19980216.01
Wenn ich nach diesen Beschreibungen und Begriffsbestimmungen
von Innerlichkeit und Auswendigkeit, auf die Frage zurueckkomme,
welche von beiden Wirklichkeit, oder jedenfalls wirklicher als
die andere, sei, so faellt vorerst ins Auge, dasz jede einseitige
Entscheidung als verfehlt, ein Fehler, als Irrtum erkannt werden
musz.
Schon aus der Beschreibung geht die Antwort hervor, dasz
beide, Innerlichkeit und Auswendigkeit dem menschlichen Dasein
zugehoeren, dasz sich das Bewusztsein erst des einen, dann des
anderen, abwechselnd in den Vordergrund draengt, dasz die Pflege
der Auswendigkeit sehr bedeutende und weitreichende Folgen hat;
dasz aber die Pflege der Innerlichkeit dem Menschen eine tiefe
Notwendigkeit ist. Auswendig und Inwendigkeit konkurrieren mit
einander. und es besteht eine gewisse Lebenskunst sie mit
einander in funktionelles Gleichgewicht zu bringen, wo immer der
Ausgleich auch ausfallen moechte.
Es ist gewisz notwendig, unser Erleben zu analysieren, zu
zergliedern, und es begrifflich zu beschreiben um es verstehen zu
koennen. Aber die Begriffe stehen weit hinter dem Strom des
Erlebens zurueck, und vermoegen nie, weder in der Zergliederung
noch in der Beschreibung, dieses zu erschoepfen.
Und diese Erwaegungen moegen dann auch als Kommentar gelten
zu der aristotelischen Ueberordnung des Begriffes ueber die
Wirklichkeit. Denn, wenn ich Aristoteles recht verstehe, so
besagen, wenn nicht ausdruecklich, doch Stil und Artikulation
seines Denken dasz die Welt und die Dinge die sie enthaelt von
den Begriffen die sie erklaeren abgeleitet sind. Zwar ist diese
Annahme korrekt im Rahmen einer transzendentalen
Erkenntnistheorie. Doch ist eine solche nie im Stande das
Erleben welches sie zu erklaeren beansprucht zu erreichen,
geschweige denn es selbst zu zeugen. Und aus diesem Grunde ist
nicht Theorie sondern das tatsaechliche Leben von Woche zu Woche,
von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, von Augenblick zu
Augenblick, die ewig sich erneuernde Quelle meines
Verstaendnisses meiner selbst und meiner Welt. Die Theorie
ergibt sich hinterher, im Rueckblick; (after the fact); und tut
so, als ob sie das Erleben erzeugt haette.
Theory is incapable of generating any sort of experience.
And that is why experience from week to week, from day to day,
from hour to hour and from moment to moment will remain the
primary and ultimately the only source of my understanding of the
world and of myself.
Was ist wirklich, Inwendigkeit oder Auswendigkeit? Es kommt
auf die Umstaende an. Auf dem Sterbebette hat die Inwendigkeit
den Vorrang. Da ist die Inwendigkeit die Wirklichkeit, denn die
Auswendigkeit mit allen ihren chirurgischen Eingriffen und die
Auswendigkeit als innere Medizin, mit ueberfuelltem
Medikamentenschrank, haben sich als machtlos erwiesen. Die
Schillersche Vorschrift fuer die Sterbestunde gilt fuer
jedermann: "Mach deine Rechnung mit dem Himmel, Vogt, Deine Uhr
ist abgelaufen"`
Im Leben aber, im Geschaeft, auf der Boerse, ist es die
Auswendigkeit. Und doch musz hier die Grenzsituation bedacht
werden, Wenn der Kampf mit Zerstoerung droht, sei es
geschaeftlich im Bankerott, sei es koerperlich im Tode, dann kann
der Betroffene nicht umhin, sich auf sich selbst zu besinnen,
dann ist es Zeit zu beten, dann kommt die Inwendigkeit auf ihre
Kosten.
Mehr noch als von der Situation, ist der Ausgleich von In
und Auswendigkeit die Folge von verschiedenen
Charaktereigenschaften. Von ein und derselben Lage haben
Menschen verschiedene Ansichten und Urteile. Einer wird nach
auszen, ein anderer nach innen gestimmt werden. Die Beduerfnisse
und Noete der Menschen sind natuerlicherweise verschieden. Diese
Verschiedenheit ist Erklaerung fuer religioese und philosophische
Meinungsunterschiede. So mag z.B. Kierkegaard's Betonung der
Innerlichkeit als Erscheinung einer ausgenommenen
(ungewoehnlichen, exceptional) Empfindsamkeit verstanden werden.
Wenn er behauptet, die Subjektivitaet sei die Wahrheit, so deute
ich diesen Ausspruch nicht als Leugnung der relativen
Wahrhaftigkeit uns absoluten Notwendigkeit objektiver Urteile.
Ich deute diesen Ausspruch als Hinweis auf den Wert und die
Notwendigkeit der subjektiven Einstellung; welche zu betonen
Kierkegaard als Verfasser sich gedrungen fuehlte.
Darueber hinaus deute ich die Behauptung, dasz die
Subjektivitaet die Wahrheit sei, als ein Urteil welches ein
Bilanz ueber die Spanne des ganzen Lebens zieht, welche das
vielfaeltige objektive Erleben keineswegs uebersieht, welches
aber der Subjektivitaet als des Menschen Beziehung zu sich selbst
und zu seinem Gott das Gewicht und die Ehre zuweist die dieser
Beziehung gebuehrt. Aber auch die der Subjektivitaet gebuehrende
Bedeutung ist Meinungsverschiedenheiten vorbehalten; denn es gibt
ja sehr viele Menschen, und sie sind sicherlich in der Mehrzahl,
die von den objektiven Errungenschaften der Wissenschaften, der
Wirtschaft und der Politik derart beeindruckt und eingenommen
sind, dasz ihnen die subjektive Haltung, die Wendung nach innen,
zu sich selbst und zu ihrem Gott, als ueberfluessig oder gar
sinnlos erscheint.
Die diesbezuegliche Haltung Kierkegaards ist also Ausdruck
der Ablehnung oder jedenfalls der Geringschaetzung des
oeffentlichen, allgemeinen objektiven Welterlebnisses. Und es
ist als solches, dasz Kierkegaards Lob der Subjektivitaet
heutzutage so groszen Zwang und Zauber auf uns ausuebt, die wir
unter der ueberwaeltigenden Macht des Objektive zu ersticken
drohen.
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