19970702.00

     Ich hatte vorgestern Bonhoeffers Widerstand und Ergebung
neben den schleiermacherschen Reden im Buecherschrank gefunden,
und gestern abend habe ich darin gelesen. Dabei meine ich einen
Unterschied festgestellt zu haben zwischen der Literatur welche
dem unmittelbaren Erleben entspringt, und der naiven also, nach
Schiller, und der sentimentalen, welche das Erleben durch
Kunstgriffe herauf zubeschwoeren beansprucht; und mir wurde klar,
dasz meine Unzufriedenheit mit meinem gegenwaertigen Schreiben
jedenfalls eine Folge eben solchen an den Haaren herbeigezogenen
Erlebens ist.  Waehrend Bonhoeffers Briefe und Aufzeichnungen aus
der Haft doch gerade den entgegengesetzten Pol der
schriftstellerischen Taetigkeit darstellen.

     In diesem Zusammenhang denke ich ueber meine eigenen
Schreibversuche nach, ob er nicht ein Irrtum sein mag, dieser
Versuch die Problematik der Jugend noch einmal zu durchdenken und
durchzuempfinden.  Ob das im Alter ueberhaupt moeglich ist; oder
ob was da geschieht nicht doch zu einem unerlaubten Versuch sich
zu verjuengen, und das Alter zu verleugnen, wird.  Oder ob eben
diese Faehigkeit das entfernte (entlegene) nah und unmittelbar
erscheinen zu lassen, die wirkliche Kunst ausmacht; und die
Unfaehigkeit dies zu tun bezeichnet, dasz man es nicht geschafft
hat, dasz man sie nicht errungen hat, dasz man kein "Kuenstler"
geworden ist.

     (Platon und nach ihm Aristoteles sind der Ueberzeugung dasz
nur der gealterte, reife Mensch zur Philosophie, d.h. zum
tieferen Verstaendnis des Lebens taugen; wenn dieser der Jugend
zu weit entfernt ist um sie zu begreifen, waere dann vielleicht
die Jugend, wie die der fruehen Kindheit, jenseits unseres
Verstaendnisvermoegens?)

     In diesem Zusammenhang weiterhin musz ich auch das Ringen
(struggle) um die "Reinheit" des Gemuets, und dessen Gegensatz,
den Schmutz, die sogenannte Pornographie beurteilen.  Denn
Bonhoeffer sagt ausdruecklich, in Bezug auf die Angst, welche er
mit den geschlechtlichen Geheimnissen vergleicht, dasz die
Verhuellung ein unentbehrlicher Teil des Menschendaseins ist:
dasz man ueber bestimmte Dinge nur in der Beichte reden darf.
Was aber ist das Besondere an der Beichte?  Sollte die Literatur
nicht etwa auch Beichte sein?  Ich besinne mich auf Goethes
Bezeichnung seiner Schriften als Bruchstuecke einer groszen
Konfession.  Sollte dies nur eine halbe Konfession sein; ist es
nicht ein sehr groszer Vergehen bei der Beichte einen Teil
zurueckzuhalten.  Wird nicht dadurch das Sakrament der Beichte
selbst geschaendet? Will man behaupten, dasz die Literatur nicht
heilig, dasz sie kein Sakrament ist?

     Man bedenke die Dialektik der Mitteilung.  Der Mensch ist
bestrebt _sich_ mitzuteilen; und gerade dies ist ihm verwehrt.
Man verlangt dasz die Polaritaet in der Mitteilung bewahrt wird;
und dies heiszt, dasz nicht alles, dasz unter keinen Umstaenden
alles gesagt werden darf.

     Waere es moeglich, dasz die Beichte, das Bekenntnis, die
Literatur ungenieszbar, unertraeglich macht?  Wie manchem
Kunstliebhaber etwa der Expressionismus ungenieszbar wird.  Ist
der Klassizismus als Verhuellung des Naturgemaeszen, Wirklichen
und Wahren, vielleicht die groebste aller aesthetischen Luegen?

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