19981030.00
Unsere Unterhaltung gestern abend hat mir Freude gemacht.
Ich hoffe, dasz wir uns Ende naechsten Monats wieder einmal
treffen koennen.
Zu Beginn meiner augenaerztlichen Ausbildung verbrachte ich
einige Monate mit wissenschaftlichen, oder wie ich jetzt zu
erkennen meine, pseudo-wissenschaftlichen Untersuchungen ueber
die Biophysik der Augenbewegungen. Unser Laboratorium in MIT war
in einem Gebaeude das vornehmlich fuer militaerische Forschung in
Anspruch genommen war. Ueberall waren Schilder: "Zutritt
verboten!", "Staatsgeheime Forschung!" und dergleichen mehr.
Jedesmal wenn man beim Eintritt oder Ausgang die Tuer oeffnete,
erklang gedaempftes Sirenengeheul, so geheim war es. Um mir die
Verdaechtigung der Spionage so fern als moeglich zu halten, tat
ich als ob die dortigen Geheimnisse mich absolut nicht
interessierten; und doch war ich neugierig zu wissen, welch
schicksalhaften Entwuerfen meine unmittelbare Umgebung gewidmet
war. Eines Tages nahm meine Neugier ueberhand; und als ich meinen
Chef in besonders guter Laune vermutete, naeherte ich mich ihm
und fragte vertraulich. "Ist es erlaubt zu wissen welcher Art die
Geheimnisse sind, die man uns vorenthaelt? Ein schelmisches
Laecheln ueberflog sein Gesicht: "Don't worry," sagte er, "the
only secret is that there is no secret."
Seine Worte fielen mir ein, nachdem wir unsere Neuen
Testamente geschlossen hatten. Ist der hektische Pathos der
paulinischen Lehren denn wirklich so unterschieden von den
drohenden Ermahnungen zeitgenoessischer Evangelisten welche wir
mit so eleganter Herablassung ablehnen? Wo geschrieben steht,
"Selig sind die da geistlich arm sind, Denn das Himmelreich ist
jr." ist es vernuenftig dasz wir von den Predigern des
Evangeliums, Sankt Paulus einbeschlossen, die Scharfsinnigkeit
eines Nobelpreistraegers oder auch nur eines Harvard philosophy
instructors erwarten? Ist es nicht moeglich, dasz wir, wenn wir
uns uebermaeszig anstrengen die Dunkelheiten der paulinischen
Verse zu entraetseln, in Luthers Worten, "einen lustigen Ausbruch
und Spaciergang" thun, vielleicht sogar um uns vor den
unmittelbaren, unleugbaren Anspruechen und Forderungen der
Botschaft zu schuetzen?
Ich denke, das naechste Mal, wenn wir uns treffen, sollten
wir uns zwei Texte anschauen, einer von Ihnen ausgesucht, der
andere von mir. Meinerseits moechte ich Ihnen die wunderbaren
Oden Hoelderlins zeigen, so wie auch seine maechtige Hymne:
Patmos. Die Texte habe ich seit Jahren in meinem Praxiscomputer
gespeichert. Ich will sie Ihnen bei Gelegenheit per e-mail
uebersenden.
Grueszen Sie bitte Ihre Frau.
Ernst Meyer
* * * * *
Zurueck : Back
Weiter : Next
1998 Index
Index