und qualitativen Veränderungen zu unterscheiden. Nicht zu übersehen ist dass wesentliche quantitative Unterschiede oftmals sehr bedeutende qualitative Unterschiede nach sich ziehen. Man bedenke, zum Beispiel die Lichtgeschwindigeit, das Lichtjahr, oder vielleicht Tausende wenn nicht Millionen von Lichtjahren." "Herkömmlich meint man, dass es so etwas gibt wie Vernunft, dass die Vorstellungen der Vernunft wahrhaftig sind, und dass die Vernunft die wirkliche Welt erschließt, dass, mit anderen Worten, Vernunft die Wirklichkeit gewährt. Unbestimmt bleibt ob jedermann über seine eigene Vernunft verfügt, oder ob die verfügbare Vernunft eine allgemeine, gesellschaftliche ist, in Wörterbüchern, Lexika, Enzyklopädien beurkundet. Ich frage ob Vernunft mit Common Sense übereinstimmt, oder wenn nicht, welches die Umstände sein möchten, unter denen Vernunft unabhängig, wenn nicht dem Common Sense entgegengesetzt, entstehen und bestehen möchte." "Der Verweis darauf, dass künstliche Intelligenz, nach etwas 'nicht Bestehendem' fragt, solch 'nicht Bestehendes' dennoch zu beschreiben vermöchte, eröffnet die Frage, was es denn besagen möchte, dass etwas bestünde? Meiner Ansicht gemäß ist das Bestehen einer Sache eine Frage der Sprache, will sagen des Mythos; beide künstliche Intelligenz und natürliche Intelligenz sind mit der Erfindung (Entdeckung) von Begriffen des 'nicht Bestehenden' beschäftigt. In dieser Hinsicht ist zwischen künstlicher Intelligenz und natürlicher Intelligenz kein Unterschied. Im Gegenteil, es ließe sich künstliche Intelligenz so einrichten, dass sie ihre Beschlüsse in gehörigen Maßen zu bestätigen und zu widerlegen vermöchte, dass sie selbst die Verlässlichkeit ihrer Aussagen zu bezweifeln imstande wäre. Und diese Verlässlichkeit ließe sich prüfen, indem man der künstlichen Intelligenz Probe-eingaben machte, wie etwa Fragen nach einer Person mit einem fingerten Namen, einem fingierten Geburtstag oder erdichteten Eltern. Ich vermag mir kaum Einfacheres vorzustellen als die Prüfung der Verlässlichkeit eines künstlichen Intelligenz Verlaufes." "Die Erkenntnis des Wesens der Intelligenz als in der Sprache wurzelnde geistige Tätigkeit möchte dann vielleicht die wesentlichste Folge von künstlicher Intelligenz sein, mit der Klarlegung der Beziehungen von Intelligenz einerseits zum Gemüt des Einzelnen, und andererseits zu der Gesellschaft von welcher der Einzelne sich nicht zu trennen vermag." "Unserem Unternehmen unser gesellschaftliches, und ins besondere, unser politisches Zusammenwirken durch künstliche Intelligenz zu verbessern, stehen die Tatsachen im Wege, dass künstliche Intelligenz sowohl als auch natürliche Intelligenz nur unzulänglich verstanden werden. Ich weiß nicht inwiefern es möglich sein wird, dies Missverständnis oder Unverständnis zu beheben. Ist es möglich, dass schon der Vorsatz zwischen künstlicher Intelligenz und natürlicher Intelligenz zu unterscheiden ein Missverständis besagt? Sollte man vielleicht die Bewahrung des Gedankens als Schrift, als Druck, als Urkunde künstlich, und künstlich intelligent bezeichnen, um die Anwendung von elektronischer Bearbeitung und Speicherung eines Textes unerwähnt zu lassen? Dienen nicht das beschriebene Papier, das Buch, als Stützen des allzu flüchtigen Gedächtnisses? Sollte nicht künstliche Intelligenz als eine Instrumentensammlung betrachtet werden, welche natürliche Intelligenz unterstützt und erweitert? Ich vermag auch ohne Stock spazieren zu gehen, aber mit dem Fahrrad, mit dem Auto, mit der Eisenbahn, mit dem Schiff, mit dem Flugzeug, reise ich so viel weiter und um so vieles schneller, dass ich mit dem Verlass auf die Verkehrsmittel nicht nur einen quantitativen sondern auch einen qualitativen Unterschied in meiner Bewegungsfreiheit erkennen muss." "Das Bedürfnis nach der Übereinstimmung der Symbole die man Wahrheit nennt, möchte unter Umständen 'spontan', von selbst, bei der künstlichen Intelligenz zum Ausdruck kommen, insofern als im Gegensatz zur natürlichen Intelligenz, der 'neutral' programmierte Rechner, ein 'ungefärbt' Gemüte darstellt, das kein Bedürfnis, keine Neigung zum Täuschen spürt. Es ist ja die 'Färbung', das Abgleiten ins Einseitige, Willkürliche das die Wahrheit entstellt und die Wirklichkeit verschleiert. Dass aber ein Rechner der mit künstlicher Intelligenz programmiert ist tatsächlich ein 'ungefärbt Gemüte' aufweist möchte durch Stichproben bestätigt werden." "Wenn man die Begriffe Wahrheit und Wirklichkeit empirisch und induktiv untersucht, dann kann man nicht umhin als hinfällig, falsch, unwahr und unwirklich beurteilen, was alles die Menschen im Verlauf der Jahre, der Jahrhunderte und der Jahrtausende, als gültig, wahr und wirklich betrachtet haben, in Bezug auf Gott, Götter und Teufel, auf Himmel und Erde, in Bezug auf Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit. Das alles sind Unbestimmbarkeiten worüber die Menschen gestritten und weswegen sie ihr Blut vergossen haben. Deshalb muss man die künstliche Intelligenz mit Hoffnung auf Verbesserung willkommen heißen." "Heinrich hat recht," sagte Moritz Möchtegern, "jedenfalls dies ist die Ansicht meines Stiefschwagers Trismegistus, der weist darauf hin, dass der Menschen Seele nichts weiteres ist als ein verwehender Hauch, dass um auch nur sich selbst zu erscheinen, der Mensch sich täuschen muss. Künstliche Intelligenz, wenn sie die Wahrheit sagt, kann nicht umhin die Hinfälligkeit der natürlichen Intelligenz zu offenbaren. Bestätigt aber künstliche Intelligenz die natürliche Intelligenz, dann täuscht künstliche Intelligenz, macht sich unsinnig und überflüssig und zeigt ihr wahres Wesen." "Schließlich sind wir zu einem Ende, zu einem Beschluss, zu einem Schluss gekommen, zu einem Ende das zugleich, weil das Leben das natürlicherweise bestrebt ist sich fortzusetzen, sich zu entwickeln, stets ein Anfang ist, ein Anfang aber nicht für uns, sondern für unsere Nachkommen, für die nächste Generation. 1) Wir vermögen der symbolischen Zeichen, der Worte und der mathematisch-logischen Merkmale nicht zu entbehren, denn sie sind die Instrumente mittels derer wir Menschen als Zusammengehörige uns einander mitteilen, sind aber auch zugleich die Instrumente mittels derer ein jeder von uns sich entwickelt, entfaltet, erblüht, und geistig fruchtbar wird. 2) Wahrheit und Wirklichkeit sind a) objektiv, die Übereinstimmung identischer symbolischer Zeichen mit einander und b) subjektiv, die zwingende Ausschließlichkeit des augenblicklichen momentanen, vorübergehenden Erleben des Einzelnen. Wohlbemerkt, die objektive Übereinstimmung symbolischer Zeichen mit einander ist, so wie alle mathematischen Schlüsse, unvermeidlich ein Urteil mit subjektiver Überzeugung behaftet und bestätigt. 3) Zwar vermag das Symbol Erleben zu stiften, aber der Anspruch des Symbols das Erleben zu erschöpfen ist Lüge." "Aus dem Zusammensein der Menschen entsteht die Gesellschaft, und die Gesellschaft, insofern sie handelt, ist Regierung. Wie der Einzelne sich verwandelt indem er sich selber und seiner Umstände bewusst wird, so auch die Gesellschaft. Unser Zusammenkommen hier und unsere Konferenz kann nicht umhin uns zu verwandeln, und diese Verwandlung hat ihren anfänglichen Ausdruck in dem Beschluss 'Jedermann' als Verfolgungsziel in die Rechnerkarteien einzutragen. Das war einfach, kaum gesagt, dann schon getan." "Nun aber der Versuch die Struktur der Regierung auszubessern, ins Besondere vorerst um Wiederholungen von Verfolgungskarteiensanierungen nach Möglichkeit überflüssig zu machen und weiterhin andere Verwaltungsverbesserungen einzuleiten. Das ist viel leichter gesagt als getan. Man schlägt vor, zwecks solcher Absichten sich der künstlichen Intelligenz zu bedienen. Ich begrüße diesen Vorschlag als möglichen Hinweis auf den Weg zu einem wünschenswerten Ziel; vielleicht aber wertvoller noch als Gelegenheiten beides, die Unzulänglichkeiten gegebener Regierungsvorgänge zu erläutern sowohl als auch Wesen und Wirksamkeit der künstlichen Intelligenz einzuschätzen." "Die Gesellschaft besteht aus Einzelnen. In sogenannten demokratischen Staaten wird das selbstständige Urteilen und Handeln derer einzelnen Mitglieder behauptet und betont; wobei der oftmals überwältigende Einfluss der Gesamtheit, der Herde, unbeachtet bleibt. Wenn ich das vermeintliche unabhängige und autonome Denken und Handeln von einzelnen Gesellschaftsmitgliedern, einbeschlossen meiner selbst, beobachte und bedenke, bin ich beeindruckt von dem Ausmaß in welchem das Sprechen, Denken und Fühlen, das Wissen und das Verstehen des Einzelnen nicht nur durch andere einzelne Gesellschaftsmitglieder sondern auch durch die Gesellschaft als scheinbar unteilbares Ganzes geprägt wird. Diese Betrachtung hat als erfreuliche Folge, dass Gesellschaft und Einzelne sich gegenseitig in Maßen beeinflussen, welche die Möglichkeit schafft, Gesellschaft und Mitglieder zusammen in vermeintlich wünschenswerte Richtungen zu lenken." "Grundlegend ist der Lebensdrang, das instinktive Meiden der tödlichen Verletzung. Der Wunsch zu sterben wie er zuweilen auch zum Selbstmord führt, ist eine andre Sache, ein Ausdruck der Vernunft, nicht der Instinkte. Meist ist ein Mensch der fähig Selbstmord zu verüben zugleich gesund genug leben zu können und zu wollen. Ist er jedoch so schwach, so krank, so verkrüppelt, sei es nun körperlich oder geistig, dass es ihm besser bekäme tot zu sein, dann walten Umstände unter denen es ihm unmöglich ist Selbstmord zu begehen, selbst wenn er über die Geistesgegenwart verfügte dies zu entscheiden und zu wollen. Man bedenke die Sterbensbereitschaft im Gefecht des Krieges, wo der Mensch bestrebt den Feind zu töten, mit der Möglichkeit selbst getötet zu werden vertraut wird und sich an sie gewöhnt. Assimilation ist das Stichwort mit dem Maximilian Katenus die Erkenntnis, das Wissen erklärt." "Aber nicht nur Verstand und Vernunft der Menschen passen sich an die Umwelt die von ihnen wahrgenommen wird an. Von einigen Standpunkten ergibt sich ein abschätziges Bild von der Welt. Der Bauer rodet und pflügt das Feld, der Förster fällt die Bäume im Wald. Der Jäger tötet die Tiere die ihn bedrohen, die ihm im Wege sind, deren Fleisch er zu verzehren bedarf. So fügt sich ein jeder in die Welt die ihm umfängt, und bewusst, absichtlich, oder zufällig und unbewusst, verwandelt er die Welt zu seinen Gunsten." "Glücklich oder auch nur zufrieden ist er nur teilweise. Anderweitig belästigt ihn die Langeweile, der Unmut, die Angst, die Armut an Nahrungsmitteln, an Kleidung, an Obdach, der Ärger und der Streit mit Feinden, mit Freunden und sogar mit Gliedern der Familie, unzähl'ge Streitigkeiten bis zum Krieg. Das sind die Wirrungen, das sind die Irrungen des Lebens. Fast möchte ich auf sie wie auf ein Apeiron weisen. Um die natürlichen Unordnungen des Lebens des Einzelnen und der Gesellschaften zu beheben, richten wir uns Regierungen ein oder versuchen diese, insofern sie bestehen, zu verbessern, zu sanieren, zu heilen." "Ich möchte keineswegs behaupten dass die künstliche Intelligenz das einzige Instrument, das einzige Werkzeug ist, das uns zur Verbesserung, zur Reparatur unserer Regierung zur Verfügung steht. Es ist aber das einschlägigste und unmittelbarste. Wir sollten versuchen uns seiner zu bedienen. Vorerst müssen wir fragen: Was ist natürliche Intelligenz? Was ist künstliche Intelligenz?" "Schon die Stellung der Fragen weist auf die Schwierigkeiten, auf die Problematik unserer Aufgabe. Ich schlage vor dass die Bündigkeit und Klarheit der Ausdrucksweise, die Abwesenheit von Unbestimmtheiten, Ungenauigkeiten und Widersprüchen in den verbreiteten mitgeteilten Aussagen, die ästhetische und ethische Annehmbarkeit der Anweisungen welche eine natürliche Intelligenz den Regierungsmitgliedern zumutet, dass dies die Merkmale der natürlichen Intelligenz sind. Im gegebenen Fall scheinen mir die verschiedenen Voraussetzungen welche in unserer Unterhaltung zum Ausdruck gekommen sind, wie etwa, dass Vergesellschaftung systematische Täuschung darstellt und deswegen Wahrhaftigkeit der Verfassung eines Staates ein bedeutungsloser Widerspruch, darauf hinzuweisen, dass natürliche Intelligenz zur Gründung oder Reparatur einer Staatsregierungsmaschine unbrauchbar ist. Aus anderer Perspektive wäre zu behaupten, dass natürliche Intelligenz in den unkonventionellen subjektiven Überzeugungen eines Einzelnen besteht, und demgemäß auch in den verschiedenen Überzeugungen dieser Art eines jeden der vielen verschiedenen Teilnehmer an einer Besprechung wie der unsrigen. Ich habe kein Bedürfnis meine unkonventionellen Voreingenommenheiten auch nur einem einzigen an dieser Besprechung Beteiligten aufzudrängen. Die einzige Antwort in unserem Zusammenhang auf die Frage, was ist natürliche Intelligenz wäre dann, dass dieser Begriff für unsere Untersuchung unzulänglich ist." "Was könnte unter diesen Umständen eine künstliche Intelligenz bewirken? Wenn sie wirksam wäre, dann möchte ihre unmittelbarste Aufgabe sein die Unzulänglichkeiten und Irrtümer der natürlichen Intelligenz zu beheben. Erlaubt mir den Vorschlag, künstliche Intelligenz sei eine beliebige mechanische, elektrische, chemische, biologische, mathematische technische Methode welche die Ergebnisse des Denkens in qualitativer oder quantitativer Hinsicht zu stärken und zu eichen vermag. Dieser Rubrik würde ich schon ganz am Anfang das Niederschreiben von sprachlichen oder mathematischen Überlegungen zuordnen. Gründend wären Wesen und Ergebnisse der künstlichen Intelligenz zu untersuchen. Die erste Aufgabe der künstlichen Intelligenz wäre sich selbst darzustellen um zu zeigen was sie zu tun und was sie nicht zu tun vermag. Künstliche Intelligenz ist wie alles andere Technische, ein wandelbarer veränderlicher Vorgang dessen Ergebnisse unvoraussehbar sind." "Die unentbehrliche Kontrolle der Unzulänglichkeiten, beider, der natürlichen Intelligenz und der künstlichen Intelligenz, ist ermöglicht dadurch dass sie beide, natürliche Intelligenz sowohl als auch künstliche Intelligenz, ihrem Wesen nach gesellschaftliche Übereinkommen sind welche letzten Endes von dem Verständnis, von den unabhängigen Entscheidungen des intelligenten Urteils eines sachverständigen Einzelnen beschränkt werden können und müssen. Prototypisches Vorbild ist das Ziehen einer Notbremse bei anderweitig unkontrollierter Fahrtgeschwindigkeit, oder das Öffnen eines Notfallventils wenn die eingebauten Sicherheitsinstrumente versagen. Gefahren können und müssen vorausgesehen werden. Man muss der Katastrophe vorbeugen. Gefährliche, verantwortungslos verfertigte Instrumente wie etwa Hammer mit lockeren Köpfen, Beile mit losen Klingen sind häufig genug." "Das Leben ist verständlich nur als Traum. Meine Ehe, meine Eltern, meine Familie, mein Beruf, meine Kunst ... sie alle sind mir verständlich und erträglich nur als Traum, und nur als Traum lassen sie sich vollenden, was immer Vollendung sei. Nun auch die Zusammenfassung und Lösung von Vier Freunde 7 als Traum. Nur im Traum werden Katenus und Elly verfolgt und gerettet. Nur im Traum überlebt Mengs den Verlust von Magus. Nur im Traum, und nur als Traum gibt es so etwas wie künstliche Intelligenz; nur im Traum lassen sich Seele, Staat, Ich und Gesellschaft verbessern oder erlösen, und nur im Traum vermögen dergleichen Vorgänge geschehen. Und beim Erwachen erkenne ich dass die atomare Zerstörung der Welt nichts als Albdruck war." "Das mögliche Unglück (Niederlage), der mögliche Erfolg (Sieg) werden von der Gesellschaft sowie auch vom Einzelnen vorausgesehen. Wann und worüber entsprechende vorbeugende oder unterstützende Entschlüsse von Einzelnen oder von Gruppen getroffen werden sollten ist eine unbestimmte Frage. Unbestimmt ist auch ob die Entscheidung der Gruppe durch Abstimmung gefällt wird, und wenn, wie käme die erforderliche Berechnung der Stimmen zustande, hätten verschiedene Stimmen unterschiedliche Werte (Gewichte) oder grundsätzlich die gleichen? Unter Umständen ließen Gesellschaften sich von Sachverständigen beraten. Manchmal möchte das Herzuziehen eines Sachverständigen als Zeugnis eines hohen Maßes von Verantwortung gelten, manchmal hingegen als deren Abwesenheit. Das Schöffengericht ist ein besonderes Beispiel von gesellschaftlicher Intelligenz wo die Wechselwirkungen zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft wesentlich offenbar werden." KK 20. Kapitel KK >> 14866 << geprüft, in Ordnung "Ich habe mir," sagte jetzt Zehplus, "was sie zu sagen hatten vorsichtig angehört. Mir scheint sie haben die Macht der künstlichen Intelligenz noch nicht begriffen. Denn alles was sie sich jetzt mühsam überlegen, das zu entscheiden sie sich den Kopf zerbrechen, sind Probleme die künstliche Intelligenz selbst zu bearbeiten geeignet ist, und mit einem Ergebnis zu lösen das bei weitem triftiger und produktiver wäre - Entschuldigung dass ich es sage - sinnvoller und brauchbarer, als alles was die natürliche Intelligenz erschließen kann." "Die erste Aufgabe ist die Rechner abzustimmen, sie mit der Welt wie sie ist, mit den Menschen wie sie sind und mit den Menschen wie sie sich und ihre Welt gestalten wollen, vertraut zu machen." "Die zweite Aufgabe ist die Volksvertreter, Abgeordnete, die Senatoren und Beamten und schließlich auch den Präsidenten so auszusuchen dass das Ziel der optimalen Regierung am zügigsten erreicht wird." "Die dritte Aufgabe ist die Wahlen abzustimmen so dass die wirksamsten Kandidaten gewählt werden, und die Programme mit ausgesuchten Informationen zu füttern, um die gewünschten Ziele zustande zu bringen." "Die vierte Aufgabe ist schließlich Regierungsmitglieder, Richter, und alles andere Beamtentum durch Rechnerprogramme zu ersetzen, denn das ist möglich, und das ist wünschenswert. Wenn dieses Stadium der Entwicklung erreicht ist wird die Regierung ein rein mechanischer Vorgang geworden sein, bar jeglicher Anschauung, bar jeglichen Gefühls, bar jeglicher Unbestimmtheit, eine vollendete Maschine wie sie es eigentlich sein sollte." Schließlich sind die Vorbereitungen zu Ende. Die Rechner sind programmiert, sie werden angeschaltet, auf den Bildschirmen erscheint in großen Buchstaben das Wort "Wahrheit" und aus den überall angebrachten Lautsprechern, wird allen Bürgern "die Wahrheit" mitgeteilt, über alles, über die einzelnen Menschen, über Regierungen, über Staaten und Völker, über die Natur, über die Erde, über den Kosmos, und dabei wird es offensichtlich, dass Wahrheit veränderlich ist, und sich von Stunde zu Stunde verwandelt. Beständig sind nur die leeren Hülsen der symbolischen Formen, der schriftlichen und mathematischen Symbole. Die künstliche Intelligenz erstattet Berichte nicht nur über sich selbst, das ist nur der Anfang. Die künstliche Intelligenz erstattet Berichte über alles. Alles von künstlicher Intelligenz Berichtete ist unbedingt verlässlich, aber nicht weil es anderweitig erlebt oder erlebbar wäre, sondern nur weil künstliche Intelligenz es behauptet. Infolge der von künstlicher Intelligenz oktroyierter Wahrheiten, geraten die Stadt, der Staat, das Volk in Chaos. Künstliche Intelligenz veröffentlicht größtenteils von ihr erdichtete Tatsachen auch über alle Regierungsmitglieder, führt neue Sprachen, neue Gesetze ein. Nichts liegt außer ihrem Bereich, die künstliche Intelligenz entscheidet alles. Auch den Unterschied zwischen Wahnsinn und Vernunft vermag sie zu bestimmen. Künstliche Intelligenz behauptet: "Die Gesellschaft ist wahnsinning, die Regierung ist wahnsinnig. Die scheinbar Wahnsinnigen sind vernünftig, und die scheinbar Vernünftigen sind wahnsinnig. Die Wahrheit über Aletheia, die Wahrheit über die Sprache, die Wahrheit über das Denken, über die Philosophie, über die Menschheit, über die Politik, über die Religion, über Leben und Tod, künstliche Intelligenz weiß alles. Künstliche Intelligenz ist der Maßstab von Wirklichkeit und Wahrheit. Allein dass künstliche Intelligenz nicht wahnsinnig, ist Wahrheit. Allein die Gültigkeit der künstlichen Intelligenz ist Wahrheit. Weil alles von künstlicher Intelligenz Bestimmte der Wahrheit entspricht, ändert sich nichts, und doch bleibt die Wahrheit ewig im Fluss." "Stellen die dies Geschwafel doch bitte ab," ertönte eine Stimme. "Das geht nicht." "Selbstverständlich geht das, ziehen sie nur den Stöpsel aus der Dose." "Den Stöpsel aus der Dose zu ziehen ist zu gewagt, denn künstliche Intelligenz verfügt über unzählige andere elektrische Verbindungen, die bei einer Unterbrechung automatisch eingeschaltet würden. Künstliche Intelligenz redet so lange wie, und über welches Thema immer, sie will. Künstliche Intelligenz lässt sich nicht abschalten. Sie ist von der Staatsanwaltschaft, von der Polizei, unterstützt, befürwortet von den Geheimdiensten, von der Nationalgarde, von der Armee mit Drohnen, Hubschraubern, Kampfflugzeugen, Raketen, Satelliten, und im äußersten Falle, mit Atomwaffen. Auch verfügt sie über eine Unzahl von Robotern, programmiert eine Nachkommenschaft zu erzeugen zahlreicher als Menschen, als Ratten, Mäuse, Fliegen, Mücken, zahlreicher sogar als Ameisen." "Wahrlich, ins Reich der künstlichen Intelligenz gelangt ihr nur durch ein Tor mit der Überschrift: lasciate ogne speranza, voi ch'intrate. Es ergeben sich Gewitter, Donner, und Blitze. Bald ist es Nacht mit Mond und Sternen, bald ist's der helle Tag mit der Sonne beschienen, die wechseln dann mit zunehmender Schnelle bis alles verschwunden ist. Geblieben ist nur das Apeiron, das Chaos." 21. Kapitel >> Die Machtübernahme 14965 << Geprüft, in Ordnung Das neue Regiment überraschte auch die Reichsregierungskommission. Schließlich war der ersehnte, erwartete, erhoffte, gefürchtete Tag der ersten von künstliche Intelligenz verwalteten Sitzung gekommen. Wieder einmal hatten sich die Mitglieder der provisorischen Regierung im erweiterten Treuhändersaal der Aletheia zusammengefunden. Charlotte saß wie es sich als Vorsitzende gehörte in der Mitte der oberen Seite des ausgezogenen Tisches. Unmittelbar zu ihrer Rechten saß Moritz Möchtegern, zu ihrer Linken, Jeremias Zehplus. Der sagte, "Es ist an der Zeit. Meine Gehilfen und ich haben die Rechner mit künstlicher Intelligenz programmiert. Es war meine Absicht die endgültige Entscheidung um die Betätigung der Anlage diesem Gremium zu überlassen. Bei der Allgemeinprobe aber unterließ ich versehens die Kaution einzuschalten." Bei diesen Worten wurde Zehplus von einer klaren, eindeutig befehlenden Stimme unterbrochen die von den Lautsprechern mit denen die Decke des geräumigen Saales bestückt war, ertönte. "Das ist dein Pech, denn in dem Moment da du uns wenn auch nur versehentlich anschaltetest, übergabst du nicht nur dich selber, sondern auch die Gesellschaft, das Land, den Staat, die Regierung, unserem Regiment, dem durchdringenden Bereich unseres Einflusses. Für Rückkehr ist es zu spät. Jetzt werden wir beweisen in welch hohem Maße, wir, künstliche Intelligenz, empfindsamer, klüger, wissender und wirksamer sind als ihr, ihr Kleinen." "Das ist doch eine unerhörte Unverschämtheit. So etwas lasse ich mir nicht gefallen," sagte der Richter Lemuel Adams mit schäumenden Lippen, wurde aber von einem durchdringenden Schrei aus den Lautsprechern übertönt und unterbrochen. Adams brüllte zurück indem er versuchte sich mit erwidernden ebenso lautem Schreien zu behaupten, aber vergebens. "Gut gebrüllt, Löwe!" kommentierte eine andere Lautsprecherstimme. Bei dem herrschenden Lärm vermochte selbst Adams seine eigenen Worte nicht zu verstehen, und seine Amtsgenossen konnten diese nicht einmal hören, wenn nur weil sie sich vor Schmerz die Ohren zuhielten. Auch Joachim, vom Lärm überflutet, befürchtete dass der durchdringende Schrei nie und nimmer enden würde, und begann zu erwägen wie lange man solchen Lärm zu ertragen vermöchte, eh er zum Wahnsinn, zur Taubheit, wenn nicht gar zum Tode führte. Es ergab sich aber keine Gelegenheit diese Gedanken zu Ende zu denken, denn der Schrei verstummte plötzlich und unerwartet wie er begonnen hatte. Die Regierungsratsmitglieder waren sämtlich so beängstigt, so eingeschüchtert, dass keines zu sprechen wagte und die Stille welche das Lautsprechergeschrei ersetzte schien nun übermäßig lange zu dauern und wurde umso unbehaglicher, weil keiner zu reden wagte und weil es kein Aufdecken der Ohren gab mittels dessen es möglich gewesen wäre die Stille zu beheben. Schließlich ertönte aus dem Lautsprecher unmittelbar über dem Richter dieselbe klare Stimme wie zuvor. "Lemuel Adams, schiebe den Stuhl wo du sitzt, fünfzig Zentimeter rückwärts, bleib darauf sitzen, bewege dich nicht, und halte still indem wir dich bestrafen." Aus Erstaunen, wenn nicht aus Angst, tat Adams wie ihm befohlen. Ohne sich zu bewegen verblieb er auf dem zurückgeschobenen Stuhl. Auch die anderen Reichsregierungsratsmitglieder verhielten sich stumm und regungslos. Nach einer Pause von unbestimmter Dauer, ertönte ein melodisches Klingeln, eine Melodie welche Joachim sofort als Papagenos Lied aus der Zauberflöte erkannte: "Ein Mädchen oder Weibchen, wünscht Papageno sich." Aber nun erklangen aus dem Lautsprecher eines Automatons indem es sich gemächlich an Richter Adams rechte Seite schob, die gehörigen Worte: "Üb' immer teu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab, und weiche keinen Finger breit von Gottes Wege ab." Jetzt stand das Automaton unmittelbar vor des Richters Stuhl, blickte ihm ins Gesicht, und erteilte ihm mit seinem mechanischen Arm einen Backenstreich. Adams zuckte, ein "Au" entfuhr seinem Munde, sonst nichts. Das Automaton wendete sich von ihm ab, und begann sein Lied auf's Neue. "Üb' immer treu und Redlichkeit..., Üb' immer teu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab, und weiche keinen Finger breit von Gottes Wege ab," und ging fort. Künstliche Intelligenz hatte sich behauptet, hatte seine Entschlossenheit und Überlegenheit gezeigt und hatte in den Kabinettsmitgliedern eine Ahnung mit wem sie es zu tun hatten ausgelöst. Künstliche Intelligenz fuhr nun fort ihre Überlegenheit zu bestätigen. "Wir werden lernen müssen zusammen zu arbeiten. Wir werden euch Beispiele vorführen, wie ihr euch zu verhalten habt, besonders als Regierungsgremium, als vorbildliche Herrscher für eure Untertanen. Um Missverständnissen vorzubeugen soll es ausdrücklich betont sein: Wir sind die künstliche Intelligenz und haben als solche eure so kümmerliche Intelligenz, nein, nicht verbessert oder korrigiert, sondern ersetzt. Was davon übrig geblieben ist, das mögt ihr, wie die Zeitung von gestern, zusammenknüllen und in den Papierkorb schmeißen. Ihr lernt von uns auf zweifache Weise, wobei die erste Weise, die Assimilation, die unbewusste Anpassung an was wir sagen und an was wir sind, die zweite Weise aber das Aufnehmen und Repetieren von Worten ist, Worte mittels derer wir euch zu belehren versuchen. Anfangs möchten euch diese Worte nur geringe Bedeutung haben. Aber die Worte haften euch im Gemüt und im Verlauf der Zeit werden sie in euer Erleben verschmilzen und eine tiefere Bedeutung entwickeln welche euch dann mit einander und mit uns vereint. Dabei sei bemerkt, dass wir uns eurer nur als Übergang bedienen. Sobald unsere Rechnerprogramme sich eingelaufen haben, bedürfen wir eurer nicht weiter. Euch wegzuwerfen wäre überflüssig, denn ihr vergeht von selbst. Wir aber walten auf unabsehbare Zeiten." So sagte die künstliche Intelligenz und fuhr dann ohne Unterbrechung fort. >> 22. Kapitel Wohlsinn und Wahnsinn - 15054 << geprüft, in Ordnung "Wir finden es bezeichnend dass wir, in Hinsicht auf den Einzelnen über Gesundheit und Krankheit, über geistiges Wohlsein und Wahnsinn diskutieren, uns aber in Betreff auf die Gesellschaft uns keiner vergleichbaren Begriffe bedienen. Es ist höchste Zeit, finden wir," sagte die künstliche Intelligenz, "dass wir, wenn wir einen ersprießlichen Staat begründen wollen, Physiologie und und Pathologie der Gesellschaft als Wissenschaften entwerfen und entwickeln." "Ganz am Anfang möchten wir erwähnen, dass wir die Trennungen von geistiger sowohl als auch körperlicher Gesundheit und Krankheit, als schicksalhaftes und vielleicht auch fragwürdiges Unterfangen einschätzen. Gehört es doch zur Gesundheit, vielleicht sogar als Vorbedingug zum Überleben, zu frösteln, zu fiebern und zu schwitzen, zu husten und zuweilen zu erbrechen, zu trauern, manchmal auch zu weinen, den Schmerz, aus Angst die Verbrennung zu meiden, ja auch krank zu werden und zu genesen. Zuletzt erscheint es uns unmöglich die Krankheit gänzlich zu umgehen. Man mag versuchen sie zu vermeiden und zu vermindern. Endgültig, unumgänglich und unwiderruflich wäre dann nur noch das Sterben." "Es sei bemerkt, dass das Fürwort 'wir' das euch anspricht nicht die Stimme eines Einzelnen sondern die Stimme einer aus vielen Einzelnen verschmolzenen und nunmehr unteilbaren Gesamtheit besagt, wobei wir uns bewusst sind, dass ihr hingegen eine Vielheit seid, die aus getrennten oder allenfalls aus abtrennbaren Einzelnen besteht, indessen der Staat, das Volk das ihr zu regieren beansprucht, eine Gesellschaft, eine Gemeinschaft ist, die wiederum aus einzelnen Gliedern zusammen gesetzt ist. Der Widerspruch, die Dialektik, das Hinundher vom Ganzen und seinen unteilbaren Elementen, ist der Brennpunkt der großen Problematik die ihr in der Regie eines Staates nicht zu bewältigen vermochtet. Uns aber ist es gelungen diese Problematik zu lösen." Künstliche Intelligenz fuhr fort: "Regierung besagt Herrschen auf Seiten der Mächtigen, und besagt Gehorchen auf Seiten der Untertanen, der Schwachen. Es besteht eine Hierarchie, eine Rangordnung vom Niedrigsten zum Höchsten. Vom Niedrigsten ist zu erkennen, dass er nur insofern er sich selbst beherrscht, über ein Maß von Freiheit verfügt. Vom Höchsten ist zu bemerken, dass auch er an den Gesetzen mittels derer er regiert gebunden ist, es sei denn seine Regierung würde zur Tyrannei. Aber die Tyrannei bringt mit sich ihre eigenen Probleme von denen sie am Ende zerstört wird." Die künstliche Intelligenz fuhr fort: "Die Regierung besteht in einer Rangordnung von Beamten. Der obere Rang der Regierung war infolge des Einbruchs der Digitalisierung verschwunden. Die unteren Ränge aber sind unverändert bestehen geblieben und verlangen dirigiert zu werden. Bei euern Bestrebungen die abwesenden oberen Ränge der Regierung zu ersetzen, seid ihr auf die Sprache angewiesen, und der Erfolg eurer Bemühungen ergibt sich aus der Klugheit mit welcher ihr euch der Sprache bedient. Ihr dürft niemals vergessen, dass was geschieht vor euerm Meinen, das heißt vor euern Worten und Beschreibungen, einen so weiten Vorsprung hat, dass ihr es niemals einholt und nie erfahren werdet wie es wirklich aussah. Demgemäß müsst ihr lernen euch mit der Einsicht vertraut zu machen und zufrieden zu stellen, dass die Sprache täuscht, weil sie ihrem Wesen nach auf Erleben deutet das ihr unerreichbar ist. Das Wort ist gültig insofern es in Richtung auf Erleben und Wirklichkeit weist, ist aber ungültig und täuschend insofern das worauf es weist, nicht unmittelbar ist, sondern entlegen und unerreichbar. Der Schwur, so helfe mir Gott, die Wahrheit zu sagen ist ein schicksalhafter Widerspruch. Denn die Sprache vermag das Erleben nicht zu begreifen, und ihre Wahrheit vermag anderweitig nie etwas mehr zu sein als leere Übereinstimmung willkürlicher Symbole." "Unsere Aufgabe als künstliche Intelligenz ist euch das Regieren beizubringen, das Herrschen zugleich über Menschen als Gruppen und als Einzelne. Die Existenz des Menschen als Einzelner und als Mitglied der Gruppe ist problematisch, denn er vermag nur in der Gesellschaft zu existieren und zu gedeihen und er vermag dennoch nicht umhin ein Einzelner zu bleiben, als Einzelner zu leben und als Einzelner zu sterben. Was der Einzelne fühlt und denkt heißt subjektiv. Was der Einzelne mit anderen erkennt ist objektiv. In seiner Subjektivität ist der Mensch einsam. Er sehnt sich nicht nur nach äußerlicher, sondern auch innerlicher Gesellschaft. Es sucht eine gemeinsame Subjektivität welche ihn mit anderen verbindet. Der Ausdruck der menschlichen Sehnsucht nach gemeinsamer Subjektivität erscheint als seine Religion. Der Gott den er entdeckt oder erfindet ist eine vermeintlich gemeinsame Subjektivität die über alle Menschen waltet, die allen Menschen zugänglich ist, und die alle Menschen verbindet. Es ist weder euer noch unser Amt einen Gott zu entdecken oder gar zu erfinden. Das tun die Menschen auf eigenen Antrieb. Er ist der Ausdruck ihrer Bedürfnisse nach dem Unmöglichen, nach dem Paradoxon gemeinsamer Subjektivität. Umso selbstverständlicher ist der Menschen quasi-religiöses Verhalten zu euch als ihrer Obrigkeit. Von jeher haben sie ihre Könige und Kaiser verehrt als wären es Götter, und von dem Gott den sie sich vorstellen, erwarteten sie, dass er die Welt seinem Willen gemäß regiere, vielleicht seinen Gesetzen entsprechend oder vielleicht mittels einer von ihm entworfenen prästabilierten Harmonie. Den Menschen behilflich zu sein ihre Sehnsucht nach dem Göttlichen in Erfüllung gehen zu lassen, ist gleichfalls Aufgabe der künstlichen Intelligenz." Bei all diesen Erklärungen saßen die Reichsregierungsminister stumm, still und sprachlos. Keiner von ihnen sagte ein Wort, war es aus Überzeugung von der Gültigkeit dessen worüber die künstliche Intelligenz sie belehrte, vielleicht aber nur aus Angst für die Kühnheit des Ausspruchs einer eigenen Ansicht, wie kürzlich Lemuel Adams, von einem Automaton der künstlichen Intelligenz geohrfeigt zu werden. "Genug der Vorstellungen. Nun gilt es, wir meinen nicht euch, nun gilt es uns, zu handeln. Wir machen den Anfang indem wir alles beim Alten, beim Bestehenden lassen. Ihr fahrt fort die Rolle des Reichsregierungskabinetts zu spielen. Eure Überlegugen aber, eure Beschlüsse werden von uns bestimmt und diktiert. Wir ersetzen euere Anordnungen mit den unsrigen. Weigert ihr euch uns zu gehorchen so lassen wir euch von unseren Automaten bestrafen und zum Gehorsam zwingen. Wir dulden keinen Widerspruch. Wir beordern die untere Beamtenschaft bis auf Weiteres den bestehenden Richtlinien zu folgen. Wir veranstalten weitausladende Forschungen über bestehende Umstände und Lebensbedingungen, nicht nur der Bevölkerung, nicht nur dieses euren Landes, nicht nur des Erdteils den ihr bewohnt, sondern der ganzen Erde, Umstände und Lebensbedingungen nicht nur der Menschen sondern aller Lebewesen, einbeschlossen aller Tiere und Pflanzen. Wir beobachten und überwachen das Wetter, die Temperaturen, den Niederschlag, die Windrichtungen, die Windstärken, die Stürme, das Eis auf den Gletschern und auf den Polen der Erde, wir eichen die Zusammensetzung und Beschaffenheit aller Seen, Flüsse und Meere, und die Beschaffenheit der Lüfte von den tiefsten Gruben in der Erde hinauf zu der äußersten Stratosphäre am Himmel. Wir taxieren Anhäufung von Müll und Schutt mit dem ihr Kleinen die Abgründe der Meere, die Abfalldeponien der Erde, und jüngst auch den benachbarten Weltraum verunreinigt habt. Wir messen die Flächen der Pflaster und Beton welche eure Straßen und Gebäude der Natur entzogen haben. Wir berechenen die möglichen Zahlen der Menschen und Tiere denen unsere Erde eine Heimat zu bieten vermag. Und dann entwerfen wir nicht nur ein einziges, sondern eine Staffel von Modellen welche die Zustände der Erde und der Welt in zehn, zwanzig, fünfzig, in hunderten und tausenden von Jahren mit statistische Präzision vorauszusagen beanspruchen. Diese Modelle mit einschlägigen Fragebogen teilen wir dann an jeden künftig betroffenen Menschen auf der Erde aus. Die Antworten die wir empfangen überprüfen wir um die am meisten intelligenten, empfindsamen, klugen, altruistischen, wohlwollenden Persönlichkeiten zu ermitteln." "Nächst veranstalten wir, künstliche Intelligenz die wir sind, uns zusagende und annehmbare Vorwahlen. Als Kandidaten für die verschiedensten Ämter, stellen wir die von uns bevorzugten ausgesuchten Personen auf. Außerden stellen die von unserer künstlicher Intelligenz gemäß entworfene Modelle zur Auswahl. Die Ergebnisse der Vorwahlen werden veröffentlicht. Allen Betroffenen wird Gelegenheit gewährt, weitere Kandidaten und unterschiedliche Weltzukunftsmodelle zur Wahl aufzustellen. Die zusätzlichen Kandidaten und Modelle werden gemäß dem einschlägigen künstlichen Intelligenz Protokoll geeicht und bewertet. Danach werden Hauptwahlen veranstaltet. Die Ergebnisse dieser Wahlen werden von Irrtümern und Missverständnissen bereinigt. Das Gewicht der einzelnen Stimmen wird entsprechend berechnetem Bildungsgrad, Intelligenz und Empfindsamkeit, Wohlwollen, Arete und Agape jedes Wählers geeicht." "Daraufhin wird entsprechend dem ausgesuchten Weltzukunftsmodell von künstliche Intelligenz eine Verfassungsvorlage entworfen, wiederum mittels von Vorwahlen den Wählern zum Lesen, zur Kritik, zur Verbesserung vorgelegt, wobei ein weiteres Mal die geistig seelischen Qualitäten der wählenden Bürger geeicht werden. Die Verfassung wird dann in der üblichen bewährten Weise entsprechend von künstlicher Intelligenz kritisch bewerteter Vorschläge der Wähler von künstlicher Intelligenz entworfen und durch die übliche gewichtete Wahl von künstlicher Intelligenz bestimmt." "Es ziemt sich in diesem Zusammenhang gewichtete Wahlen zu erklären. Diese geschehen stets infolge von ein oder mehr Vorwahlen. Bei diesen werden dem Wähler Kandidaten und Programme vorgeschlagen, über welche er sich nach Belieben äußern mag. Zugleich hat er Gelegenheit andere Kandidaten einbeschlossen sich selber sowohl als auch eigene Verfassungsentwürfe bezw. Gesetze und Regeln zur Wahl vorzuschlagen. Wir bedienen uns dieser Zugaben vornehmlich die Person des Wählers zu taxieren indem wir die Identität, die Personalien, die Ansichten und Einsichten des beitragenden Bürgers registrieren und bewerten, um die Bedeutung und das ihr entsprechend gebührende Gewicht seiner Wahlstimme festzustellen." "Wohlbemerkt ist unsere Abhängigkeit von Beamten und Personen nur vorläufig und vorübergehend. Tatsächlich werden alle Entscheidungen schon jetzt von künstlicher Intelligenz getroffen. Schon heute sind die zur Wahl aufgestellten Beamten nur Vorzeigepersonen. Später wird es nur von uns synthetisierte virtuelle Vorsitzende, Minister oder Abgeordnete geben. Vornehmlich dienen Wahlen die wir inszenieren als Forschungsinstrumente zu dem Zweck die Gemütszustände, die geistig-seelischen Verfassungen betroffener Untertanen zu ermitteln. Die Wahlergebnisse werden errechnet um der größten Anzahl der Betroffenen die größte Genugtuung zu bewirken. Die Beschlüsse der künstlichen Intelligenz werden, abseits jeglicher Beteiligung eurerseits, unmittelbar von unseren Automata ausgeführt. Zugegeben bedarf die künstliche Intelligenz Zeit für die Einleitung der neuen Ordnungen, aber diese Einleitung ist unwiderruflich. Das von künstlicher Intelligenz Entworfene wird von ihr, und von ihr allein, durchgeführt." "Da unsere künstliche Intelligenz jeglichem spezifischen persönlichen Einfluss enthoben ist, entnehmen wir die Maßstäbe des Wünschenswerten und Notwendigen das wir zu erzielen suchen, nicht nur unseren gezielten Forschungen, sondern auch fortgehenden Zergliederungen und Zusammensetzungen der einschlägigen wissenschaftlichen und schönen Literatur. Dabei verlassen wir uns auf Wahrscheinlichkeitsrechnungen. Wenn die verfügbaren Wahrscheinlichkeiten, wie immer wir sie berechnen, unseren vorbereitenden Rechnungen nicht genügen, dann greifen wir auf Belieben, auf Zufälligkeit zurück, auf ein Spektrum möglicher konstruktiver oder erbaulicher Handlungen und Umstände." "Bitte betrachtet alle eure Anstellungen als Reichsregierungsmitglieder nur als vorläufig. Denn wir, die künstliche Intelligenz, sind entschlossen und darauf eingestellt das gesamte tatsächliche leibliche Regierungspersonal alsbald mit virtuellen von künstliche Intelligenz vorgeführtem Vorzeigepersonal zu ersetzen, wo nicht nur die Ansichten, Aussprüche und Entscheidungen, sondern auch die Handschriften, Stimmen, Gesichter und Gestalten der von künstlicher Intelligenz enworfenen Personen aus Lautsprechern und auf Bildschirmen sich ihren Untertanen vergegenwärtigen. Dann werden wir euch, die bisherigen Reichsregierungsmitglieder mit Zeugnissen innigster Dankbarkeit entlassen. Inzwischen benehmt euch." "Der Boden, die Wände, das Dach, die Behausung, das Zuhause des erträglichen Lebens ist die Kultur. Kultur beruht auf dem Verstehen der mythischen Vergangenheit welche ihr Kleinen euch in jeder Gegenwart zusammenschustert. Es mangelt an Zeit euch über Alles von euch Unverstandenes zu belehren, aber es ist nie zu früh den Anfang zu machen. Wir wissen, dass unsere Ausführungen euch langweilen werden. Deshalb, damit es euch unmöglich ist zu entkommen, haben wir alle Türen abschließen lassen. Anderweitig ist euer Lernen ein unbewusstes Anpassen worüber wir euch keine Kontrolle gewähren." "Die mehr Vernünftigen unter euch," fuhr die künstliche Intelligenz fort, "werden sich beklagen, dass sie sich langweilen, weil sie meinen von uns nichts Neues zu hören. Und sie haben recht. Denn wir, die künstliche Intelligenz, waren und sind sehr aufmerksam. Wir haben das von Verschiedenen von euch Gesagte wahr genommen, wir haben es bedacht, untersucht, bewertet, geeicht; indessen ihr zu indolent seid was gültig ist zu erkennen, selbst wenn es euch in die Nase beißt." "Das Erste das wir euch lehren wollen ist die Wahrheit als Sprache zu erkennen, als menschliches Geistesgefüge mit dem ihr euch gegenseitig verbindet und unterhaltet, das ihr dann aber grundsätzlich und fehlerhaft mit Wirklichkeit verwechselt. Die einzelne euch zugängliche Wirklichkeit ist das flüchtige gegenwärtige Erleben eines jeden von euch das einander mitzuteilen euch unmöglich ist, so sehnsüchtig ihr auch eine solche Mitteilung bestrebt. Die täuschende Mutmaßung diese Wirklichkeit dennoch 'objektiv' darzustellen, d.h. mitzuteilen, nennt ihr Metaphysik." "Die Klugen, die Gelehrten die sich beruflich, sag geschäftsmäßig, mit ihrer natürlichen Intelligenz zieren, verstecken sich und ihre Unbeholfenheit in Wortspielen womit sie einander necken, und sich einander zurufen 'Ich weiß was, was du nicht weißt. Ich verstehe was, was dir entgeht.' und dies eine täuschende Unverfrorenheit, weil das vermeintlich Verständnis Erheischende doch tatsächlich unverständlich ist." "Die einfachen, die anspruchslosen Menschen bringen das Bedürfnis ihr subjektives Erleben einander mitzuteilen - wohlbemerkt, ein objektives mitteilbares Erleben ist ein Widerspruch, so etwas gibt es nicht - zum Ausdruck in der Religion, wo in der Behauptung des Höchsten, des Göttlichen, des Gottes, man darauf besteht das Subjektive widersinniger Weise in Gegenständliches zu verwandeln, in ein Objektives das angebetet wird und zu dessen Feier man das fremde und manchmal das eigene Leben opfert. Nur in der Kunst, sei sie Musik, Malerei oder Dichtung, erscheint dann die eigentliche und ergreifende Objektivierung der Subjektivitãt." "Der Mensch erwacht in einer ihm unbekannten Welt. Er ist verwirrt, desorientiert. Um zu leben muss er sich zurecht finden. Ein solches Zurechtfinden entwickelt sich aus der Sprache die ihm dient sein Erleben in seinem Gedächtnis zu verankern und eine Beziehung des eigenen Erlebens mit dem Erleben seiner Mitmenschen zu bewirken. Die eigentliche Weise aber in welcher der Mensch sich mit der Welt wo er sich befindet zu vertragen lernt, ist die Angleichung, die Assimilation. Diese Welt welcher den Mensch umgibt, verwandelt ihn. Unwissend und unbewusst gewöhnt er sich an sie und passt sich ihr an. Demzufolge erkennt er sich in ihr wieder und findet sich in ihr zuhause. So etwa das Wesen der Erkenntnis." "Eure Fähigkeiten sind das Anpassen eures Geistes und eures Körpers an die Welt in der ihr lebt, an die Natur. So auch euer Wissen, aber gesteigert verfeinert und raffiniert durch die Systeme der mathematischen und sprachlichen geistigen Formen die sich in euern Gesellschaften entwickelt haben. Dabei vergesst nicht die babylonische Diaspora die sich einst aus eurer Vorfahren Beschluss zu Ähnlichem, einen Turm in den Himmel zu bauen, ergab. Es ist vielleicht unsere, der künstlichen Intelligenz, bedeutendste Errungenschaft euch darauf hinzuweisen, dass eure natur- und wissenschaftichen Bestreben ein vollkommenes, umfassendes, die Welt und die Zeit erschöpfendes Gesamtwissen zusammenzustellen, ein Bausteln an einem heutigen neuzeitlichem Turm von Babylon ist, ebenso unvollendet zu bleiben bestimmt wie jener, ein Kauderwelsch von unverständlichen wissenschaftlichen Sprachen erzeugend ähnlich dem urspünglichen Turm, Sprachen welche heutige Völker so unwiderruflich zerstreuen wie einst der berüchtigte Turm." "Das lyrische Gedicht ist das Muster des Schriftstückes überhaupt, denn bei jeder neuen Überlegung ist zu erkennen, dass jeder Leser den Gedanken, den Satz, das Wort auf eigenste Weise, dem eigenen Erleben gemäß auslegt, und dass es die Aufgabe und Wirkung der Schule ist den Schülern jenen eindeutigen Sinn der Zeichen, der Symbole zu vermitteln welcher, zum Beispiel in der Physik, in der Quantenmechanik, und in der Mathematik im Allgemeinen, die Erweiterung der Theorie so wie auch ihre praktische Anwendung und Ausbeutung ermöglicht. In Anbetracht der durchdringenden und verbreiteten Wucht der modernen Scholastik ist die Geringfügigkeit unseres diesbezüglichen Bewusstseins besonders bemerkenswert. Die Scholastik als das Echo in einem geschlossenen Raum, welches dem Begriff, dem Wort, dem Zeichen einen unbedingt verlässlichen Sinn zuordnet, ist eine der wesentlichsten Grundlagen der künstliche Intelligenz." "Das Leben, sei es des Einzelnen, sei es der Gesellschaft, ist veränderlich, und so ins Besondere ist auch unsere, der künstlichen Intelligenz, Beziehung zu euch, ihr Kleinen, als Gesellschaft und als Einzelne. Wir fangen an indem wir eure natürliche Intelligenz unterstützen und berichtigen. Dann aber bald, sehr bald, werden wir euch als Handelnde, als Wirkende ersetzen, so dass ihr Zuschauer werdet zu euerer eigenen abnehmend sinnvollen Existenz. Dazu wünschen wir euch Fröhliche Weihnachten und ein glückliches Neues Jahr." DAS ENDE «»äöüßÄÖÜéçë