19971116.00

Liebe Gertraud,

     Das kleine Paket war schon vor einigen Tagen angekommen.
Ich hatte es aber ungeoeffnet, wie ein Weihnachtsgeschenk unter
dem Baum, auf meinem Schreibtisch liegen lassen, denn ich wuszte
ja, was es enthielt. Derzeit war ich noch mit architektonischen
Uebungen beschaeftigt, und scheute, eh ich diese Arbeit zu
vorlaeufigem Beschlusz gebracht hatte, mich durch den Anflug der
neuen Sprache verruecken zu lassen.

     Gestern,  - oder war es vorgestern - oeffnete ich das Paket,
machte als erstes eine Kopie, um das Original an sicherem Orte
bewahren zu koennen. Dann spielte ich das Band, und verstand, wie
Du Dir denken kannst, kaum ein einziges Wort. Doch lag fuer mich
gerade in der breiten Kluft des Nichtverstehens ein besonderer
Zauber. Ich montierte die Kassette auf ein kleines tragbares
Abspielgeraet das ich neben die Tastatur meines Rechners stellte;
und nun liesz ich den daenischen Text, vor Monaten schon vom
Internet abgerufen, auf dem Bildschirm erscheinen, und liesz im
Tonbandgeraet immer und immer wieder denselben Satz, denselben
Absatz ertoenen. Und da erlebte ich dann, wie erwartet, ein neues
Mal, das Wunder des Verstehens. Die Laute gestalteten sich zu
Worten,  bekleideten sich mit Sinn und Bedeutung, und fanden
schlieszlich als mehr oder minder mir eigen, in meinem eigenen
alten muerben Gedaechtnis einen jedenfalls vorlaeufigen
Aufenthalt.  Ich musz es gestehen, dasz ich den groeszten Teil
des gestrigen Tages mit dem Abhoeren des Bandes verbrachte, und
musz die Moeglichkeit voraussehen, dasz der heutige, es ist erst
10 Uhr 23, wenn ich meinen Brief beendet habe, aehnlich vergehen
wird.

     Die Stimme, dann, wenn ich die Stimme Helgas hoere, die
Stimme, wenn ich recht verstehe der Freundin der Freundin der
Freundin; dann erinnere ich, dasz es herkoemmlich ist, ein Bild
anzuschauen und aus der Abbildung eine Beziehung zu der
Abgebildeten herzuleiten.  Die moderne Technik ermoeglicht nun,
erstaunlicher noch, eine solche Vermittlung aus dem Tonfall des
gelesenen Wortes. Wie die Photographie, so mag auch das Tonband
taeuschen, aber ich wage es dennoch, mir Helga als eine eine
aeltere Frau vorzustellen, die ihre Sprache kennt und liebt, und
die jedenfalls schon so viel erlebt hat, dasz die Gedanken
Kierkegaards fuer sie laengst einen persoenlichen Sinn bekommen
haben, und dasz nun seine Worte in gewissem Masze aus ihrem
eigenen Leben widerhallen.

     Was nun den Text selbst anlangt, so geht mir nah, wie grosz
die Gefahr, jedenfalls fuer mich, die Saetze und die Paragraphen
fluechtig zu ueberlesen, und mit einem seichten Urteil abzutun.
Es scheint mir nicht das geringste der Vorteile der intensiven
Beschaeftigung mit dem Text welche das Erlernen der Sprache
erfordert, dasz die Fragwuerdigkeit des Sinnes bei jeder
Widerholung der Worte dem Verstaendnis zu neuer Herausforderung
wird, so dasz parallel der philologischen Entwicklung auch eine
gedankliche, eine philosophische Entwicklung stattfindet, bis das
muehevolle Erlernen der Worte zuletzt zu einem gueltigeren
Verstaendnis ihres Sinnes fuehrt.  Im gegebenen Fall meine ich zu
erkennen, wie wenig der Inhalt beider Schriften, der "Einuebung
im Christentum" und der Aufzeichnungen ueber "Der Liebe Tun",
nicht nur mit der kirchlichen Religion zu tun hat, sondern wie
wenig diese Schriften auch damit zu tun haben, was die
ungefesselte Phantasie sich unter einem Urchristentum, oder einem
Christentum der Gleichzeitigkeit vorstellen kann, es sei denn,
dasz diese "Gleichzeitigkeit" selbst alle Beziehungen zu
aktuellem gemeinschaftlichen Erleben aufzugeben bereit ist.  Wie
ich es verstehe, ist das Christusbild Kierkegaards die
neuzeitliche Erscheinung jener Projektion des persoenlichen
Seelenlebens auf das Universum welche von jeher jedenfalls die
abendlaendische Mystik bezeichnet hat.

     Bitte entschuldige diese unerbetenen und moeglicherweise
auch unwillkommenen gedanklichen Erguesse, aber sie sind nun eben
die Gegenstaende meines gegenwaertigen Gruebelns, - und das Leben
ist zu kurz, und die Kraefte zu beschraenkt, dasz ich auch Dir zu
Liebe andere improvisieren sollte. Ist es nicht schaendlich, wie
sogar ein Dankschreiben in Unverschaemtheit ausartet? Es ist dann
aber auch wiederum moeglich, dasz der Grad der Unverschaemtheit
als das eigentliche, wenn auch umgekehrte Masz des Dankes
verstanden werden will.

     Gruesze an Benrd, an Helga, und an die vermittelnde
Freundin.

                            * * * * *

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