19980206.00
Mit der Erziehung des Kindes kommt seine Vergesellschaftung
zustande. Mit der Erziehung entsteht sein Wissen und sein
Verstaendnis um die Welt. So wie der Saeugling welcher Nahrung
und koerperlichen Pflege entbehrt nicht gedeihen kann und
verkommt, so versagt auch des Kindes geistige Entwicklung ohne
den Reiz des Austausches von Worten, Erlebnissen Gedanken
Gefuehlen mit anderen. Dementsprechend ist der Ausdruck
Autodidakt irrefuehrend. Denn auch das Sichselbstlehren ist eine
Betaetigung unter lebhafter Benutzung des ueberlieferten
Gedankenguts, ein reges, aggressives Befragen der Mitmenschen.
Der Autodidakt ist geistig weder selbststaendig noch
unabhaenging; vielmehr ergreift er die Initiative in dem
geistigen Verhaeltnis des Lernens.
Die Abhaengigkeit der geistig-seelischen Entwicklung von den
Mitmenschen erklaert auch den hohen Wert welchen wir der
geistigen Ueberlieferung, allem Geschriebenen, der Literatur,
allen wissenschaftlichen Urkunden, zumessen. Und da bemerken wir
den Widerspruch, dasz der Mensch um zu sich selbst zu kommen in
die Bibliothek, zu den Buechern flieht. Im eigentlichen Sinne
ist die Flucht zu den Buechern nicht ein Entfliehen der
Gesellschaft, sondern ein Hinfliehen zu ihr; um in dem gewaehnt
verwandten, zusagenden, freundlicheren Umraum eine Behausung zu
finden. Und doch ist gerade die Freundlichkeit der Geisteswelt
eine Taeuschung, wofuer jedes Mitglied einer akademischen
Fakultaet ein Zeugnis ablegen kann.
Die Oikeiosis, das Zuhausewerden in der Welt des Geistes ist
nie unbeschwerlich, ist nie muehelos. Dieselbe kindlich naive
Vertraulichkeitkeit die beteuert "Eines zu sein mit allem was
lebt, in seeliger Selbstvergessenheit (hinzuflieszen) ins All der
Natur," (Hoelderlin "Hyperion") sei das hoechste Glueck des
Menschen, wird sich mit vergleichbarem Gefuehsueberschwang im All
der geistigen Welt zuhause waehnen. So einfach dwaber ist das
Zuhausesein, das sich Einbuergern im Geistigen aber nicht. Im
Gegenteil, je gebildeter, je spezifischer, je gewaehlter das
Urteil, umso fragwuerdiger (zweifelhaft) wird die Zugehoerigkeit,
bis der Mensch zuletzt vor der unentrinnbaren Tatsache steht,
dasz er im Geistigen nicht weniger als im Koerperlichen, im
Inwendigen nicht weniger als im Auswendigen, vereinsamt ist, dasz
sein Geist nicht minder als sein Koerper der Vernichtung geweiht,
dem Nichts verschrieben ist. Darum ist der hoechte Preis im
Leben nicht der Sieg sondern die Geduld.
Diese Erkenntnis weist wiederum hin auf das Ausmasz in
welchem die Welt die, des Menschen Geist sich erbaut, eine
idealisierte und idealisierende Vorstellung ist, verputzt und
faelschlich vervollkommnet (vollkommen gemacht) mit der
Phantasie, (Einbildung), und als guetiger und freundlicher
dargestellt denn sie ist.
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