19980210.00
Dasz all meine Betrachtungen ueber die Vergangenheit, mein
Verstaendnis und mein Bewusztsein von dem, was einst war, sich
auf die unmittelbare Gegenwart, von dem was mir jetzt im Sinn
ist, abhaengen muessen, ist eine selbstverstaendliche Tatsache
welche jedoch in ihrer Bedeutung und in ihren Folgen unverstanden
bleibt.
Man mag sich das Verstaendis der Vergangenheit wie bei
anderen existentiellen Fragen auch, als einen Wettstreit (a
contest) vorstellen, eine Konkurrenz widersprechender
Behauptungen ueber was wirklich ist. Ob naemlich nicht der
Inhalt meiner Gedanken und Gefuehle, sondern nur dieses
beschraenkte Masz meines gegenwaertigen Erlebens wirklich ist,
sondern nur die reine Tatsache _dasz_ ich hier denke und fuehle,
und die Tatsache auch, dasz das _was_ ich denke und fuehle, im
Gegensatz zu diesem Denken und Fuehlen unwirklich ist, oder ob
wirklich ist, was ich mir vorstelle, was ich mir ausmale, was
dort drauszen, in raeumlicher und zeitlicher Entfernung geschah
und noch immer geschieht, was jetzt geschieht und was in Zukunft
geschehen wird.
Diese Gedankenreihe fuehrt zu der wichtigen Frage, in
welchem Ausmasz mein jetziges momentanes Bewusztsein mein Wissen
beherrschen (kontrollieren) (soll), oder in wie fern dies
Bewusztsein in diesem Wissen untergehen soll: inwiefern mein
Geist, in wie immer unvollkommner Weise, mein Wissen, und somit
mein geistiges Verhaeltnis zur Welt, beherrschen soll, oder in
wie weit der Wirksamkeit und Effizienz halber mein
Selbstbewusztsein, meine Subjektivitaet sich in den allgemeinen
geistigen Betrieb aufloesen und (wie ein tapferer Soldat)
eingliedern lassen soll.
Auch die Zukunft musz mit in das Objektive einbegriffen
(einbezogen) sein, denn es waere ja unsinnig, anzunehmen
(vorauszusetzen), dasz das Objektive stets nur bis an den
jetzigen Augenblick heranreichen sollte, dasz das Objektive sich
wie eine Welle der Wirklichkeit mit dem Fortschreiten der Zeit
vorwaerts waelzt.
Dabei faellt auf, dasz es ausgerechnet die Zukunft ist,
welches die Gueltigkeit des Objektiven in Frage stellt. Es ist
die Rationalisierung und Erklaerung der Vergangenheit (gewisz
nicht der Gegenwart, - denn diese ist ihr unerreichbar) welches
als die eigentliche Aufgabe der objektiven Betrachtungsweise
erscheint und wo diese die groszen Erfolge aufzuweisen hat. Mit
der Zukunft aber weisz die Objektivitaet nichts anzufangen, hebt
an von statistischer Wahrscheinlichkeit zu faseln, welche doch
alles andere als objektiv ist; und die Unvoraussagbarkeit der
Zukunft (the unpredictability of the future) straft die
Objektivitaet luegen.
Beschraenken wir uns denn, zu Gunsten des Arguments, auf die
Vergangenheit welche die Erzaehler und Schreiber der Geschichte
wie eine Zauberteppich vor unserem Geiste auszubreiten sich
anstellen. - Dasz die Abrechnung (account) mit der Vergangenheit
Geschichte, history, historia genannt wird ist schon an sich
bezeichnend. Denn es bedeutet das enge Verhaeltnis zwischen dem
was geschieht und der Geschichte die von dem Geschehenen erzaehlt
wird. Das Geschehene ist untrennbar von, ist eins mit der
Geschichte. Das Geschehene kann wirklich werden nur indem es
gegenwaertig wird, und das Geschehene wird gegenwaertig indem es
gezaehlt, indem es erzaehlt wird, (that which has happened
becomes immediate, present, in being told.)
Nur das Gegenwaertige ist wirklich. Die Geschichte, d.h. die
Erzaehlung des Vergangenen vergegenwaertigt das Vergangene, und
damit verwirklicht die Geschichte das Vergangene. Die Erzaehlung
verwirklicht das (sonst)(otherwise) unwirkliche. Die
Wirklichkeit der Erzaehlung aber ist eine gegenwaertige
Wirklichkeit. Eine Wirklicheit im Vergangenen, eine vergangene
Wirklichkeit ist ein oxymoron, gibt es nicht. Die Wirklichkeit
ist und bleibtr gegenwaertig. Das Vergangene existiert
ebensowenig wie ein gestorbener Mensch, es sei den in dem
vermodernden Leib, der allein noch gegenwaertig ist.
Nun ist aber die Geschichte in Bezug auf die (gegenwaertige)
Wirklichkeit keineswegs belanglos. Die Gegenwart, in all ihrer
Wirklichkeit wird durch die Vergangenheit gestaltet; geistig
sowohl als auch koerperlich. So wie mein augenblicklicher
Bewusztseinszustand abhangig ist, z.B. von dem Wein an welchem
ich mich gestern abend betrunken habe, so ist mein
augenblicklicher Bewusztseinszustand auch abhaengig, z.B., von
dem groszen Los, das ich letzte Woche in der Lotterie gewann;
oder von der Geldstrafe die mir vorigen Monat auferlegt wurde,
oder vom Tod des Freundes oder der Geliebten, oder der Eltern,
von den Sorgen, Muehen und Freuden der Kindheit und der Jugend,
die mir jetzt nur noch in grauer Unbestimmtheit im Gedaechtnis
leben, Abhaengigkeiten welche keineswegs auf mein Bewusztsein von
ihnen beschraenkt sind. Auch Unbewuszte und Vergessenes
beeinfluszt meinen jetzigen, gegenwaertigen Zustand. Wie koennte
es anders sein?
Der Irrtum entwickelt sich aus dem Anspruch das Vergangene
objektiv und erschoepfend (comprehensively) in allen Einzelheiten
zu begreifen zu verstehen, und darzustellen. Schon die
ausdrueckliche Ausfuehrung (the explicit exposition of the
presumption suffices to controvert it.) des Anspruchs genuegt um
ihn zu widerlegen.
Die gegenwaertige Wirklichkeit wirkt nicht in dem sie sich
mit dem Laufe der Zeit in eine wirkende Vergangenheit verwandelt.
Die gegenwaertige Wirklichkeit wirkt indem sie sich selbst,
beastaendig, fortwaehrend in neue Gegenwart verwandelt. Die
Geschichte ist nicht das Zeugnis einer Wirklichkeit im
Vergangenen. Die Geschichte ist vielmehr das Zeugnis der
verwandelten gegenwaertigen Wirklichkeit, sie ist Zeugnis einer
vergangenen Wirklichkeit, deren Zeichen in die gegenwaertige
Wirklichkeit als Zeugnisse eines Vergangenen eingegangen sind,
das jetzt nicht mehr besteht.
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